Vicco
Sie ist tot. Celine ist tot und damit auch die Möglichkeit, dich zu finden. Verblutet in der Badewanne, ohne die Spur auf ihren Mörder, was mir egal ist. Wenn mich nicht diese Ahnung beschleicht, dass es mit dir zu tun hat.
Völlig neben mir stehend weiß ich nicht mehr, wie ich von da überhaupt weggefahren bin. An nichts kann ich mich erinnern. Auch nicht, ob ich geschlafen habe. Falls schon, dann auch nicht, wo. Oder stehe ich die ganze Zeit schon vor dem Haus und habe darauf gewartet, wieder zur Besinnung zu kommen?
Denn ich habe keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, bis zu deinem Elternhaus zu fahren. Ich bin verwirrt von den Ungereimtheiten und das Einzige, was ich weiß, ist, dass der nächste Tag angebrochen ist. Und dass ich die Leiche von Celine in ihrem Hotelzimmer aufgefunden habe. Schwer schluckend steige ich aus, will mich ungern deiner Mutter stellen und sie nötigen, mir Informationen preiszugeben.
Meine fehlende Erinnerung ist mir egal, denn das, was mir wichtig ist, bist du.
Dich muss ich finden. Also gehe ich mit entschlossenen Schritten auf die Haustür zu und ohrfeige mich, nicht schon früher gekommen zu sein. Du weißt, warum. Bestimmt. Denn obwohl deine Mutter naiv ist, gibt sie mir die Schuld für dein Verschwinden, weil ich ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt habe. Nun hoffe ich darauf, dass du dich ihrer kleinen, vernachlässigten Verbindung nicht entziehen konntest und dich bei ihr gemeldet hast. Bete sogar, dass sie es mir mitteilt.
Ich klopfe, anstatt zu klingeln.
Warte, anstatt die Tür einzutreten.
Hoffe, anstatt zurückzuweichen.
Sie öffnet die Tür, sieht mich und stürzt plötzlich wie eine Walküre auf mich zu. Sie schlägt brüllend auf mich ein, sodass ich einen Schritt zurückmachen muss und kein Wort von ihrem Geschrei verstehe. Sie trifft mich so oft im Gesicht, dass ich mein eigenes Blut schmecke und die Kontrolle verliere. Ich sehe rot. Fast.
Aber dann auch dich, Rose. Weil sie dir so ähnlich ist. Ich schaffe es, mich soweit zu kontrollieren, um ihre Arme zu packen und sie auf ihren Rücken zu fixieren, bevor ich sie aus Zorn zurückschlage.
Sie brüllt irgendein Gemisch aus Wut und Verzweiflung. Trauer und verlorener Hoffnung. Ihre Worte verstehe ich kaum, so gefühlsgeladen ist sie. Verständlich. Du hast sie verlassen. Nur mich eben auch.
Rose, bevor ich auf sie eingehe, muss ich mich beruhigen. Also drücke ich sie zum Gehen ins Haus. Ihr Gebrüll schalte ich ab, hole mir dein Gesicht vor Augen und wie der Ausdruck in deinen mich in die Schranken verweist. So stark sehne ich mich nach dir, dass ich nicht wie sonst die Augen verdrehe, sondern schmunzeln muss.
Während ich ihre Arme auf dem Rücken halte, schubse ich sie durchs Haus direkt ins Wohnzimmer.
Wutgeladen dreht sie sich um, will mich erneut attackieren, da ziehe ich die Knarre und richte sie auf deine Mutter. Du wirst mich dafür sicher hassen, aber du weißt, dass ich niemals abdrücken würde. Diese Information hat dein älteres Ebenbild nicht, weshalb jegliche Farbe aus ihrem Gesicht das Weite sucht. Mit dem Fuß trete ich die Tür zu. Dann betrachte ich ihren verheulten und weniger schönen Anblick, welcher eingefallen ist. Ihre Augen sind angeschwollen, als hätte sie Tage durchgeheult, was mich nichts Angenehmes ahnen lässt. Deine Mutter zittert und ich weiß nicht, ob es an der Waffe liegt, die noch immer auf ihren Kopf gerichtet ist, oder aus anderen Gründen. Ich will ihr keine Angst machen, Rose. Allerdings muss ich herausfinden, wo du bist. Wiederum sieht deine Mutter so fertig aus, dass ich nicht daran glaube, mehr Informationen aus ihr zu bekommen.
»Was hat sie getan?«, flüstert sie und ich runzle die Stirn. Dann kreischt sie:
»Was hat mein Sonnenschein getan, dass sie sterben musste?«
Sterben?
Nein!
Nein, das ist nicht möglich.
»Sag es mir!« Sie kommt auf mich zu, ich packe die Waffe weg und suche in ihren verheulten Augen die Antwort. Steif stehe ich da, als sie weinend vor mir steht und auf meine Brust hämmert.
»Warum hast du das getan?« Was meint sie? Fragt sie, weil ich behauptet habe, dass du wegen mir die Stadt verlassen hast? Hast du mit ihr gesprochen und sie weiß vom Pearl? Oder von dem Fick mit Celine? Oder ist es dieses Wort, welches im Zusammenhang mit dir einfach nicht passt.
›Sterben‹.
Du bist nicht tot!
Nein, nein, NEIN!
Ich packe sie an den Armen, drücke sie von mir und sehe in ihr Gesicht.
»Wo ist sie?«
»Wo?«, kreischt sie irre, dass ich sie erschrocken freigebe und zurückweiche.
»Wo ist Rose?«, wiederhole ich und sie schüttelt den Kopf.
»Willst du noch auf ihr Grab pissen? Bist du hier, um mich auch zu erledigen?«
Rose, was quatscht sie da?
Mein Puls steigt an. Es wird immer schwerer, mich zu beherrschen. Deine Mutter tritt zurück, gleichzeitig stieren mich ihre Augen an, bereit, mich qualvoll zu töten. Ich erlaube ihr diesen Abstand. Vielleicht hilft es ihr, mir die Fragen direkt beantworten zu können.
»Bitte sag mir einfach, wo …« Ich stoppe meine Worte. Denn sie greift nach dem Telefon und einer Visitenkarte. Irgendwas in mir ahnt, dass sie nicht dich anrufen wird.
Also mache ich einen Satz auf sie zu und entreiße ihr Telefon und Karte.
Deine Mutter schreit, schlägt wieder nach mir, daher schubse ich sie weg, sodass sie in den Sessel fällt, und ich schaue mir die Karte an.
Kreispolizeibehörde. Mordkommission. Ludwig Weber.
Was zum Teufel?
»Warum wolltest du die Mordkommission anrufen und woher hast du die Karte?«
Deine Mutter beginnt zu heulen und schlägt die Hände vors Gesicht.
»Sag schon!«, brülle ich und am liebsten will ich die Antworten aus ihr herausprügeln, Rose. Ich scheiß auf Frauen, aber eben nicht auf dich. Deswegen würde ich deiner Mutter nie etwas antun.
Ich liebe dich.
Daher halte ich Abstand. Um unser beider Willen.
Sie sieht schluchzend auf und ich sehe ihre Tränen hinunterkullern, dass mein Herz schwer wird. Rose, ich bekomme Angst. Um dich. Deine Mutter so zu sehen, bringt mich um, lässt Schlimmes erahnen und meinen Mund trocken werden, als sie wieder ganz ruhig krächzt: »Du bist ein Dealer, oder?«
Nicht ganz, aber das würde zu lange dauern, um es zu erklären. Also nicke ich, Rose. Es gibt keinen Grund, sie anzulügen oder etwas klarer zu erläutern. Vielleicht bekomme ich so auch meine Antworten.
»Du nimmst auch Drogen, richtig?«
Wieder nicke ich.
»Bist du deswegen hier?«
»Ich bin hier, damit du mir sagt, wo ich Rose finden kann.«
»Du meinst ihre Leiche, oder bist du gerade high?«
Eine kalte Hand legt sich um mein Herz und ich hole Luft. Drücke die Angst, dass dir konkret etwas zugestoßen ist, beiseite und knurre mit zusammengepresstem Kiefer. »Sie ist nicht tot. Und ich bin nicht high.«
Beim Letzteren bin ich mir nicht mehr so sicher, da meine Gedächtnislücke mir zu gegenwärtig ist. Aber das muss sie nicht wissen.
»Dann warst du high, als du sie erschossen hast?« Sie sieht mich angewidert und voller Hass an. Da ich mir absolut sicher bin, dich nicht abgeknallt zu haben, reibe ich mir mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und grolle erneut:
»Ich habe sie nicht angerührt, wie kommst du auf so einen Scheiß?«
»Wie?«, krächzt sie nun und wird hysterisch, wie du immer, wenn ich oder jemand anderes etwas sagt, was dir nicht passt, und wedelt mit ihren Armen.
»Wie? Vielleicht, weil die Polizei zu mir kam und mich mitgenommen hat. Ich durfte die halb verkohlte Leiche meiner Tochter identifizieren. Mit einer Schusswunde im Kopf!« Erneut beginnt sie zu heulen, während ich versuche, ihre Worte zusammenzusetzen.
»Sie ist tot! Mein Sonnenschein ist tot!«
Das … das kann nicht sein …
Es gibt keinen Grund, warum sie lügen sollte. Mein Verstand weiß es, als dieser die Situation wie ein Puzzle zusammensetzt. Das Verhalten deiner Mutter, die endlose Trauer und die vielen Tränen. Der Hass und die Wut in ihrem ganzen Körper.
Selbst meiner begreift ihre Worte, Rose. Er gibt nach. Verliert an Kraft und beginnt, in jeder Faser zu schmerzen. Tränen füllen meine Augen und rollen die fahle Haut hinab. Aber mein Herz, Rose. Mein Herz kann es nicht glauben. Vertraut nicht auf diese Worte, als ich apathisch zu Boden sinke.
Denn das darf nicht wahr sein.
Du kannst nicht tot sein.
Mein Herz ist der einzige Teil, der darin keinen Sinn sieht. Zumal du mit einem Gast abgehauen und nicht gestorben bist, als ich da war und das Pearl in Flammen gesetzt habe. Du warst weg und bist nicht tot.
Am Boden sitzend setzt mein Verstand weitere Teile zusammen.
Die große Frage … Habe ich wirklich jeden Raum durchsucht, bevor ich gegangen bin?
Nein.
Könnte es möglich sein, dass du in einem anderen Raum warst?
Ja.
Bestand die Möglichkeit, dass man dich wegen mir getötet hat?
Leider ja.
Mir ist heiß und kalt zugleich. Ich sehe dich wie in Zeitraffer vor Augen. Dein Lachen. Deinen Schmollmund. Deine Küsse. Sehe vor mir, wie du mich mit diesen grünen Glubschern anstrahlst und auch, wie du mich wütend anstierst. Spüre sogar deine Haut an meiner, während ich auf dem Boden knie, und kann deinen Blumenduft riechen. Fühle sogar, wie du mich umarmst und deine Stirn in meine Halsbeuge drückst.
Höre deine Stimme. Deine samtweiche unschuldige Stimme.
›Ich liebe dich, Vicco.‹
»Warum hast du Rixa erschossen?«
Bei ihren Worten schaue ich sie an.
»Habe ich nicht«, flüstere ich. Könnte ich auch niemals. Du bist alles, was ich jemals wollte, Rose. Mein Blick klärt sich, aber ich sehe durch die Tränen nur verschwommen.
»Doch. Die Polizei hat gesagt, du wärst derjenige, der zuletzt lebend diesen Club verlassen hat. Leute haben gesehen, wie du das Haus angezündet hast.«
»Ich habe sie nicht …«
»Du hast sie dahin gebracht, richtig? Du hast sie dort gefangen gehalten, oder? Sie wurde missbraucht, Vicco. Wieso hast du das meinem Mädchen angetan?«
»Sie wurde nicht missbraucht«, sage ich atemlos und weiß es eigentlich doch nicht. Kann ich mich da auf das Wort meines Vaters verlassen? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich noch denken soll.
»Wurde sie. Der Gerichtsmediziner hat keinen Grund, zu lügen. Du hast sie zu einer Bordsteinschwalbe gemacht. Hast du sie erschossen, weil sie sich gewehrt hat? Sag es mir. Warum musste mein Baby sterben?«
»Sie wurde nicht missbraucht und sie lebt noch.«
Deine Mutter schüttelt fassungslos den Kopf und zittert. Erneut verfällt sie in Tränen und ich sitze da und kann es nicht glauben. Nein, ich will
ihren Worten, ihrer Haltung, nicht vertrauen. Es darf nicht sein, Rose. Du lebst.
Das hier ist nur ein Fantasiegebilde, eine Täuschung. Sonst hätte Vater davon gewusst und es mir gesagt. Immerhin fickt er sie.
Es muss so sein.
Sie lügt.
Doch die stählerne Faust um mein Herz drückt sich zu, ich bekomme kaum noch Luft und tief in mir weiß ich, dass deine Mutter sich nicht so verhalten würde, wenn es nicht wahr wäre. Dieser dumpfe Schmerz, der durch mich hindurchgeht, ist brutal, eisern und fegt mich an einen anderen Ort. Dorthin, wo du bist.
Dorthin, wo du meine Frau bist. Die meine.
Rose, ich kann nicht ohne dich sein, das weißt du, also bitte ich dich im Geiste, mich nicht für immer verlassen zu haben. Darum, dass du dich nur vor mir versteckst, weil du mich so sehr hasst, aber bitte sei nicht tot, weil ich das niemals ertragen könnte. Unmöglich könnte ich weiterleben, wenn du nicht an meiner Seite stehst.
Rose, ich liebe dich zu sehr, als dass du einfach gehen kannst.
»Waldfriedhof«, höre ich aus weiter Ferne. Ich schaue auf und da steht sie. Dein älteres Abbild. Die Frau, die dich zur Welt gebracht hat und der ich für dieses Geschenk auf ewig dankbar sein sollte … nur hasse ich sie gerade jetzt.
Sie hebt das Telefon auf, welches ich habe fallen lassen und hält ihre offene Hand hin. »Die Karte.«
Kalte Trauer lässt ihre hasserfüllte Stimme noch härter wirken. Dennoch starre ich nur auf das kleine, weiße Papier in meiner Faust.
Rose, ich will das nicht akzeptieren. Es geht nicht.
Du darfst nicht fortgegangen sein. Nicht so.
Also stehe ich schweigend auf und verlasse das Haus. Deine Mutter brüllt mir etwas hinterher, aber ich ignoriere es. Mit der Visitenkarte dieses Bullens in der Hand steige ich in mein Auto. Mit quietschenden Reifen fahre ich los.
Waldfriedhof.