Rose
Mit dem Messer in der Hand sitze ich in der Mitte des Bettes und streiche über das glänzende Metall.
Es wäre so unkompliziert und eigentlich auch nicht, weil die Klinge eindeutig zu stumpf ist.
Mein Daumen streicht über die Schneide, drückt dagegen und nichts passiert. Ich müsste sehr viel Kraft aufwenden, um überhaupt die Haut zu verletzen. Ich sehe es bereits vor mir, wie ich die Klinge mit aller Gewalt ins Fleisch presse, bis das Blut aus der Wunde fließt und ich weiter gegen den brennenden Schmerz in meinen Arm schneide. Nur, um das Ganze zu beenden.
Erschrocken von mir selbst schmeiße ich es weg und stehe auf. Immer wieder streiche ich über den stoppligen Kopf und reibe darüber. Kann kaum fassen, welche Gedanken mich überfallen haben.
Vicco, so miserabel geht es mir nicht. Er ist gut zu mir, drängt mich zu nichts und ist da, wenn ich traurig bin. Er schickt mir keine Männer ins Zimmer, verlangt auch nicht, dass ich mit jemandem schlafen muss, um diese ekelhaften Fantasien zu erfüllen, von denen ihre eigenen Frauen wahrscheinlich nichts wissen. Ich lebe. Zwar weggesperrt, aber mich hätte es auch schlimmer treffen können. Dieser Raum ist wunderschön, ich bekomme ausreichend frische Luft, darf draußen die Schönheit betrachten und empfinde keinen Schmerz, der mich an meine Grenzen bringt. Ich merke schon selbst, wie ich mich anstelle. Er hat mich befreit und will mich schützen. Deswegen bin ich hier und er tut alles, damit ich mich nicht wie eine Gefangene fühle. Behütet mich wie einen kostbaren Schatz. Oder ist es genau das, Vicco, was die armen Schweinchen im Käfig auch denken? Sie dürfen die Sonne sehen und frische Luft riechen, aber raus dürfen sie nicht, bis sie zur Schlachtbank geführt werden. Denken, es ginge ihnen gut, nur weil man sie eben nicht verletzt und ihnen Essen gibt. Ist es das, Vicco? Oder ist es anders? Aber ich habe nur das hier.
Ich sollte das annehmen, Vicco, und diesen verletzlichen Teil, der sich nach dir sehnt und dir so viele Fragen stellen will, loslassen. Und ich sollte vergessen, dass es uns gab. Nur kann ich es nicht. Noch immer.
Es ist Abend, als er ins Zimmer kommt, und ich warte bereits im Nachtkleid auf dem Bett. Er hält einen großen, runden Geschenkkarton in der Hand und nickt mir zu, weswegen ich aufstehe.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er reicht mir das Paket.
Nervös und zugleich freudig überrascht stelle ich es aufs Bett und hebe mit keinerlei Erwartung den Deckel ab. Verwundert starre ich auf blondes Haar und traue mir keine Reaktion zu. Welche auch, Vicco? Soll ich mich freuen? Er kommt mir zuvor und delegiert mich zum Schminktisch auf den Stuhl.
»Es ist nicht deins, aber es ist Echthaar«, erklärt er unnötigerweise und stellt sich hinter mich. Ich sehe nicht in den Spiegel, sondern nur zu ihm, wie er sich kurz herunterbeugt und mit etwas Hautfarbenem wieder in meinem Blickfeld erscheint. Ohne mich zu fragen oder eine Reaktion abzuwarten, stülpt er mir eine Art dünne Haube über den Kopf und kurz darauf die blonde Perücke.
»So, jetzt siehst du wieder hübsch aus.« Daraufhin schaue ich zu meinem Spiegelbild und erschrecke mich. Haare wie meine fallen mir mit süßen Löckchen an den Spitzen vom Kopf über die Schultern. Es sieht aus wie ich. Ein anderes Ich. Eins, was ich schon lange nicht mehr bin. Wie Rixa, Vicco. Im Spiegel erkenne ich fast ihr herabgehungertes, vernarbtes Gesicht. Das könnte tatsächlich ich sein. Ich, wie ich einmal aussah, als die Welt noch mein Freund war. Als ich dich kennengelernt habe und an deiner Seite eine andere Form des Glücks erfahren durfte. Und leider auch die Wahrheit erkannte. Die grausame, brutale und ekelerregende Wirklichkeit. Schlagartig durchfährt mich die Erinnerung, ich höre die Haarschneidemaschine und Ginos Stimme. Mit einem Schlag springe ich auf, reiße mir die Perücke vom Kopf und reibe mir die Eiseskälte von den Armen, die mich schmerzhaft überkommt.
»Was hast du denn?«, hört er sich genervt an. Er steht da, mit verschränkten Armen und einem ungläubigen Blick, der verächtlich wird.
»S-ie … ich w-eiß … n-icht«, stottere ich und traue mich auch nicht zu sagen, was in mich gefahren ist.
»Drück dich klar aus, Rose!«
»S-ie … S-ie … Sie tut mir weh«, entscheide ich mich für eine Halbwahrheit.
»Du hattest sie drei Sekunden auf. Willst du denn nicht wieder hübsch sein?«
»Ich bin das nicht.«
»Nein. Sieh dich doch an, Rose. Du siehst nicht so aus, wie ich dich kennengelernt habe. Siehst aus wie ein Haufen Elend. Kannst du dich überhaupt im Spiegel betrachten?«
»Nein«, gebe ich zu und senke den Kopf.
»Sieh mich gefälligst an, Rose!«
Bei seinem barschen Tonfall leiste ich Folge.
»Ich will, dass du die Perücke trägst. Dein Anblick hält doch niemand aus. Über Nacht nicht. Aber morgens ziehst du sie an.«
Zwar gebe ich ihm recht, ertrage selbst nicht den Anblick meines Spiegelbilds, aber die Angst, was dieses Haar in mir auslöst, lässt mich wimmern und mich zur Wehr setzen.
»Ich kann nicht.«
»Jetzt heul nicht rum, Rose. Das ist doch das Beste für dich und dein Selbstbewusstsein. Willst du dir jeden Tag ansehen, was man mit dir gemacht hat?« Vicco, ich verstehe ihn ja. Dieses Leid muss ich nicht sehen. Die Perücke jedoch ist nicht die Lösung. Sie zeigt mir nämlich, was ich einmal war und nie mehr sein werde. Und war er es nicht, der von mir verlangte, mich meinen Ängsten zu stellen? Und nun will er, dass ich mich vor mir selbst verstecke? Ich kann jedoch nachvollziehen, dass er mich nicht so sehen will, wie ich bin.
»Sie juckt«, lüge ich, weil mir kein besseres Argument einfällt, und lege noch einen drauf, als er die falschen Haare aufhebt und auf den Schminktisch legt. »Du hast gesagt, du tust nur das, was ich auch will. Und diese Perücke will ich nicht.« Zu ihm schauend warte ich auf die kommende Strafe, aber er sieht mich nur abschätzig an. Nach einer viel zu schweren Stille, die sich zwischen uns gelegt hat, nickt er kurz.
»Ich meine es nur gut für dich. Wenn du nicht heilen möchtest, ist das deine eigene Schuld.« Damit geht er, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, an mir vorbei ins Bad, um sich für die Nacht zu duschen, wie jeden Abend. Ich hingegen kann ihn verstehen, Vicco. Er meint es nur gut, will, dass ich mich besser fühle. Trotzdem husche ich eher ängstlich ins Bett, direkt unter die Decke, sehe das blonde Haar kein zweites Mal mehr an und wende ihm sogar den Rücken zu, als wäre es ein grauenhafter Autounfall, der mich beim Anblick erschüttern wird.
Mit meinem Verhalten wollte ich ihn nicht kränken. Dieses Zweithaar zu tragen, würde mich dagegen tief entsetzen und ich bin gerade, trotz der kleinen Furcht, stolz, mich für meine Meinung eingesetzt zu haben. Selbst, wenn es eine Lüge war, die mir geholfen hat.