Rose
Dich aus meinem Herzen zu verbannen, scheint mir fast unmöglich zu sein. Doch gerade jetzt, wo er in der Tür steht, auf mich herabblickt mit diesem mitfühlenden Gesichtsausdruck, spüre ich den Zwiespalt in mir aufkommen. Ich stehe nicht nur zwischen dir und ihm, vielmehr ist es eine Mischung aus Liebe zu dir, Zuneigung zu ihm, Hoffnung und unbeschreiblicher Angst. Zusammen ballen sie sich in eine Emotion, die ich nie kennengelernt habe, und zermürben mich von innen.
Deswegen wende ich den Blick ab. Die Furcht, etwas Falsches zu tun und den Mann, der eigentlich die ganze Zeit so gut zu mir war, zu verärgern, dass ich aufs Neue diesen Schmerz aus der Zeit im Pearl spüren werde, sorgt für eine Starre in meinen Gliedern.
»Guten Morgen, Rose.«
Anscheinend habe ich schon eine Nacht hier verbracht, was bedeutet, dass die Tage erneut an mir vorbeiziehen, ohne mich mitzunehmen.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin es«, was ihn dazu verleitet, in den Raum einzutreten und sich vor mir hinzuknien. Doch die Fesslung und die Betäubung, nachdem er mich aus dieser Hölle befreit hat, lassen mich misstrauisch werden.
Ich kenne ihn nicht. Genauso wenig wie seine Absichten.
»Du brauchst dich nicht vor mir fürchten. Das musstest du nie.« Durch seine Nähe und dadurch, wie er versucht, meinen Blick aufzufangen, zwingt er mich, ihn anzusehen.
Obwohl er die Wahrheit sagt, sitze ich ihm skeptisch gegenüber, kann nur in seinen Augen den Frieden erahnen. Wohingegen die Dunkelheit, die ihn umgibt, das Grauen heraufbeschwört.
Als seine Hand sich sanft auf meine Wange legt, kann ich es nicht verhindern, die Wärme in mich aufzunehmen und diese zaghafte Berührung zu ersehnen.
»Dir wird es bei mir gutgehen.«
Das sollte ich ihm glauben, kann es nur nicht. Etwas in mir schreit, dass er mich nicht fesseln oder betäuben oder gar hier einsperren hätte müssen, wenn seine Intention freundlich wäre. Zudem könnte er mich nicht über die Trauer hinwegtrösten. Ich habe mich verloren, Vicco. Meine Seele, mein Herz und selbst mein Aussehen ist entstellt. Nichts von dem bin ich und dennoch lebe ich genau mit dieser Fremden, mit der ich nur die Erinnerungen und das Blut gemeinsam habe.
Mit schief gelegtem Kopf betrachtet er mich. Mustert die dürftigen Regungen im Gesicht und sucht den Weg in mein Inneres. Leicht bilden sich um seine Augen kleine Fältchen, weil er versucht, gefühlvoll zu lächeln, obwohl es seine blauen Iriden nicht erreicht.
»Leider musst du vorerst hier in diesem Zimmer bleiben. Verzeih mir, Rose, aber dass ich dich mitgenommen habe, war so nicht geplant. Es war eine spontane Entscheidung.«
Er hatte also immer präventiv das Chloroform griffbereit? Skeptisch runzele ich die Stirn, was er nickend bestätigt.
»Ja, nicht ganz so spontan. Dennoch ist dieses Haus nicht für einen Gast ausgerichtet. Gib mir einige Tage, um alle Einzelheiten zu klären.«
Bestimmt muss er seine Frau loswerden, damit ich mich hier frei bewegen kann, bis er eine andere Möglichkeit gefunden hat.
»Das hat sich komisch angehört. Ich meine das Hauspersonal. Ich lasse noch ein Dienstmädchen kommen, die dir hilft. Schließlich hast du auch keine Kleidung hier. Du hast einiges durchgemacht, Rose. Das weiß ich. Ich allein kann dir aber nicht helfen. Du brauchst einen Therapeuten und eine zusätzliche Bezugsperson, der du dich anvertrauen kannst. Der du Dinge sagen kannst, die du mit mir nicht bereden willst. Verstehst du?«
Geschockt sitze ich da und versuche, die Worte auf mich wirken zu lassen.
»Rose, manche Frauen mit ähnlichem Hintergrund wie du können unberechenbar sein. Würden sich selbst oder andere verletzen, weil sie Angst haben oder in Panik geraten. Hier in diesem Raum bist du sicher und ich bin zu jeder Zeit für dich da. Aber sei mir nicht böse, wenn ich dich die ersten Tage hier einsperre, bis du dich an die neue Situation gewöhnt hast und ein Therapeut mit dir gesprochen hat.«
So einfühlsam er auch spricht und seine Worte für mich ganz logisch sind, stellt sich mir eine große Frage: Wenn er doch weiß, was alles mit mir passiert ist oder es zumindest ahnt, warum ist er selbst Gast so eines Ortes und bedient sich an den Leibern der Frauen wie in einem Supermarkt?
Immer mehr Fragen tun sich in Verbindung mit diesem attraktiven, aber älteren Mann auf. Gehört er zu den gutmütigen Personen, die nur dort hingehen, um ihren eigenen Trieben entgegenzuwirken, ohne eine Frau mutwillig zu verletzen? Oder spielt er mir nur etwas vor, sodass ich mein Leben freiwillig in seine Hände lege und er es mir qualvoll entreißen kann?
»Was bezweckst du damit?«, frage ich mit zittriger Stimme geradeheraus, weil dieser Mann und sein Handeln keinen Sinn ergeben.
»Ich will, dass es dir gutgeht.«
»Aber warum? Warum sollte dich das interessieren?«
»Weil du etwas Besonderes bist, Rose.«
Das ist gelogen, Vicco. Das sagt mir nicht nur mein Spiegelbild. Dennoch erkenne ich in seinen Augen nicht die Lüge. Zwar möchte ich ihm glauben und einen Vertrauensvorschuss geben, kann es aber nicht. Ein Teil in mir wehrt sich dagegen.
Als könnte er mir die Zweifel ansehen, nimmt er meine Hände in seine und zieht mich in den Stand in eine Umarmung.
Eine Zärtlichkeit, die sich so geborgen anfühlt, obwohl seine düstere Aura eher Unheil prophezeit.
Behutsam streichen mir seine Finger über den Rücken und vertreiben die Angst, bis er sich kurz darauf schweigend von mir löst und mich an der Hand zum Bett führt. Erst beschleicht mich erneut die Befürchtung, seine Erwartungen nicht erfüllen zu können und mit einer Bestrafung rechnen zu müssen. Sogleich fällt mir aber auch ein, dass er nie so war. Er hat nie gegen meinen Willen gehandelt. Deswegen folge ich ihm und lasse mich sachte aufs Bett drücken.
Kein Wort einer Anweisung gleitet über seine Lippen. Nur unsere Körper sprechen miteinander, sodass ich mich auf der weichen Matratze ausbreite, was er lächelnd bestätigt und woraufhin er sich zu mir legt. Seine Körperseite schmiegt sich an meine, ohne mich zu bedrängen, und seine Fingerspitzen streicheln mir achtsam über die Haut. Ungeachtet der merkwürdigen Stille zwischen uns sprechen unsere Körper, Seelen zueinander und er schenkt mir somit die lange Zeit fehlende Wertschätzung. Mit den Fingerkuppen liebkost er ehrfürchtig meine Arme, die Taille und schließlich Schlüsselbein und Hals. Durch diese unschuldigen Berührungen entspanne ich mich und selbst mein zweifelnder Geist beruhigt sich unter seiner Zärtlichkeit. Ohne Worte, denen ich sowieso nicht vertraue, huldigt er meinen geschundenen Körper und beweist mir, dass ich bei ihm nichts zu befürchten habe.
Mit jeder Sekunde, in der seine kaum spürbare Haut über meine tanzt, gebe ich mich ihm ein bisschen mehr hin und verdränge zugleich die Bedenken.
Erst mein knurrender Magen beendet diese Vereinigung. Denn nun verharrt er lachend am Bauch und erklärt mir, als er aufsteht, dass er etwas zu essen bringen wird.
Mein Blick verfolgt ihn aus dem Zimmer und die Anspannung kehrt zurück, als er nicht nur die Tür hinter sich zuzieht, sondern sie auch gleich abschließt. Wieder beginnen die Muskeln zu verkrampfen und mit aller Gewalt dränge ich die Zweifel zurück. Ich zwinge diese Skepsis über meinen Verbleib und seine Absichten unter die Oberfläche, da er mir immer ein gutes Gefühl gab, stets auf meine Zustimmung wartete und ich mit ihm bereits so viele schöne Stunden verbracht habe. Er verdient einen Vertrauensvorschuss und vielleicht ergibt die Tatsache meiner Gefangenschaft wirklich einen Sinn. Und sollte ich nicht froh sein, der Hölle entflohen zu sein? Wer bin ich, mich über den Garten Eden zu beschweren, selbst wenn dieser mit Stäben aus Eisen eingezäunt ist?
Möglicherweise bin ich tatsächlich zerbrochen genug, jemanden aus einer plötzlichen Angst heraus anzugreifen. Von dir ausreichend zerstört bin ich unleugbar fähig dazu, mir selbst etwas anzutun. Vermutlich brauche ich wahrhaftig professionelle Hilfe, obwohl mich dieser Gedanke, mich irgendeiner fremden Person anvertrauen zu müssen, nervös macht.
Aufgewühlt von der Idee, mit Unterstützung eines Therapeuten zu heilen, streiche ich über meinen kahlen Kopf und spüre die vereinzelten Stoppeln wie Nadelstiche unter der Handfläche.
Zerbrochen bin ich schon längst, Vicco. In viele nicht mehr auffindbare Einzelteile. Aber kann man mich wieder ganz machen? Mich reparieren, damit mein Dasein lebenswert wird? Ich bezweifle es.
Während ich auf seine Rückkehr warte und das Knurren meines Magens ignoriere, schließe ich die Augen, reguliere die Atmung und versuche, die aufkommende Erinnerung an dich genauso zu verdrängen wie die Angst vor der Zukunft. Zugleich probiere ich, mich daran zu erinnern, dass von ihm keine Gefahr ausgeht und ich hier eindeutig in Sicherheit bin.
Schließlich ist es dein Gesicht vor meinen geschlossenen Augen, was mir den Puls wieder hochschnellen lässt, die Erinnerungen an deinen Geruch und an die vielen Berührungen. Schon fast krampfhaft presse ich die Augen zusammen, schiebe diesen Anblick weg und schaffe es doch nicht, weil unsere Verbindung, trotz der unzähligen Schmerzen, die du mir angetan hast, stärker ist.
Als wäre es nicht schlimm genug, dich noch nicht loslassen zu können, verändert sich die Darstellung in Gedanken. Aus dem fürsorglichen Lächeln wird der wütende Ausdruck, den ich zuletzt bei dir gesehen habe. Dein verzerrtes Gesicht und wie du voller Zorn diese Frau vor meinen Augen gefickt hast. Das an jenem Tag mitansehen zu müssen, war schon schrecklich, aber dass ich diese Szene nicht mehr aus dem Kopf bekomme, bricht mich ein weiteres Mal. Als könne ein Herz immer wieder aufs Neue zerbersten, schmerzt es unter meiner Brust, drückt mir die Kehle zu und die Atmung stockt in der Lunge.
Ich will das nicht. Will diesen Schmerz nicht fühlen, wie du mir gezeigt hast, was ich nur noch für dich bedeute. Kann es kaum ertragen und zugleich nicht verhindern. Tränen brennen sich ihren Weg über meine Wangen. Nichts von dem kann ich aufhalten oder an einen weit entfernten Ort verbannen. Diese tiefsitzende, quälende Belastung sowie dieser Ausschnitt unserer einst unzerstörbaren Liebe verletzen mich mehr als die vielen Männer davor. Selbst das, was Gino mit meinem Körper gemacht hat, kommt nicht an das heran. Vicco, du hast mir alles genommen.
Etwas rüttelt an mir, reißt mich aus diesem Raum und erst jetzt höre ich nicht nur die Schmerzensschreie aus tiefer Lunge, sondern auch seine Stimme. Weit weg, dunkel und wie er verzweifelt meinen Namen ruft.
»Rose!«
Erschrocken richte ich mich auf und schaue in diese Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde drückt sich etwas auf meine Brust und schlägt mir brutal ins Gesicht. Diese Augen.
Es sind nur diese blauen Iriden, die mir für einen kurzen Moment den Atem nehmen und einen weiteren grausamen Schmerz zufügen, dass ich das Schluchzen nicht aufhalten kann. Nur für diesen einen kleinen Augenblick sehe ich deine Augen.
Deine. Und nicht seine.
Ich schließe die Lider. Und atme. Langsam. Verdränge die Verwirrtheit.
»Rose? Was ist los?«
Kein Leid fügt er mir zu. Er sitzt auf der Bettkante, hält meine Oberarme in seinen starken Händen und schenkt mir etwas Geborgenheit, die mir immer fehlt und mich jetzt zum Schweigen bringt.
»Rose, sprich mit mir!«
Mein Mund ist zu trocken und die Gedanken zu verwirrend, um ihm zu antworten, und so lasse mich in seiner Wärme fallen, um all die schlechten Erinnerungen zu verbannen.
»Rose, bitte.« Er klingt zu verzweifelt, weshalb ich meine Augen öffne und ihn sehe, nicht dich. Ihn wahrnehme und nicht dich. Und auch nur ihn spüre.
»Ich spüre nur dich«, flüstere ich und ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Er beugt sich zu mir runter, haucht mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund und flüstert zurück: »Nur mich.«
Dann sieht er mich wieder an, durchbohrt mich mit seinen Augen, die mich an deine erinnert haben, und umschließt meine Wangen mit seinen Händen.
»Nur mich, Rose. Nur ich bin hier und passe auf dich auf. Nur ich werde dir alles geben, was du brauchst, um glücklich zu sein. Nur mich sollst du fühlen.«
Obwohl diese Worte mich innerlich in Alarmbereitschaft versetzen, erwärmt es zugleich mein kaputtes Inneres.
Wieder streichen seine Finger über meine Haut, hüllen mich in einen Schutz, der zwar so widersprüchlich zu seinem finsteren Auftreten ist, mich aber in einem Wohlergehen auffängt.
Seine Bewegungen sind darauf bedacht, mich nicht zu verängstigen, stattdessen zu beschützen. Sie bauen diese unsichtbare Wand auf, die mich vor den Gefahren der Außenwelt, der du mich erst ausgesetzt hast, bewahrt.
Ja, Vicco, ich war naiv genug, anzunehmen, dass unsere Welt aus weniger Leid besteht. An meinem Körper hast du die Wahrheit demonstriert. Mit diesem Wissen darf ich dennoch hoffen, dass er mir keinen Schaden zufügt. Nicht so einen, wie du es getan hast.
Doch seine Streicheleinheiten werden fordernder. Zudem beugt sich zu mir und legt sich neben mich aufs Bett. Die Fingerspitzen gleiten meine Seite zu den Brüsten entlang. Und während ich sein Glied an mir wachsen spüre, wird jede Berührung wie ein Kratzen mit Schmirgelpapier. Die Vertrautheit und Sicherheit gehen verloren, weichen seinen ungeduldigen Liebkosungen, und ein Kloß drückt mir in der Kehle die Luft ab.
Die sanften Zärtlichkeiten an der Brust stehen im Kontrast zu den deutlich wippenden Bewegungen seiner Hüfte, die mir allen Schutz wieder nehmen, den ich gerade erst bekommen habe. Als seine Finger über meinen Bauch nach unten wandern, versteife ich mich komplett, sodass er kurz vor meiner Scham verharrt.
»Was ist los, Rose?«
Der fehlende Mut lässt mich ihm nicht antworten und ich will auch nicht für meine Reaktion bestraft werden. Dennoch bekomme ich kaum Luft. Jeder Muskel in mir ist angespannt, wartet auf den kommenden Schmerz.
»Rose?«
»Ich kann das nicht!«, krächze ich heiser.
»Was? Mit mir schlafen?« Er vergräbt sein Gesicht an meiner Halsbeuge, riecht an mir und streift mir mit der Nasenspitze über die Haut. Schweigend und in Schockstarre bleibe ich liegen. Und warte.
Warte auf seine einbrechende Wut.
»Rose, du hast schon mit mir geschlafen. Du wolltest das vor Tagen noch. Hast mich regelrecht genötigt. Was hat sich geändert?«
Die Pein der Erinnerung, wie ich ihn angefleht habe, das zu tun, was ich ihm jetzt verweigere, bringt meine Wangen zum Glühen. Und dennoch hat sich alles verändert. Denn das war etwas anderes.
In einem Raum, wo nur Gewalt herrschte, ich der Hölle näher war, als ich es dem Tod sein könnte, war jede seiner Berührungen ein Gebet. Ein Stück Hoffnung, was in mir aufwallte. Ich fühlte mich nur in seinen Armen sicher. Er lenkte mich von den Schmerzen ab. Fing mich auf, indem ich ihn spürte. Und er gab mir letztendlich das Gefühl, nicht vollkommen zerstört zu sein. Ein Mensch und eine Frau zu sein.
Doch jetzt gibt mir dieser neue Raum, in dem ich so fehl am Platz wirke, Wärme und Kraft, hüllt mich in diese Schönheit, die ich nicht mehr halten konnte, und sein reibendes Geschlecht an meiner Körpermitte verspricht mir die Qualen, von denen er mich sonst befreit hat.
Alles Schöne nimmt er mir mit jeder weiteren Reibung seiner deutlich werdenden Aufforderung. Ich will ihn nicht in meinen geschundenen Körper lassen, mich gezwungen fühlen, seine Länge in mich aufzunehmen, wo ich doch noch immer wund bin.
Es geht nicht.
Nur, wie sage ich ihm das? Wie erkläre ich ihm, dass es einen Unterschied zwischen gestern und heute gibt?
Gar nicht. Deswegen schweige ich weiterhin.
»Rede mit mir!«
Wenn ich wüsste, wie ich meine Gefühle so in Worte fassen kann, dass er diese versteht, ohne mich für diese bestrafen zu wollen, würde ich es tun. Nur klingen sie im Geiste danach, als hätte ich ihn benutzt. Als wäre ich die Böse in dem Raum der Qualen gewesen, weil ich seine Nähe für mein Wohlbefinden missbraucht und ihm falsche Signale gesendet habe.
Vicco, ich bin ihm nicht abgeneigt. Aber meine Gefühle an dem grausamen Ort waren andere als an diesem, wo ich die Freiheit riechen kann.
»Rose, du sollst mit mir sprechen!« Die Sanftheit verliert sich in den harten Worten. Er setzt sich auf, um mein Gesicht in seine Hände zu nehmen, und zwingt mich, ihn anzusehen. Eine böse Vorahnung kratzt mir die Wirbelsäule hinab, während ich von seinem stechenden Blick und Fingern gefangen gehalten werde.
»Wir müssen nicht miteinander schlafen. Du weißt doch, dass ich nur das mache, was du auch möchtest. Aber sag mir, was los ist.« Da ist sie wieder. Sanft und dunkel gelangen seine Worte zu mir. Dennoch ist da etwas, was mich innehalten lässt. Weder in seiner Stimme noch in seinen Worten erkenne ich die Boshaftigkeit. Es sind lediglich seine Augen, die mir das Unheil vorhersagen. Mich schaudern und schwer schlucken lassen.
»Rose.«
»Ich kann einfach nicht«, leise, fast tonlos zwinge ich mich zum Reden, doch er hat die einfachen, nichtssagenden Worte gehört, weil er lächelnd nickt und aufsteht.
»Du solltest auch erst etwas essen. Zu Kräften kommen und dich hier einleben.«
Zur Bestätigung wird mir der Hunger wieder bewusster. Er dreht sich zum Schminktisch um, wo ein Tablett steht, und reicht es mir rüber. Ein Glas Saft, Wasser und ein Teller mit Salat wurde von ihm liebevoll angerichtet. Das Grün der Blätter strahlt mit den orangefarbenen Möhrenstücken um die Wette und ich rieche dezent das Dressingaroma.
Leicht und würzig. Ja, sogar …
»Ich dachte, etwas Leichtes würde dir guttun, du hast sicher keine ausgewogene Ernährung bekommen.«
Wie ein Klotz drückt sich das Tablett auf meine Beine. Bilder schießen mir vor Augen.
Ich spüre den Teller auf meiner Haut, sehe sie vor mir, schmecke sogar …
Dieses nussige Aroma, welches mir in die Nase steigt.
SCHNECKEN!
Ruckartig springe ich auf, als mir die brennende Säure die Speiseröhre hinaufsteigt. Dass ich dabei den Teller umschmeiße und das Essen und die Getränke sich auf dem Bett verteilen, beachte ich nicht und sehe nur die Tür vor Augen, von der ich noch nicht einmal weiß, was sich dahinter verbirgt.
So oder so schaffe ich es nicht.
Mitten im Raum übergebe ich mich. Falle vor Scham und Kraftlosigkeit auf die Knie, während mein Mageninhalt sich auf den weichen Teppich legt.
Tränen bahnen sich reflexartig ihren Weg und vermischen sich mit der tiefen Reue, dass ich diesen wunderschönen Raum verunstalte. Ich bin abscheulich, widerlich und nun bin ich zum wahren Monster bei all der Schönheit geworden und zerstöre sie. So wie ich zerstört wurde.
Abwartend und zögerlich schaue ich auf. Sehe zu diesem ansehnlichen Mann, der mir eigentlich nur Sicherheit und Zuneigung geben will und bemerke, wie er abschätzig herabsieht.
Ja, Vicco, ich habe diesen schönen Ort ruiniert, habe mich von der grässlichsten Seite gezeigt. Mein Magen verkrampft sich erneut, als er zu seinem Blick die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf schief legt.
Ich will nicht wissen, was er denkt. Möchte auch gar nicht herausfinden, welche Bestrafung mich dafür erwartet.
Nach wie vor sitze ich angespannt da. Knie auf den Unterschenkeln neben dem Erbrochenen. Die Furcht davor, welche Qual mir nun widerfahren wird, brennt weitere Tränen über meine gereizte Haut. Gleichzeitig vertreibt der säuerliche Geruch den Duft der Freiheit und verpestet das ganze Zimmer.
Reflexartig zucke ich zusammen, sowie sich sein Arm bewegt, und verschränke zum Schutz die meinen vor dem Gesicht. Mache mich so klein wie möglich, als könne dies die Qualen abwehren, und warte auf die unausweichliche Pein.
Und warte.
Ich verharre auf den Schlag wartend. Auf Schmerz. Die viele Wut, die mich erreichen wird.
Und warte weiterhin.
Ein Zittern überfällt meinen Körper und ich halte ungewollt die Luft an, wappne mich vor dem neuen Leid, das er mir für die Respektlosigkeit zufügen wird.
Doch es geschieht nichts.
Als weitere stille Augenblicke vorbeiziehen und nur die angespannte Stimmung zwischen uns herrscht, siegt die Neugier und ich sehe auf. Sofort erschrecke ich.
Denn er hält mir eine Hand hin. Er steht einfach da, beobachtet mich aus seinen blauen Augen und streckt den Arm in meine Richtung aus. Zögernd wandert mein Blick von seiner geduldigen Handfläche zu seinem Gesicht hin und her. Sucht die Veränderung, sein schreckliches Vorhaben, und doch erkenne ich nichts als eine stählerne Mauer und diese Hand, die auf meine Reaktion lauert.
Er schweigt. Wie ich. Dennoch weiß ich nicht, was ich tun soll. Falls ich seine Hilfe annehme, schreit dann die Folter nach mir?
Könnte ich sie überhaupt aufhalten, wenn ich mich ihm verweigere?
Mache ich es nicht dadurch schlimmer?
Letztlich entscheide ich mich dafür, ihn nicht weiter zu reizen, ihm nicht noch mehr Gründe zu liefern, mich zu verletzen, und lege meine zittrige, vor Angstschweiß feuchte Hand in seine.
Mit einem Ruck zieht er mich hoch und gleich an sich, in eine warme Umarmung, die mich komplett aus dem Konzept bringt, und ich reiße erschrocken die Augen auf.
»Noch mal, Rose, ich werde nur das tun, was du möchtest. Ich werde dich nur schlagen, wenn du mich das fragst, und ich werde dich nicht verletzen, außer du bittest darum. Bei mir bist du sicher.«
Wären diese Worte von dir gekommen, dann hätte ich sie verstanden, weil du mich auch nur geschlagen hast, wenn es zum Spiel gehört hat. Aber es sind seine, Vicco. Was haben sie zu bedeuten?
So unsicher mich diese Wortwahl macht, sind es seine Nähe und diese liebevolle Art, mich zu halten, die mich wieder ruhig atmen lassen. Für einen Moment will ich leichtfertig daran glauben und erwidere die Umarmung.
Denn er hat mich nicht bestraft, dafür dass ich seinen sündhaft teuren Teppich verschandelt habe.
Mein Blick huscht zum Bett, wo ich eine ordentliche Sauerei veranstaltet habe, und ich schäme mich noch mehr.
Er hat sich Mühe gegeben und anstatt mich anzuschreien oder zu schlagen, drückt er meinen Körper an seinen und … tröstet mich?
Ja, Vicco, so verstörend es auch ist, er beruhigt mich. Diese Erkenntnis erlaubt mir, mich fallen zu lassen. Seinen Schutz anzunehmen und ihm das Vertrauen zu geben, welches er verdient hat. Er hat mir nichts angetan und macht nicht den Anschein, das nachholen zu wollen. Also – wovor habe ich Angst? Nie gab er mir den Anlass, etwas anderes zu denken. Und ich wollte unbedingt mit ihm schlafen. Weil ich mich bei ihm sicher fühlte. Es hat sich nichts geändert.
Er ist immer noch er.