Dmitri Ivanov
Michail schaffte es nicht einmal, einen Fuß an Land zu setzen. Kaum hatte das Schiff den Hafen in Kaliningrad erreicht, überwältigten sie ihn. Drei oder vier Männer – genau konnte er es nicht sagen. Sie stülpten ihm einen Sack über den Kopf, fesselten ihm die Hände auf den Rücken und schmissen ihn in den Kofferraum eines Wagens.
Ein paar Stunden später, in irgendeinem Lagerraum an einen Stuhl gebunden, begann die Folter. Abwechselnd schlugen sie ihn, würgten ihn und malträtierten ihn mit Elektroschocks. Immer und immer wieder, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Stumm.
Anfangs schrie er, beteuerte seine Unschuld und jammerte. Dann flehte er sie an, aufzuhören, und versprach ihnen Geld. Erfolglos. Schließlich gab er auf und ließ das, was sie mit ihm machten, über sich ergehen. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr – dafür die Schmerzen.
»Genug jetzt!« Die Stimme drang von fern zu ihm.
Seine Peiniger ließen von ihm ab.
Michail hob langsam den Kopf. Sein linkes Auge war zugeschwollen. Er blinzelte, um das andere Auge von den Schweißtropfen und dem Blut zu befreien, die seine Sicht weiter trübten.
Ein Mann stand im Türrahmen, den er nicht kannte. Feiner Anzug, Krawatte.
Michails Herz pochte wie wild. Das musste Dmitri Ivanov sein. Er würde Ivanov alles erklären, und dann würde dieser Albtraum aufhören.
Der Mann kam nicht näher. Er blieb, wo er war.
»Ihr geht! Sofort!«, sagte er. »Ivanov kommt.«
Michails Folterknechte gehorchten umgehend. Sie packten ihre Jacken und verließen den Raum. Der Mann im Anzug folgte ihnen und schloss die Tür. Kurz darauf hörte Michail das Starten von Motoren. Die Fahrzeuge entfernten sich. Stille kehrte ein.
Michail vernahm ein regelmäßiges kratzendes Geräusch. Seinen Atem. Sonst nichts.
Dann: Schritte.
Michail begann zu keuchen.
Die Tür ging auf. Eine Person näherte sich ihm, verharrte kurz vor ihm und blickte auf ihn herab.
»Wo ist Ivanov?«, brachte Michail heraus.
Auf dem Gesicht seines Gegenübers breitete sich ein langsames Lächeln aus. Und Michail begriff.
»Sie sind das?«
Das Lächeln vertiefte sich. Ivanov zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und legte eine Pistole auf dem Knie ab. Eine mit goldenen Inlays verzierte Stechkin.
»Wo ist das Dossier?«, fragte Ivanov.
Michail schluckte. »Das habe ich nicht.«
»Das Dossier, das Carstens von mir angelegt hat. Wo ist es?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Michail.
Ivanov schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ihr habt es doch aus dem Safe geholt, wie ich es euch habe auftragen lassen? «
Michail wollte heftig nicken, brach aber aufgrund des jähen Schmerzes in seinem Nacken inmitten der Bewegung ab. »Da war es auch. Wir haben es mitgenommen«, sagte er hastig. »Es besteht keine Gefahr mehr. Es ist weg.«
»Weg? Wo?«
»Sergej. Sergej hat es versteckt. Er hat mir nicht verraten, wo er es deponiert hat.«
Ivanov runzelte die Stirn. »Sergej – das war dein Partner? Der, der vom Staatsanwalt erschossen wurde? Von diesem Gutenberg?«
»Ja.«
»Und was ist mit Suzanne Carstens?«
Das läuft nicht gut. Das läuft gar nicht gut , dachte sich Michail. Er musste versuchen, alles zum Positiven zu wenden.
»Du kannst mir glauben«, stammelte er. »Ich habe mein Möglichstes probiert. Sobald der Staatsanwalt uns aufgespürt hatte, bin ich schnurstracks zu dem Hotel, wo sie die Enkelin unter Bewachung gehalten haben. Ich kam bis vor ihr Zimmer. Aber dann war die Verstärkung der Polizei da und ich…«
Ivanov winkte ab. »Das interessiert mich nicht. Du hast sie erwischt?«
»Nein«, flüsterte Michail.
»Tja.« Ivanov seufzte. »Das ist eine ungünstige Entwicklung.«
»Aber … mich trifft keine Schuld«, begehrte Michail verzweifelt auf. »Ich habe alle Anweisungen strikt befolgt. Wir haben das Dossier beschafft. Wir haben die beiden Mitarbeiter vom Hafen beseitigt und in das Osterfeuer in Blankenese gelegt. Keiner wird wagen, auch nur daran zu denken, etwas gegen dich zu unternehmen!«
»Mhm«, machte Ivanov und nickte langsam. »Das stimmt. Du hast dein Möglichstes gegeben.«
»Das habe ich! Wirklich! Es liegt nicht an mir. Wir hatten kaum Unterstützung, kannten uns nicht aus…«
Ivanov hob eine Hand. »Still. Das kann ich nachvollziehen. Und ich sehe es genauso. «
Ivanov verstand. Michails Erleichterung war unbeschreiblich.
»Wenn man möchte, dass etwas getan wird …«, fuhr Ivanov fort. »Insbesondere, wenn etwas getan werden muss, was ein schwierigeres Unterfangen darstellt … Muss man es selbst tun.«
»Genau«, beeilte sich Michail, zuzustimmen. »Ich helfe dir dabei. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich habe bewiesen, dass ich loyal bin und hundertprozentig auf deiner Seite stehe.«
»Ja. Das hast du.«
Ivanov stand auf. »Du bist ein guter Soldat.«
»Da…«, setzte Michail an.
Ivanov hob die Waffe und schoss ihm in den Unterleib. Einmal, zweimal.
Michails Körper krümmte sich durch den Schock des Einschlags auf dem Stuhl zusammen. Er fühlte, wie etwas Warmes seine Oberschenkel hinablief. Dann kam der Schmerz. Explosionsartig. Er begann zu schreien.
Ivanov stand vor ihm und beobachtete ihn mit leicht schief gelegtem Kopf und geschürzten Lippen. Nach einer Weile hob Ivanov erneut die Stechkin, zielte auf Michails Brust und drückte ab.
Sterbend hörte Michail Ivanov seufzen: »Hamburg. Da war ich schon lange nicht mehr. Eine schöne Stadt. Mal sehen, wie sie sich verändert hat.«