Tag 37
Ich würde dir gerne sagen, dass ich mich von ihm distanziere. Meine Gefühle ihm gegenüber ängstliche sind oder zumindest skeptische. Nachdem er mich jedoch unter die Dusche im anliegenden Bad gestellt, den fleckigen, gefärbten Körper achtsam mit einem weichen Schwamm eingeschäumt hat und es dabei eine Huldigung war, wäre jegliches negative Gefühl eine Lüge gewesen.
Er tut mir gut, Vicco. Jede einzelne Minute. Er nimmt sich mit allem Zeit. Außer, als er den Teppich gereinigt hat, während ich unfreiwillig auf dem Bett saß. Ich wollte selbst für meine Schande aufkommen, aber er ließ es mit den Worten: »Ruh dich aus«, nicht zu.
Nach wie vor ist die Situation unangenehm. Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, weil er so lieb und nur darauf bedacht ist, mir Gutes zu tun. Selbst als er mich regelrecht genötigt hat, etwas zu essen, was ich hingegen nicht konnte. Noch nicht einmal für ihn. Mit keinem Bissen.
So wie heute am Morgen, als er mit Rührei ins Zimmer gekommen ist. Bei dem Geruch füllte sich mein Mund mit Speichel, aber im selben Moment erschien mir das Bild der Schnecken und mein Magen krampfte sich geplagt zusammen.
Vicco, ich habe Schnecken gegessen. SCHNECKEN!!!
Immer wieder, wenn dieser Gedanke mein Wohlsein beiseite drückt, weine ich. Ich kann nicht fassen, dass du mich so weit in die Verdammnis getrieben und mich dem ausgeliefert hast.
Es tut weh.
Alles.
Die ganze Situation, in der ich mich befinde, ist beängstigend und zugleich viel zu angenehm. Denn ich sollte ihm nicht vertrauen und alles von ihm annehmen, was er mir gibt. Weil ich noch immer eine Gefangene bin.
Zwar ist dieser Raum ansprechend, gefüllt mit Liebkosungen und Harmonie, dennoch kann ich nicht selbst entscheiden, diesen Ort zu verlassen. Zugegebenermaßen hat er logische Begründungen für meine Gefangenschaft dargelegt, will mich und alle um mich herum nur schützen, trotzdem ist es komisch, weiterhin auf einen anderen angewiesen zu sein. Deswegen sollte ich vorsichtig sein und ihm das nötige Misstrauen entgegenbringen.
Nur fällt es mir, so wie jetzt, schwer, wo er zu meinen Füßen sitzt und mir kuschelige Socken anzieht, obwohl ich selbst hineinschlüpfen hätte können. Das Gleiche tat er zuvor mit der bequemen Leggins und dem Shirt, welches ich nun trage. Er behandelt mich wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Dabei bin ich schon längst gebrochen.
Zersprungen am tiefen Schmerz deines Verrats und an den vielen Männern, die meine Schutzlosigkeit für ihre perversen Träume ausgenutzt haben.
Zerschmettert von der Abhängigkeit eines gewalttätigen Psychopathen, der mir selbst in der Ruhe die Rückzugsmöglichkeit nahm, indem er sich zu mir ins Bett gelegt hat.
Das schreckt ihn
aber nicht zurück, die ganze Nacht neben mir zu liegen und mich in seine Arme zu ziehen, ohne zusätzliche Versuche zu starten, mir noch näherzukommen. Er hält sein Versprechen.
Abgesehen vom Essen. Denn nun sitze ich hier mit einem Milkshake in der Hand, ohne diesen anzurühren.
»Trink, Rose«, sagt er ruhig und sanft. Dennoch ist der bestimmende Unterton herauszuhören. Doch ich starre nur auf den Strohhalm, der meinen Würgereiz verspottet.
»Es beruhigt nicht deinen Magen, aber deine Seele. Außerdem ist das Zeug hochkalorisch. Schließlich sollst du zunehmen.«
Kompromissbereit nicke ich und sauge den ungeahnt dickflüssigen Shake in den Mund. Es schmeckt großartig. Kaum hat die schokoladenartige Flüssigkeit meine Geschmacksknospen erreicht, stöhne ich leicht auf.
»Da habe ich wohl deinen Geschmack getroffen.«
Obwohl ich mich zu Anfang genötigt fühlte, es zu trinken, verspüre ich eine tiefgehende Dankbarkeit und lächele mit dem Strohhalm im Mund. Genieße sogar diese Köstlichkeit, die schon nach wenigen Schlucken meinen Magen besänftigt. Während ich trinke, steht er auf, setzt sich gleich neben mich auf die Matratze und betrachtet mich fürsorglich. Schweigend macht es mir nichts aus, dass er jede Reaktion von mir begutachtet.
Mich ansieht, als wäre er ein besorgter Vater, der seine Kleine aufpäppeln muss. Es sollte mich verwirren, da es durch unseren augenscheinlichen Altersunterschied zutreffend ist. Allerdings ist es bewegend, so umsorgt zu werden. Schließlich kenne ich das nur von dir. Und selbst bei dir fühlte es sich nie so herzerwärmend an, sondern oft nervig, weil du mich in meinem Handeln eingeschränkt hast. Er hingegen sitzt da und befiehlt im Stillen, den Shake auszutrinken. Ich gehorche, Vicco. Da sich irgendetwas in mir dafür entscheidet, das Getränk trotz des Zwanges bis auf den letzten Tropfen in mich aufzunehmen. Sein unausgesprochener Befehl stört mich zudem nicht, es fühlt sich eher warm und herzlich an. Denn so sehr ich mich dagegen wehre, freue ich mich, dass er sich solche Sorgen macht.
Als nur noch das leere Schlürfen zu hören ist und mir unter seinem lobenden Ausdruck die Hitze in die Wagen steigt, nimmt er mir das Glas aus der Hand, stellt es neben uns auf die Kommode und beugt sich zu mir rüber. Mit seinem Gesicht nah an meinem, seinem Atem auf den Lippen, versteife ich mich ungewollt und halte die Luft an. Er zieht meinen Blick in seinen Bann und spürt anscheinend die unbeabsichtigte Anspannung in mir. Denn er nimmt zögernd einen kleinen Abstand, nur um mir dann eine Hand auf den Kopf zu legen. Während er darüber streicht, verkrampfe ich erst recht und schäme mich für dieses Bild, welches ich nun abgebe.
»Du kannst nichts dafür«, flüstert er und haucht einen Kuss auf diese kahle Stelle, wo einst das lange, blonde Haar war.
Wie ein Messerstich in meiner Brust wird mir abermals klar, wie wenig ich der Frau gleiche, die ich einmal war. Ich bin nicht mehr Rixa. Jetzt bin ich nur diese komisch aussehende, zerstörte Rose, die sich vor diesem Mann schämt und zugleich die Nähe aus Angst nicht erträgt.
»Ich verspreche, alles wird gut. Du musst dich nur an meine Regeln halten.«
Regeln? Schockiert ziehe ich mich von ihm zurück, suche den Raum zwischen uns und forsche in seinem Gesichtsausdruck und in seinen Augen nach der Gefahr, die seine Worte ankündigen.
»Sieh mich nicht so an, Rose. Ich habe dir gesagt, ich werde dich nicht verletzen. Zu Anfang besteht die Regel darin, dass du diesen Raum nicht verlässt, isst und mir vertraust.«
Das eine ist schwieriger als das andere, weswegen ich automatisch zu beben anfange. Was würde passieren, wenn ich mich nicht daran halte?
»Vorübergehend bin ich hier, passe auf dich auf, aber zwischendurch muss ich dich zurücklassen, weil ich arbeiten muss. Und ich möchte nicht, dass du in dieser Zeit das Zimmer verlässt.«
Wie auch? Er sperrt mich ein.
»Du wirst essen und trinken. Damit du keine Langeweile bekommst, bringe ich dir alles, was du brauchst.«
Stirnrunzelnd mustere ich ihn, suche weiterhin die unheilvolle Bestrafung für das Nichteinhalten dieser Regel. Ich finde sie nur nicht.
»Nein, du bekommst kein Handy, keinen Laptop und auch kein Tablet. Ich dachte an Bücher.«
»Warum nicht?«, flüstere ich, weil er mir damit zeigt, wie stark ich von der Zivilisation entfernt bin. Er ermöglicht mir nicht den Kontakt zur Außenwelt. Schon beim Wort ›Handy‹ denke ich an meine Mutter, die sich bestimmt sorgt.
»Du brauchst das nicht, um gesund zu werden. Ich kümmere mich um alles.«
»Aber meine Mutter …«
»Deine Mutter weiß, dass es dir gutgeht, ich habe sie bereits informiert.«
Das löst warnende Skepsis aus. Denn wie sollte er das tun? Er kennt sie nicht, weiß nichts von mir, wie hätte er ihr das mitteilen können?
»Denk nicht so viel nach, Rose.« Damit haucht er einen Kuss auf meinen blanken Kopf und steht auf, um gleich darauf das Zimmer zu verlassen und mich wieder einzusperren.
Das ist nicht merkwürdig, sondern verstörend.
Was geht hier vor? Wie kann er meine Mutter kontaktieren?
Und wann hat er das getan?