Tag 36
Der pochende Schmerz hinter der Stirn weckt mich und nur langsam spüre ich meine Glieder wieder. Als wäre mein Körper in einem Dämmerzustand, bewege ich die Finger und öffne vorsichtig die Augen. Die Sonnenstrahlen brennen darin, sodass ich einen Moment länger brauche, um zu mir zurückzufinden. Um zu begreifen, was geschehen ist.
Er hat mich aus dem Bordell befreit, in das du mich gebracht hast. Er hat mich gefesselt und mit Chloroform betäubt.
Bei dieser Erinnerung und der Erinnerung an die Art, wie er mich angelächelt hat, bin ich schlagartig wach und richte mich auf.
Die Nervosität und Angst vor dem Ungewissen lassen mich in Schweiß ausbrechen. Doch erst jetzt nehme ich den Raum sowie die Tatsache wahr, dass ich nicht mehr gefesselt bin und nur dieses seidene Kleidchen trage.
Das helle, große Zimmer mit den weißen, verzierten Möbeln wirkt so imposant auf mich, dass es mich erdrückt. Es verunsichert mich. Selbst das weiche, breite Himmelbett mit der flauschigen Bettwäsche irritiert mich völlig.
Wo bin ich nur?
Der Raum ist schön, einladend und auf eine königliche Art luxuriös. Nur ich passe nicht in diesen Eindruck. Verschwinde in der Helligkeit und bilde zugleich den Schandfleck inmitten dieser Reinheit, der Unschuld, die dieses Zimmer ausstrahlt. Ich bin der hässliche Kontrast.
Vorsichtig, als könnte ich die Makellosigkeit mit jeder noch so kleinen Bewegung zerstören, stehe ich auf. Meine Füße berühren den weichen Teppichboden und obwohl die Zukunft so ungewiss ist, fühlt es sich wie auf Wolken an und ein unerwartetes Wohlbefinden schleicht sich in mein Inneres.
Durch ein großes Fenster strahlt die Sonne hinein, erwärmt meine Haut. Doch als ich davorstehe, erkenne ich erst, dass Gitterstreben, wie in einem Gefängnis, die neue Gefangenschaft beweisen. Trotzdem öffne ich es und frische Waldluft kitzelt mein Gesicht, sodass ich kurz die Augen schließe und dieses kleine Gefühl hungrig in mich aufnehme. Das und diesen Geruch von frischgemähtem Gras, Nadelbäumen, Erde und Moos.
Es riecht nach Natur, Leben und Freiheit.
Nichts von dem, was ich habe oder bin.
Ich öffne die Augen, sehe hinter den Gittern eine Wiese und den Wald, der alles wie eine große, grüne Wand umzäunt. Eine natürliche Grenze. Nicht nur Gitterstäbe halten mich also gefangen.
Es ist ein märchenhafter Anblick, wie die Sonne durch diese Mauer ihre Strahlen zu mir schickt. Gleichzeitig ist es aber auch die traurigste Aussicht, die ich je erlebt habe, da ich – bei all der Schönheit – den kalten, einsperrenden Stahl zwischen uns nicht ausblenden kann.
Der leichte Wind, der meine nackte Haut streift, bringt mir diesen verführerischen Geruch als Willkommensgeschenk mit und verhöhnt mich dadurch. Denn die Freiheit ist greifbar nah. Ich spüre sie, rieche sie und sie zeigt mir all ihre natürliche Eleganz, während ich die Gefangene bleibe.
Ergeben schließe ich das Fenster, gehe durchs Zimmer und betrachte das hochwertige Mobiliar. Sanft streichen meine Finger über das weiße Holz der Kommode und kurz darauf über den großen Kleiderschrank. Vor dem Schminktisch, der jedes Mädchenherz höherschlagen lassen würde, bleibe ich stehen und schiebe den Stuhl zur Seite. Durch den Spiegel betrachte ich die Silhouette meines Körpers in dieser lila Seide und erkenne den knochigen Körperbau kaum wieder.
Das bin ich. Und eigentlich auch nicht.
Ohne den Widerschein meiner selbst zu beachten, ziehe ich den Stuhl heran, setze mich an den Tisch und staune über die diversen Utensilien, die auf ihre Benutzung warten.
Viele kleine Pinsel in edlen Köchern, unterschiedliche Lippenstifte, Puder und Rouge von teuren Marken. Alles, was das Herz begehrt, und doch wandert mein Blick zu der Haarbürste.
Ich nehme sie in die Hand und mit den Fingerspitzen gleite ich über die Borsten. Erst dann traue ich mich, einen Blick in den Spiegel zu werfen.
Da war sie, die Fremde.
Die Fremde mit dem kahlen Kopf, wo doch einzelne Stoppeln zu erkennen sind. Die dunklen Schatten unter ihren Augen und der fehlende Glanz, aus dem sie mich ansieht. Und dann noch diese Schnittwunde auf ihrer Wange.
Wie von selbst wandern meine Fingerspitzen genau dorthin, wo ich in der Spiegelung ihr verkrüppeltes Ebenbild entdecke.
Das bin ich.
Ich und nicht die Fremde.
Und doch habe ich keinen Bezug zu diesem Anblick.
Eigentlich zeigt es nur, wie es in mir drin aussieht. Denn ich bin nicht mehr Rixa. Nicht das Mädchen, was ich einmal war.
Ich bin Rose.
Deine Rose. Diejenige, die du entführt und weggesperrt hast. Das Mädchen, welches du an so viele Männer ausgeliefert hast.
Tränen rinnen mir über die Wange, ich lasse die Bürste fallen und stütze weinend mein Gesicht in die Hände.
Was hast du nur aus mir gemacht, Vicco?
Eine völlig Fremde sitzt hier und ich weiß nicht, was noch alles geschieht. Selbst diese makellose Einrichtung und die Aussicht, die draußen in die Freiheit ruft, bewahren mich nicht vor dieser Welle an Ereignissen, die nun auf mich einstürzt, mich mit sich in viele Tränen reißt und mir den grausamen Schmerz zurückbringt.
All diese Männer, die sich an mir vergangen haben. Gino, der mich gequält hat, mich dennoch auf seine verquere Art retten wollte und trotzdem missbrauchte. Männer, die mich benutzten, schlugen und erniedrigten. Ich habe lernen müssen, dass selbst Essen zu einer Qual werden kann und mich die Liebe zu dir nicht vor jemandem schützt, der am liebsten meinen Eckzahn als Andenken behalten will. All dieses Leid, aus dem ich nicht herausfinden kann. Und wofür, Vicco? Warum bin ich jetzt hier? Was passiert als Nächstes? Werde ich noch mehr ertragen müssen? Und es auch aushalten können? Wird es irgendwann ein Ende geben?
In meinem tiefen Schmerz aus den letzten Wochen gefangen habe ich nicht mitbekommen, wie die Tür aufgeschlossen wird.
Erschrocken sehe ich auf und da steht er. Obwohl ich wusste, dass er früher oder später zu mir kommen würde, überrascht er mich dennoch und der Schock schnürt mir die Kehle zu.
Denn es ist er.