Leseprobe: Dunkel Land (Wuthenow-Thriller 1)
DREI TAGE ZUVOR
Es war ein ausgesprochen wundervoller Abend gewesen. Jetzt saß er entspannt hinter seinem Haus und blickte hinauf zu den Sternen. Kleine, funkelnde Punkte inmitten endloser Dunkelheit. Daneben der Mond – rund, silbern, unwirklich.
Die Landelichter eines Flugzeugs erschienen, und er konnte das Geräusch der Motoren hören. Wieder eine dieser verspäteten Linienmaschinen, die trotz Nachtflugverbots unterwegs war.
Woher sie wohl kam? Für einen Moment dachte er darüber nach. Vielleicht aus Asien oder Südamerika?
Die Passagiere, müde und doch aufgeregt, würden bald Tegel erreichen. Und sie brachten die unterschiedlichsten Erinnerungen mit – schöne und nicht so schöne. Er hingegen hatte Berlin nicht verlassen. Und trotzdem, in den letzten zwei, drei Stunden hatte er sich wie an einem anderen Ort gefühlt. In seinem ganz persönlichen Paradies.
Genussvoll streckte er die Beine aus und seufzte. Sein Blick fiel auf die Bank, auf der er saß. Altes Holz, abgeblätterte Farbe. Eigentlich hätte sie dringend gestrichen werden müssen.
Das Flugzeug war verschwunden. Dafür hörte er jetzt umso deutlicher den Verkehrslärm der nahe gelegenen Straße. Die Stadt schlief nie wirklich. Unzählige Menschen waren unterwegs, fuhren kreuz und quer auf ihrer Suche nach Ruhe und Glück. Er lächelte. Er hatte sein Glück schon lange gefunden.
Gemächlich stand er auf, legte den Kopf in den Nacken und sog die Schönheit des Firmaments ein letztes Mal in sich hinein. Dann drehte er sich um, öffnete die Tür und betrat das Gebäude.
Im Zimmer brannte harsches Neonlicht. Er musste blinzeln. Über den flimmernden Bildschirm des Fernsehers huschten die zerhackten Bilder einer Werbesendung. Auf dem Sofa lag offen die Zeitung von gestern.
An der Decke, in der Mitte des Raumes, hatte er einen Haken befestigt. Solides Ding, Markenqualität. Hielt locker zweihundert Kilo. Daran befand sich ein Seil – und daran wiederum ein schwarzhaariger Mann, fast noch ein Junge, die Kleidung zerrissen und blutüberströmt.
Sein neuestes Spielzeug.
Es war an den Händen aufgehängt, sodass die Zehenspitzen gerade einmal den Boden berührten. Immer dann, wenn es sich leicht bewegte, schleiften die Schuhe mit einem Quietschen über das Linoleum.
Als er sein Spielzeug vor wenigen Stunden ausgewählt hatte, hatte es ein schönes Gesicht gehabt. Nun war es verquollen, fleckig, regelrecht abstoßend. Das Spielzeug hatte Probleme, durch die gebrochene Nase Luft zu bekommen. Bei jedem Atemzug röchelte es laut. Das war so ziemlich das Einzige, was es noch zustande brachte. Ein Knebel war nicht mehr nötig.
Er trat näher heran. Dabei strich er sich genießerisch über die Knöchel seiner Rechten. Sie waren rau, aber nicht wund. Gut, dass er vorhin Handschuhe getragen hatte.
Fast liebevoll legte er seine Finger um den Hals des Spielzeugs und begann, langsam zuzudrücken. Er konnte beobachten, wie in dem noch funktionierenden Auge hinter dem geschwollenen Lid Panik aufflammte. Anders als bisher – da war es nur die Furcht vor den Schmerzen gewesen. Nun kam Gewissheit hinzu. Die Gewissheit, sterben zu müssen. Todesangst. Er fühlte sie unter seinen Fingerspitzen – zusammen mit der Macht über das Leben, das aus dem Körper vor ihm zu weichen drohte.
Das Spielzeug war kurz davor, bewusstlos zu werden. Er löste seinen Griff, lies die Arme sinken und betrachtete sein Werk. Eigentlich schade, das Spielzeug war fast kaputt. Es taugte zu nichts mehr.
Er drehte sich zum Couchtisch um und ergriff das kompakte Küchenmesser, das dort neben den blutdurchtränkten Lederhandschuhen lag.
Drei Stiche. Und dann musste er die Leiche loswerden. Schnell, bevor der Morgen graute.
MONTAG
1
Ich war schon eine gefühlte Ewigkeit auf der Autobahn unterwegs, und es regnete. Der Himmel bestand aus dichten, dunklen Wolken. Unmöglich, danach die Tageszeit zu bestimmen.
Ich sah auf die Uhr neben dem Tacho. Kurz nach zehn. Auch das noch. Ich würde mich verspäten.
Vor mir schlich ein Lkw dahin. Seine riesigen Reifen spritzen regelrechte Fontänen auf die Windschutzscheibe meines Fiats und raubten mir jede Sicht. Ich versuchte, ihn zu überholen. Mühsam beschleunigte ich auf hundert, schob mich langsam an dem Lastwagen vorbei, um vor ihm wieder einzuscheren.
Jetzt begann der Scheibenwischer protestierend zu quietschen. Ich schaltete ihn eine Stufe herunter.
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Amelie war in ihrem Kindersitz endlich eingeschlafen. Ihr Kopf neigte sich zur Seite. In ihren kleinen Händen hielt sie ihren Teddy.
Kein Wunder, dass sie müde war. Unser Tag hatte heute bereits um vier Uhr früh begonnen, und seit fünf saßen wir im Auto und quälten uns durch den dichten Verkehr.
Ich wollte ins Havelland. Genauer gesagt, nach Wuthenow. Wobei wollen
das falsche Wort war. Ich musste
. Ein Bankkonto füllt sich nicht von allein. Das hatte ich sehr schnell festgestellt, nachdem ich meinen alten Job vor einem halben Jahr gegen Amelie eingetauscht hatte.
Alles war jetzt anders. Ich hatte nicht nur meine Arbeit verloren.
Ich zuckte mit den Schultern. Egal. Für drei Monate hatte ich eine Anstellung in Wuthenow gefunden. Als eine Art Kindermädchen für einen reichen Jungen. Gut bezahlt, und Amelie war auch versorgt. Das taugte, um den Sommer zu überbrücken. Danach würde ich mit Amelie nach Nürnberg zurückkehren und fest an einer Privatschule arbeiten. Keine Uni, wie bislang, dafür geregelte Dienstzeiten mit sicherem Einkommen. Mehr konnte ich nicht erwarten. Amelie hatte genug durchmachen müssen. Sie verdiente es, in Normalität aufzuwachsen – soweit das als Waise überhaupt noch ging.
Endlich das Schild, auf das ich gewartet hatte. Ich nahm die Ausfahrt und verließ die A10. Der Fiat ruckelte, wie er es immer tat, wenn ich herunterschaltete, und von der Rückbank ertönte ein leises Gähnen. Amelie wachte auf.
»Sind wir endlich da?«, drang ihre schläfrige Stimme zu mir nach vorne.
Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Früher hatte ich gedacht, Eltern würden übertreiben, wenn sie von längeren Autofahrten mit ihren Kindern berichteten. Aber inzwischen wusste ich es besser.
»Bald«, erwiderte ich.
»Das sagst du schon die ganze Zeit«, kam es postwendend zurück. Im Rückspiegel sah ich, wie sie ihre Augenbrauen trotzig zusammenzog. Immer, wenn sie das tat, erinnerte sie mich an ihre Mutter. Ich lächelte wehmütig.
Amelie reckte sich. »Verena? Wo sind wir denn eigentlich?«
»Irgendwo hinter Berlin«, sagte ich.
»Irgendwo?«, wiederholte sie fast vorwurfsvoll. »Mama hatte immer ein Navi, das hat ihr genau erzählt, wo sie hinmuss.«
Ich deutete auf mein Smartphone, das auf dem Beifahrersitz lag. »Das habe ich auch. Im Handy. Aber leider ist der Akku jetzt leer.«
»Dein Handy ist ja auch total alt.«
»Alt? Nein«, meinte ich. »Höchstens drei, maximal vier Jahre. Aber keinen Tag älter.«
»Aber du weißt wenigstens, wo wir hinmüssen, oder?«
»Sicher. Das habe ich dir doch schon erzählt. Nach Wuthenow.«
»Und das ist noch weit?«
»Dreißig, vierzig Kilometer. Höchstens eine Stunde, vermutlich weniger. Ein Dorf. Dort wird es dir bestimmt gefallen.«
Die Landstraße schlängelte sich in weiten Bögen durch die Landschaft. Getreidefelder, blühender Raps, auf kleinen Erhebungen dunkelgrüne Wälder. Ansonsten eine weite Ebene. Ziemlich öde und langweilig. Wenigstens hatte der Regen aufgehört.
Ich versuchte, mich nach den Straßenschildern zu orientieren. Alle Namen klangen gleich und viele hörten mit -ow oder -itz auf. Na klasse. Allertiefste Provinz.
Drei Monate
, sagte ich mir im Geiste. Das schaffst du
.
Eine rote Warnleuchte blinkte an meinem Armaturenbrett. Das Benzin ging zur Neige.
Eine Brücke über einen kleinen Fluss, eine weitere Kurve. Auf der rechten Seite ragte ein Pylon in die Höhe. Das kam mir wie gerufen. Ich verlangsamte und bog in die Tankstelle ein.
»Jetzt sind wir da?«, fragte Amelie.
»Wir brauchen Sprit.« Ich ließ den Wagen ausrollen, bremste neben einer Zapfsäule und stellte den Motor ab.
»Ich will mit.« Sie begann, sich abzuschnallen.
Wir stiegen aus. Ich eilte um den Wagen zu ihr. Ganz selbstverständlich streckte sie mir ihre Kinderhand entgegen. Ich nahm sie und hielt sie fest. Das fühlte sich gut an.
Gemeinsam öffneten wir den Tankdeckel, ich nahm den Zapfschlauch aus der Halterung, steckte ihn in den Einfüllstutzen meines Wagens und ließ für genau zwanzig Euro Benzin hineinlaufen.
Dann machten wir uns auf den Weg zur Kasse. Die Schiebetür glitt zur Seite. Es bimmelte, und wir standen in einem kleinen Supermarkt, mit Zeitschriften, einigen Lebensmitteln, Alkohol und natürlich Süßigkeiten.
Die Verkäuferin musste das Klingeln zwar gehört haben, aber sie schien vollkommen in ihre Lektüre vertieft. Sie hatte eine aufgeschlagene Illustrierte vor sich, die sie gebannt las.
Ich räusperte mich.
Die ältere Frau sah auf. Ihre Augen musterten mich kritisch, bis ihr Blick auf Amelie fiel. Sie begann zu lächeln.
»Sie möchten zahlen?«, fragte sie mich.
Eigentlich lag mir eine schnippische Antwort auf der Zunge, ich schluckte sie hinunter.
»Ja. Gerne. Säule zwei«, sagte ich stattdessen und legte meinen letzten Schein auf den Tresen.
Amelie beugte sich vor, ergriff eine Packung Gummibärchen und platzierte sie neben meinem Zwanziger.
»Und das«, sagte sie bestimmt.
»Macht noch mal eins neunzig«, erwiderte die Kassiererin.
Ich wollte schon protestieren, doch Amelie strahlte mich regelrecht an. Also öffnete ich das Kleingeldfach und suchte die Münzen zusammen. Jetzt war ich endgültig pleite.
Die Verkäuferin zählte das Geld nach und lies es klimpernd in der Kasse verschwinden.
»Eine Frage hätte ich noch«, begann ich.
»Ja?«, sagte sie.
»Ich möchte nach Wuthenow. Können Sie mir den Weg beschreiben?«
»Wuthenow?« Sie beäugte mich skeptisch.
Vielleicht hatte ich den Namen undeutlich ausgesprochen.
»Genau«, bestätigte ich.
Ein weiterer skeptischer Blick. Dann beugte sich die Frau nach vorn.
»Sie fahren die Landstraße für vielleicht zehn Kilometer weiter. Dabei kommen Sie über zwei Brücken. Nach der zweiten biegen Sie bei der ersten Möglichkeit rechts ab. Und danach geht es immer geradeaus. Sie können es nicht verfehlen.«
»Ist es noch weit?«, fragte ich.
Sie schaute mich wissend an. »Das Benzin wird locker reichen.«
Draußen hatte es wieder zu regnen begonnen. Es schüttete wie aus Eimern. Heftige Windböen trieben die Wassertropfen bis unter die Überdachung der Tankstelle. Amelie und ich rannten zum Auto, und bis ich sie auf ihrem Sitz festgeschnallt hatte, war zumindest ich klitschnass. Aber nun hatten wir es ja bald geschafft.
Wir fuhren los.
Die erste Brücke führte über einen breiten Fluss, die zweite über einen künstlich angelegten Kanal. Beinahe hätte ich die Abzweigung übersehen. Eine schmale Straße ohne Mittelstreifen, sodass sich zwei entgegenkommende Fahrzeuge knapp passieren konnten. Keine Biegungen, schnurgerade zog sich die Strecke zwischen den Feldern dahin. In kurzen Abständen erschienen links und rechts der Trasse schlanke, hohe Pappeln.
Der Regen hörte auf. Wir passierten ein Waldstück, mein Fiat rumpelte über Kopfsteinpflaster, und wir erreichten eine Art gewaltige Wendeplatte. Dahinter erhob sich ein imposantes Gebäude. Dreistöckig mit Erkern, Sprossenfenstern, schwarzem Dach und Säulen vor dem Eingang. Ein Schloss oder Herrenhaus oder wie immer sie das hier nannten. Daneben konnte ich einen See ausmachen, aber nirgendwo war eine weitere Straße in Sicht.
Sackgasse.
Ich hielt an. Der Motor tuckerte überlaut.
Die graue, tief hängende Wolkendecke über uns riss auf, und die Sonne kam hervor. Einzelne ihrer Strahlen fielen auf das Haus und brachen sich glitzernd auf der Oberfläche des Gewässers.
»Das ist kein Dorf«, kam Amelies Stimme von hinten. »Gib’s zu. Du hast dich schon wieder verfahren.«
Ich runzelte die Stirn. »Was heißt hier schon wieder
? Ich habe genau die Strecke genommen, die mir die nette Frau an der Tankstelle genannt hat.«
»Vielleicht hättest du es dir lieber aufschreiben sollen.«
Ich seufzte. »Weißt du was? Du bleibst kurz im Wagen. Ich steige aus und frage bei den Leuten, die hier wohnen, nach. Wuthenow muss ganz in der Nähe sein.«
Ich stellte den Motor ab. Ohne auf Amelies Antwort zu warten, kletterte ich aus dem Fiat.
Das Gebäude vor mir hatte bestimmt mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel. Doch es schien nagelneu. Sauber gestrichen, schneeweiße Fenster und, soweit ich es beurteilen konnte, frisch gedeckt. Ich ging auf die imposante Steintreppe zu, die zum Eingang führte.
Ein Mann kam aus Richtung des Sees auf mich zu. Zwei große, grau-braune Jagdhunde begleiteten ihn, die er locker an der Leine hielt. Er selbst trug eine grüne Allwetterjacke, Cordhosen und einen breitkrempigen Hut.
Ich wartete, bis er mich erreicht hatte: Anfang sechzig, kantig geschnittenes Gesicht, hellwache, braune Augen. Irgendwie Respekt einflößend.
Auf einen kleinen Fingerzeig von ihm setzten sich die beiden Hunde. Er blieb still. Alles, was er tat, war, mich zu mustern.
»Hallo«, sagte ich nach einer Weile. »Ich möchte nach Wuthenow.« Ich unterstrich meine Aussage mit einem unverbindlich-bestimmenden Lächeln.
»Sie sind Frau Verena Hofer«, stellte er fest.
»Ja?«, fragte ich, völlig aus dem Konzept gebracht. Ich riss mich zusammen. »Woher wissen Sie das?«
Er schaute auf seine Uhr. »Ihr Termin war um elf. Sie sind eine halbe Stunde zu spät.«
Bevor ich zu einer Erwiderung kam, wies er mit der Rechten, die die Hundeleinen hielt, auf den Eingang des Schlosses. »Frau von Wuthenow erwartet Sie bereits.«
2
Während ich zurück zum Auto ging, um Amelie zu holen, wartete der Mann mit den beiden Hunden vor der Steintreppe.
Amelie hatte sich bereits abgeschnallt und zappelte aufgeregt auf ihrem Sitz herum.
»Sind wir doch richtig?«, fragte sie zweifelnd und zugleich voller Vorfreude.
»Offenbar«, sagte ich mit gemischten Gefühlen. »Komm, sehen wir uns das mal an.«
Ich half ihr aus dem Wagen, und Amelie lief neben mir her, wobei sie meine Hand ergriff, wie sie es immer tat. Unter ihrem anderen Arm trug sie ihren Teddy. Gemeinsam steuerten wir auf das imposante Gebäude zu.
Erst jetzt fielen mir mehrere Backsteinhäuser auf, die in einem größeren Abstand inmitten von grünen Wiesen standen. Außerdem konnte ich Scheunen erkennen und großzügige Koppeln, auf denen Pferde und Ponys weideten.
Als wir den Mann erreichten, machten die beiden Hunde neben seinen Füßen Platz. Er hatte sie allem Anschein nach sehr gut erzogen.
Amelie gefielen sie auch. »Oh, sind die süß!«, flüsterte sie mit kugelrunden Augen.
Über das Gesicht des Mannes glitt ein verhaltenes Lächeln und ersetze für einen Moment Strenge durch Milde.
Amelie hob den Kopf. Staunend beäugte sie das riesige Haus. »Boah. Das ist ein richtiges Schloss.«
»Das ist kein Schloss. Das ist Gut Wuthenow«, erklärte er ihr. Gleichzeitig streckte er mir die Hand entgegen. »Und ich bin Colonel Schlieker, der Verwalter.«
Ich ergriff seine Hand. Sie war fest und hart. »Colonel?«, fragte ich.
Diesmal kam mir sein Lächeln fast wehmütig vor. »Nun«, er räusperte sich. »Das war ich einmal. In einem anderen Leben. Aber jetzt kommen Sie bitte mit.«
»Ko-lo-nell«, flüsterte Amelie ehrfürchtig. Sie wirkte schwer beeindruckt, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass sie eine Ahnung hatte, was der Titel bedeutet.
Wir setzten uns in Bewegung. Die Hunde blieben auf einen stummen Fingerzeig des Colonels zurück.
Die doppelflügelige Eingangstür war aus dunkel gebeiztem Holz, der mächtige Messinggriff blank poliert. Der Colonel öffnete die rechte Seite und ließ uns den Vortritt. Innen erwartete uns ein großzügiges Foyer, von dem aus eine breite Treppe ins Obergeschoss führte. In der Mitte des Raumes hing ein wuchtiger Lüster von der Stuckdecke.
»Doch ein Schloss«, flüsterte Amelie.
Der Colonel schien sie nicht zu hören. Er ging uns jetzt wieder voran und zog eine weiß lackierte Schiebetür zur Seite.
Wir gelangten in einen neuen Raum – größer als das Foyer, an der Stirnseite mit zahlreichen Sprossenfenstern, durch die man einen atemberaubenden Blick auf eine Terrasse und den direkt dahinterliegenden See hatte. In dem Zimmer, oder besser gesagt dem Saal, standen antike Möbel, Sofas und Sessel scheinbar wahllos herum.
Die Ausnahme in diesem Durcheinander war ein breiter Schreibtisch, reich mit Gold verziert, mit Laptop und Drucker ausgestattet, hinter dem eine ältere Frau saß. Sie telefonierte. Als sie uns erblickte, deutete sie mit ihrer freien Hand energisch in Richtung einiger Sessel vor ihr.
Amelie und ich folgten ihrer stummen Einladung und nahmen bei ihr Platz. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Colonel den Saal verließ und die Tür leise hinter sich schloss.
Die Frau konzentrierte sich erneut auf ihr Telefonat. Sie machte sich dabei Notizen auf einem Bogen Papier, und ich nutzte die Gelegenheit, um sie eingehend zu mustern. Sie war rund sechzig, immer noch gut aussehend, mit kinnlangem, braunem Haar. In ihrer Jugend musste sie eine regelrechte Schönheit gewesen sein. Sie trug ein teures dunkelblaues Kostüm und bis auf eine Perlenkette keinen weiteren Schmuck. Ihr sorgfältiges Make-up war dezent, betonte ihre energischen Lippen und ihr ebenmäßig geschnittenes Gesicht.
»Das ist mir egal, wie die Börse darauf vielleicht reagiert«, sprach sie in den Hörer. »Ich habe seit Jahren vor, diese Firma zu übernehmen. Jetzt, endlich, bietet sich die Gelegenheit, und dann werden wir das auch machen.«
Sie verstummte und lauschte ihrem Gesprächspartner. Ihre Stirn runzelte sich. »Nein. Unsere Kapitaldecke ist vollkommen ausreichend. Das können wir problemlos schultern. Sollten die Aktien wider Erwarten tatsächlich an Wert verlieren, dann nur kurzfristig. Bis zur nächsten Jahreshauptversammlung im Herbst hat sich alles längst wieder erholt, und wir schreiben satte Gewinne.« Sie packte den Stift, mit dem sie sich Notizen gemacht hatte, und klopfte zweimal nachdrücklich auf die Tischplatte. »Also, machen Sie das jetzt bitte genau so, wie wir das besprochen haben.«
Die Falten auf ihrer Stirn verschwanden, als sie die Erwiderung hörte. »Fein. Ich schaue mir die Unterlagen dann heute Abend in der Hauptstelle durch.«
Sie legte auf und sah hoch. »Guten Tag, Frau Hofer«, begrüßte sie mich, bevor sie sich an Amelie wandte. »Und du musst Amelie sein.«
Die Kleine nickte sichtlich eingeschüchtert. Ein überaus seltenes Bild.
»Ich bin Frau von Wuthenow«, fuhr die Dame fort. Ihre nahezu violetten Augen richteten sich auf mich. »Haben Sie gut hergefunden?«
Ich hielt ihrem Blick stand. »Auf der Autobahn herrschte viel Verkehr. Deshalb unsere Verspätung.«
Ihr Mundwinkel bewegte sich nach oben. Vielleicht sollte das ein Lächeln darstellen, weil ich mich nicht entschuldigt hatte. Sie blieb still.
»Ich bin ein wenig verwirrt«, sagte ich.
»Verwirrt?«, wiederholte sie. »Darf ich fragen, warum?«
»Wir dachten … ich meine, ich dachte, Wuthenow wäre eine Ortschaft.«
»Ach. Hat das meine Assistentin nicht mit Ihnen besprochen?« Frau von Wuthenow zog eine Akte zu sich heran, die am linken Ende des Schreibtisches gelegen hatte. Sie klappte sie auf und blätterte kurz darin herum. »Sie haben mit Frau Weiß verhandelt. Ist das korrekt?«
»Genau«, bestätigte ich. »Sie hat mir erklärt, dass ich in Wuthenow wohne, ein Appartement bekomme und dass für Amelie tagsüber ein Kindergartenplatz zur Verfügung steht. Im Gegenzug müsste ich mich um Carl, den Neffen von Frau Weiß, kümmern. Betreuung und Unterricht hieß es.
«
Frau von Wuthenow ließ die Akte zufallen. »Das stimmt im Großen und Ganzen. Nur handelt es sich bei Wuthenow nicht um ein Dorf, sondern um dieses Gut hier.« Sie machte in der Luft eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger. »Und Carl ist natürlich mein Neffe und nicht der meiner Assistentin. Ansonsten … Der Kindergarten mit Kinderhort, den Frau Weiß Ihnen in Aussicht gestellt hat, befindet sich vollkommen neu eingerichtet in einem der ehemaligen Gesindehäuser auf diesem Gelände, keine zweihundert Meter entfernt …«
»Gibt’s da auch Ponys?«, unterbrach Amelie. Offensichtlich hatte sie ihr Selbstbewusstsein wiedererlangt.
Ich wollte sie schon tadeln, doch Frau von Wuthenow kam mir zuvor: »Sicher. Ponys, Ziegen, zwei Hängebauchschweine, Hühner, Hasen, Enten und Gänse. Ein großer Abenteuerspielplatz ist auch vorhanden.« Sie wandte sich wieder an mich. »Ein Erlebniskindergarten nach den neuesten pädagogischen Erkenntnissen konzipiert.«
Das klang mir alles zu fantastisch. Zu … perfekt.
»Und die Kinder?«, fragte ich. »Wo kommen die her?«
»Sie werden werktags mit einem Bus aus den umliegenden Ortschaften und von der Schule abgeholt und wieder zurückgebracht. Das Appartement, in dem Sie und Ihre Nichte wohnen werden, befindet sich hier im Haupthaus, im ersten Stock links. Hundertfünfzig Quadratmeter, drei Zimmer, Kochgelegenheit und Bad.«
Ich setzte zu einer Antwort an, doch erneut kam ich nicht dazu, weil sie schneller war. »Wir haben das so verstanden, dass Sie beide zusammen mit meinem Neffen Carl und Colonel Schlieker die Hauptmahlzeiten im Speisesalon zu sich nehmen. Dafür habe ich eine Köchin angestellt.«
Diesmal hätte ich ihr sicher nicht die Gelegenheit gegeben, mich zu unterbrechen. Aber ich wurde abgelenkt. Durch die bodentiefen Sprossenfenster, die auf die Terrasse führten, sah ich eine Bewegung. Ein Mann in Badehose stieg aus dem See, stapfte ans Ufer, kam die wenigen Stufen zum Freisitz empor und griff sich ein Handtuch, das auf der Brüstung gelegen hatte. Er schritt auf uns zu, öffnete die Terrassentür und durchquerte den Saal. Dabei hinterließ er eine Spur aus Wassertropfen und nassen Fußabdrücken auf dem glänzenden Parkettboden.
Er war vielleicht fünf, sechs Jahre älter als ich, sportlich, seine Figur durchtrainiert, und auch sonst sah er attraktiv aus. Kein Gramm Fett am Körper – soweit ich das beurteilen konnte.
Im Laufen musterte er mich vollkommen schamlos von oben bis unten.
Amelie winkte ihm zu, doch er reagierte nicht darauf. Stattdessen verschwand er wortlos in einem der angrenzenden Räume.
Frau von Wuthenow hüstelte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf sie, doch ich hatte den Faden verloren und wusste nicht mehr, was ich hatte sagen wollen.
»Wenn Sie möchten, Frau Hofer, kann sich Amelie den Kindergarten jetzt gleich anschauen. Die Erzieherinnen warten bereits auf sie«, meinte sie.
Amelie sprang von ihrem Sitz. »Au fein! Ich will zu den Ponys!«
Ich wollte mich erheben, setzte mich auf halbem Wege aber wieder hin. »Sollten Sie mir nicht erst noch Ihren Neffen Carl vorstellen?«
Die Runzeln auf ihrer Stirn kehrten zurück. Und das deutlich. »Das hat Zeit bis später. Sie haben Carl doch soeben gesehen. Er war schwimmen und muss sich erst noch anziehen.«
Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. »Wie bitte?«
Frau von Wuthenow lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Er ist nass. Und er duscht gewöhnlich nach dem Schwimmen.«
Ich deutete auf den Raum, in dem der halb nackte Mann verschwunden war. »Das war Carl
? Sie meinen, Carl ist erwachsen
?«
»Sicher. Mein Neffe ist erwachsen.« Sie bedachte mich mit einem aufmerksamen Blick. »Hat Ihnen Frau Weiß das etwa nicht mitgeteilt?« Sie beugte sich vor und öffnete die Akte ein zweites Mal. »In dem Vertrag, den Sie unterschrieben haben, ist fixiert, dass Sie sich in der Rehabilitationszeit um Carl von Wuthenow, meinen Neffen, kümmern.«
Das musste in dem Kleingedruckten gestanden haben, das ich wie immer überblättert hatte. Oder ich hatte insgesamt nicht gründlich gelesen, weil ich heilfroh gewesen war, überhaupt einen Job für die Übergangszeit gefunden zu haben.
»Rehabilitation?«, hörte ich mich sagen.
Frau von Wuthenow nickte. »Carl hatte«, sie zögerte, »einen Unfall. Er hat eine durchaus ernste Kopfverletzung davongetragen. Sein Kurzzeitgedächtnis ist momentan beeinträchtigt. Er braucht in den nächsten Monaten eine feste Bezugsperson, die ihn auch intellektuell fördert. Deswegen haben wir jemanden mit Ihren Vorkenntnissen gesucht. Abgeschlossenes Studium der Literaturwissenschaft. Erfahrungen als Dozentin. Das haben Sie doch, oder?«
»Das wissen Sie genau, und bitte lenken Sie nicht ab«, konterte ich. »Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob dieser Mann in Badehose Ihr Neffe ist oder der Ihrer Assistentin. Aber halten Sie mich nicht für dumm. Nach dem, wie sich Frau Weiß ausgedrückt hat, musste ich fest davon ausgehen, dass es sich bei Carl um einen etwa zwölfjährigen Jungen handelt.«
Das Gesicht von Frau von Wuthenow blieb vollkommen gelassen. Ihre Augen ließen mich keine Sekunde los. »Ein Missverständnis. Möchten Sie den Vertrag deswegen kündigen? Das wäre sehr bedauerlich.«
Ich zwang mich, ihrem Blick standzuhalten. Auf keinen Fall wollte ich jetzt zu Amelie sehen, für die ich das alles auf mich nahm. Ich wollte nicht erpressbar erscheinen.
»Ich habe keinerlei Erfahrungen in der Rehabilitation von Kranken – gleich welcher Art«, sagte ich.
»Sie haben an der Universität mit Erwachsenen gearbeitet«, kam ihre ruhige Antwort. »Mein Neffe ist geistig äußerst beweglich. Er ist hochintelligent. Und seine Verletzung ist – wie wir hoffen – nur vorübergehend.«
»Trotzdem«, erwiderte ich. »Sie bürden mir damit sehr viel Verantwortung auf.«
Sie ließ sich mit ihrer Erwiderung Zeit. »Wenn ich Sie richtig einschätze«, meinte sie schließlich, »sind Sie geradezu prädestiniert, mit meinem Neffen zu arbeiten und ihn zu fördern. Sie scheuen keine Verantwortung, sonst würden Sie sich nicht um Ihre Nichte Amelie kümmern, wie Sie es tun.«
Sie hatte recht. Natürlich hatte sie das. Vor rund einem halben Jahr war meine Schwester Sofia bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie hatte mir nichts hinterlassen. Außer Amelie. Ohne zu zögern, hatte ich die Kleine zu mir genommen. Und das Leben, das ich bis dahin führte, war mit einem Mal wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Mein Partner hatte mich verlassen, ich hatte meine Anstellung an der Uni verloren und die meisten meiner Bekannten und Freunde, die sich sehr schnell als seine
Bekannten und Freunde entpuppt hatten. Deswegen saß ich jetzt hier.
»Woher wissen Sie das mit Amelie?«, fragte ich.
Frau von Wuthenow lächelte. »Ich muss doch sichergehen, wem ich meinen Neffen anvertraue. Und falls es Ihnen etwas bedeutet, können wir über Ihr Honorar noch einmal verhandeln. Ich denke, ein fünfzigprozentiger Aufschlag wäre in Anbetracht der Situation angemessen.«
Eigentlich wollte ich ablehnen. Aufstehen, Amelie an die Hand nehmen und mit ihr und ihrem Teddy hocherhobenen Hauptes den Raum, das Schloss, diese ganze verwunschene Gegend verlassen. Aber dann dachte ich daran, dass ich restlos pleite war. Dass ich meine kleine Wohnung in Nürnberg für drei Monate fest untervermietet hatte. Es gab keinen Ort, an den ich mit Amelie gehen konnte. Ich hatte keine Wahl. Ich würde diesen schrecklichen Job in dieser eintönigen Pampa …
Jemand zupfte an meinem Ärmel, und ich blickte in das strahlende Gesicht Amelies. »Komm, Verena«, sagte sie. »Ich möchte jetzt wirklich zu den Ponys. Bitteee!«
Ich holte tief Luft und wandte mich wieder Frau von Wuthenow zu. »An den Arbeitszeiten ändert sich nichts?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Amelie geht von neun bis sechzehn Uhr in den Kindergarten. Diese Zeit verbringen Sie mit Carl.«
»Was ist mit den Wochenenden?«
Frau von Wuthenow schloss die Akte und schob sie energisch beiseite. »Da hat Carl frei, ebenso wie Sie. Außerdem ist der Colonel auch noch da.«
Ich schaute von ihr zu den Sprossenfenstern und hinaus auf den See. Die Regenwolken hatten sich mittlerweile endgültig verzogen. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel.
Drei Monate
, dachte ich. Die Bezahlung war mehr als großzügig. Amelie würde es hier lieben. Und mit diesem Carl würde ich schon fertigwerden.
»Gut«, sagte ich mit fester Stimme, und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass sich mit dieser Entscheidung in meinem Leben wieder einmal etwas nachhaltig verändern würde. »Ich werde es versuchen. Aber mit den fünfzig Prozent.«