Vicco
Wie konnte ich nur so versagen? Wie dumm bin ich eigentlich?
Selbst in meinem zugedröhnten Scheißkopf ist mir klar, dass ich diesmal richtig Mist gebaut habe. Denn in dem Moment, als ich dich im Pearl sah, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, und habe mich dennoch falsch verhalten, weil ich es gewagt habe, meinen Vater infrage zu stellen – zumindest im Geiste.
Jetzt sitze ich mit geschlossenen Augen auf dem Sofa im Loft und rufe mir deinen letzten Anblick in Erinnerung. Dich und deine noch zierlicher gewordene Gestalt in diesem Nachthemd, welches du dir niemals selbst ausgesucht hättest, weil es dir zu freizügig wäre.
Rose, da hätte ich schon begreifen sollen, wie fehlerhaft mein Schutz war. In dem Moment war es mir aber wichtiger, dich mitzunehmen.
Nun jedoch, mit deiner Erscheinung in meinen Gedanken, erkenne ich nicht nur den Fehler der letzten sechsunddreißig Tage, sondern auch, welche Wut du mir gegenüber empfinden musst. Verdient.
Die dunklen Schatten um deine matten, weit aufgerissenen Augen, die Hämatome auf deinen Gliedern und am Hals und deine besorgniserregende Gewichtsabnahme sind Beweise dafür, dass ich meinem Vater nicht hätte vertrauen dürfen. Und doch habe ich es getan. Denn er ist mein Vater, Rose. Die einzige Familie, die ich noch habe. Ich wollte zuversichtlich sein, Rose. Dabei ahnte ich schon, welchen Verrat ich an dir begehe, wenn du im Pearl bleibst.
Das allein ist der Grund, warum ich einfach nur mit dir verschwinden wollte. Weshalb ich nicht mit dir diskutieren durfte. Vor allem war es aber die Grundlage, wieso ich ohnehin schon wütend war. Die Sache mit Nilas hat dann meine Sicherungen durchbrennen lassen. Ich war unfair zu dir, Rose.
Anstatt dir zu helfen, jeden umzubringen, der dich verletzt hat, habe ich diese dumme, unbedeutende Stute vor deinen Augen gefickt und dir die Schuld für mein Versagen gegeben. Dir, meiner kostbaren Rose.
Du kannst nichts dafür und bist in etwas hineingeraten, wovor ich dich immer fernhalten musste. Mir ist es scheißegal, dass du mir finanzielle Verluste eingebracht hast. Denn deine Beweggründe waren die typischen für dich – du wolltest mich retten. Du hast versucht, mich auf deine Seite zu ziehen, mich deiner heilen Welt näherzubringen und mich zu beschützen. Dafür wurdest du mit dem Aufenthalt im Pearl bestraft. So war es nicht geplant. Denn ich liebe dich und deine Art und Weise, die Welt so naiv zu betrachten.
Dennoch ist es meine Schuld, denn ich hätte wissen müssen, dass mein Vater lügt und Gino dich nicht bewacht.
Ich sitze hier, beobachte im Traum die Tränen, die über deine Wangen rollen, und spüre diesen Schmerz, der mich innerlich zerreißt. Deinen Schmerz.
Und meinen, weil ich dich verloren habe.
Was mein Vater meint, kann mir egal sein, schließlich hast du es verdient, aus dem Pearl zu flüchten und mich zu verlassen.
Genau diese Erkenntnis hat mich die ganze durchgekokste Nacht gekostet. Ja, Rose, ich musste nur verstehen, was du durchgemacht hast, und trotzdem weiß ich es nicht sicher. Leider auch nicht, ob deine Flucht freiwillig war.
»Vicco!« Markus‘ rauchige Stimme bahnt sich einen Weg durch meinen benebelten Verstand.
»Vicco! Steh auf!«
»Was willst du?«, stöhne ich und zwinge mich, die Lider zu öffnen.
Von oben herab sieht mein Mitarbeiter zu mir und schüttelt ungläubig den Kopf.
»Wolltest du nicht Celine suchen? Und vielleicht herausfinden, wo deine Rose ist?«
Mit Sicherheit würde ich das gerne tun, aber irgendetwas in mir schreit danach, dich laufen zu lassen, weil du ohne mich ein besseres Leben führen könntest. Ich liebe dich, Rose. Ist es aber nicht das, was ein Mann tun muss, wenn er liebt? Loslassen? Ja, ich will das Beste für dich. Und das bin nicht ich, Rose. Du hast am eigenen Leib erfahren, wie zerstörerisch mein Umfeld ist.
»Los, steh auf, wir helfen dir auch.«
»Was auch sonst? Dafür bezahle ich euch immerhin.«
»Dann steh jetzt auf, Vicco.«
»Nein. Sie ist ohne mich besser dran.«
»Ich dachte, du liebst sie?«
Genau deswegen. Ich schließe die Augen und suche den Schlaf, den ich ohnehin nicht finden werde, ohne zu wissen, wie es dir geht.
Mein Faust prallte immer wieder gegen den Pisser, der mich beschissen hatte. Unter meinen Schlägen knackten seine Knochen und das Blut spritzte mir entgegen. Mittlerweile saß er nicht mehr auf dem Stuhl, sondern lag auf dem Boden und ich kniete auf seinem Brustkorb. Abwechselnd schlugen meine Fäuste in sein Gesicht.
»Vicco, ist gut. Er hat es verstanden.« Markus zerrte an meinem Shirt, doch mein Zorn war nicht mehr aufzuhalten. Schließlich zogen mich meine Mitarbeiter gewaltsam von dem verlogenen Arschloch weg und direkt aus dem Raum heraus.
»Krieg dich wieder ein!« Und schon begann ich, Markus' Predigt auszublenden, zog mit meinen blutigen Fingerknöcheln, schneller Atmung und noch schnellerem Puls das Päckchen Kippen aus der Lederjacke und machte mir eine Zigarette an. So, als wollte ich diesem Wichser nicht gerade mit aller Gewalt die Seele herausprügeln.
Markus quatschte unentwegt weiter – von meiner übertriebenen Brutalität
– während ich versuchte, es abzuschalten. An der Wand lehnte ich mich zurück, entspannte und genoss mit jedem Zug den Rauch in meinen Lungenflügeln.
Dann ein weibliches Lachen, was mich unvorbereitet traf.
Dieser Ton haute mich glatt um.
»Sei still«, zischte ich zu Markus, damit ich diesem Gesang lauschen konnte. Stumm kam er meinem Befehl nach, während diese Stimme mich von der Wut befreite. Ich trat aus dem hinteren Flur des Cafés nach vorne und da stand dieses nun nicht mehr verheulte Mädchen von vor zwei Tagen und lachte ausgelassen mit dem dämlichen Barista.
Diese goldenen Locken, die das Gesicht umrahmten, und diese leuchtenden Augen. Noch faszinierender war ihr weiches Lachen.
Dein Lachen, Rose.
»Was ist los?« Markus trat von hinten an mich heran. Ihn ignorierend sah ich dich schon wieder ganz anders vor mir. So wie vor Tagen, als du weinend aus dem Kino gegen mich gerannt bist.
»Rose«, flüsterte ich. Mein Herz pochte und ich forschte in deinem fröhlichen Gesicht. Musterte jeden Millimeter. Während mir das Blut des Versagers von den schweißnassen Fingern tropfte, beschloss ich genau in diesem Moment, gegen alle Prinzipien und jede Moral, dass du ›mein‹ wirst.
Koste es, was es wolle.
Mit stark schlagendem Herz schrecke ich auf, spüre deine Anwesenheit hier bei mir, als wärst du es. Doch das bist du nicht. Es war nur ein Traum.
Eine Erinnerung, die mich im Schlaf heimsucht, mir den Schweiß auf die Stirn perlen lässt. Wie sich anschließend an jenem Tag deine Lippen auf meinen angefühlt haben, ich kann es noch spüren, als wäre es gerade erst passiert. Das Kribbeln signalisiert mir die Echtheit des Traums.
Mir wird klar, dass ich ohne dich nicht leben kann. Nicht sein möchte. Ohne dich nichts bin. Lediglich ein Monster, das zu schnell die Beherrschung verliert, zum Töten abgerichtet ist und keineswegs liebenswert sein kann. Du hast mich zu dem Mann gemacht, den du kennst und der ich für dich sein möchte.
Ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben, und so sehr ich dich verletzt habe, kann ich dich nicht gehen lassen. Auch wenn ich dich nicht beschützen konnte, dich noch mehr in Gefahr gebracht habe, darfst du mich nicht verlassen.
Nun weiß ich, was ich tun muss. Also ignoriere ich meinen schmerzenden Kopf, die brennenden Glieder und die kleine Verwirrtheit, dass ich auf dem Sofa im Loft liege anstatt im Bett, und angle das Handy aus der Tasche.
Es ist zehn Uhr morgens, dennoch hindert es mich nicht, den Einzigen anzurufen, der mir helfen kann. Meinen Vater.
Ein Freizeichen. Es klingelt. Und klingelt. Und gerade, als ich verwundert auflegen will, nimmt er mit rauer Stimme den Anruf entgegen.
»Herr Gott, Vicco. Warum rufst du so früh an?«
Was mich kurz verwirrt, da er wirklich so klingt, als wäre er gerade erst wach geworden.
»Ähm. Habe ich dich etwa geweckt?«
»Ja, hast du. Also hoffe ich für uns beide, dass du einen guten Grund dazu hast.«
Kurz verharre ich, weil es ungewöhnlich für ihn ist, so früh nicht schon angezogen im Büro zu sitzen. Dann fällt mir mein Anliegen ein.
»Ich brauche deine Hilfe. Ich muss sie finden.«
»Wen?«
»ROSE! Ich muss meine Rose finden.«
Leicht knurrend scheint er aufzustehen, worauf ich aufgrund der raschelnden Geräusche schließe.
»Junge«, beginnt er mit seiner seltenen, väterlichen Tonlage. »Nach dem, was passiert ist, bezweifle ich, dass du sie finden wirst.«
Als wäre mir das nicht klar, aber ich MUSS.
»Hast du mal darüber nachgedacht, dass du sie vielleicht nur zurückwillst, weil sie dich verlassen hat?«
Für einen Moment frage ich mich, ob er das gerade wirklich gesagt hat, und mein Vater nutzt die Stille, um weiterzusprechen.
»Versteh mich nicht falsch, ich würde nun mal nicht unbedingt behaupten, dass du sie so sehr liebst. Schließlich hast du sie ohne Umschweife ins Pearl gebracht. Einen Puff. Was dir auch bewusst ist.«
»Was?« Da platzt mir der Kragen. Ich spüre den Puls noch schneller schlagen und wie das Handy unter dem Druck meiner Finger knackt.
»Oder nicht, Vicco? Hast du sie nicht in einen Laden gebracht, wo Frauen für Geld gefickt werden?«
»Zum Schutz! Weil DU es für das einzig Richtige gehalten hast!«, brülle ich, jedoch atemlos. Macht ausgerechnet er mir Vorwürfe? »Es war deine Idee. Schon vergessen? Weil Giovannis Leute ihr sonst Schlimmeres angetan hätten.«
»So, so. Und wenn ich dir sage, dass du die Klippe runterspringen sollst, tust du das dann auch? Dafür, dass du meinen Rat in Bezug auf Rose nie haben wolltest, warst du aber direkt bereit, sie für über einen Monat in einem Puff allein zu lassen.«
»Was redest du da für einen Scheiß?«
»Vicco, ich sage die Wahrheit. Hast du aber mal darüber nachgedacht, was Rose fühlt?«
Das aus seinem Mund. SEINEM!
»Seit wann bist du so empathisch?«
»Ich meine ja nur. Du hast sie in einem Freudenhaus zurückgelassen, Tag wie Nacht, bei fremden Männern. Und Frauen, die für Sex bezahlt werden. Nicht einfach nur Sex. Sie werden von den kränksten, verdorbensten Männern dieser Stadt gefickt. Was meinst du, was Rose wohl über dich denkt? Glaubst du, sie will dich sehen, wenn du sie findest? Wenn es so wäre, hätte sie sich längst bei dir gemeldet.«
Bei seinen Worten beginnt mein Körper zu zittern. Der Puls jagt durch meine Glieder und auch die Lider zucken. Rot, was sich vor Augen schwarz verfärbt.
»Ich meine es nur gut mit dir. Wenn du sie suchen möchtest, werden wir sie finden. Du hast nur mich, Vicco. Wir stehen füreinander ein, auch für die falschen Entscheidungen, die der andere getroffen hat. Ich bin dein Vater und helfe dir.«
»Ja«, bringe ich mühselig heraus, lege auf und lasse das Handy fallen, bevor ich es zerstöre.
Zorn auf dich. Meinen Vater. Mich.
Ich sitze einfach da, dränge das Verlangen, töten zu wollen oder in Rage das Loft niederzubrennen, zurück und bebe am ganzen Leib.
Die Muskulatur ist zum Zerbersten angespannt, drängt nach dem Tod, weil ich versagt habe.
Als mir die Worte meines Vaters erneut durch den Kopf fegen, wird mir mit jeder Silbe bewusst, wie recht er hat. Zwar hatte er mich davon überzeugt, dich ins Pearl zu bringen, letztlich war ich jedoch derjenige, der die finale Entscheidung traf, dich dort hinzubringen, der dich zurückließ und dich nicht aufklärte. Versteckte mich sogar vor den Antworten, die du sicher eingefordert hättest, und bin auf die Suche nach einem Feind gegangen, von dem du nichts ahntest. Warum habe ich dir nicht alles erklärt, Rose? Weil ich blind war. Weil ich dich vor dieser Welt schützen wollte und gehofft habe, ich würde dich in wenigen Tagen wieder abholen und könnte so tun, als wäre es wieder einer meiner Ideen gewesen. Aber ich habe mich geirrt. Und dieser Irrtum war der größte Fehler von allen.
Eigentlich könnte ich jetzt ausrasten, mich verlieren in der unausweichlichen Wut und alles zerstören, was mir einmal etwas bedeutet hat, weil es ohne dich wertlos ist.
Stattdessen atme ich tief durch, schließe knurrend meine Augen und richte mich wie in Zeitlupe auf. Als ich mich im Loft umsehe, bemerke ich, dass Markus gegangen ist und ich allein bin.
Gerne möchte ich den schmerzhaft pochenden Zorn in meinen Adern freilassen. Da dich aber der bloße Hunger nach Selbstzerstörung nicht wiederbringen wird, gehe ich zum Tisch rüber und drehe mir erst einmal einen Joint, der mich von dem Mordtrip runterbringen muss.
Wie du dir sicher denken kannst, reicht einer lange nicht aus. Deswegen rauche ich einen nach dem anderen.
Ich zähle die einzelnen nicht mit, achte nicht auf die Uhrzeit, sitze wieder auf dem Sofa und spüre irgendwann endlich die Ruhe.