Rose
Der Wind peitscht mir brutal ins Gesicht und drückt jeden Atemzug wieder zurück. Schweigend lausche ich dem Spott der Freiheit und dem Tadel des Sturms, der mich vom offenen Fenster wegschiebt. Die Sonne geht bereits unter und mein Magen knurrt zur Bestätigung. Er ist wütend und bestraft mich mit dem Entzug seiner Geborgenheit. Ich habe keine Angst vor den Qualen, die mir bevorstehen. Fürchte mich nicht vor seinem brutalen Zorn. Denn ich habe es verdient.
Ich weiß, Vicco. Du siehst das nicht so. Oft hast du zu mir gesagt, dass egal, was ich auch anrichte, niemand das Recht hat, mich zu verletzen. Das hier ist aber etwas anderes.
Und du bist nicht anders.
Du wolltest mich auch treffen, als du mit dieser Frau vor meinen Augen geschlafen hast. Mir Schmerzen zufügen, die niemand mehr heilen kann. Und, Vicco, ich bin auch nicht anders. Durch meine Wut auf dich habe ich rachsüchtig gehandelt, als ich deine Eifersucht heraufbeschwört und wegen Nilas gelogen habe. Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen. Habe ich aber nicht.
Du hättest mich sehen müssen, wie glücklich ich erst war und dann verletzt und wie sehr ich dich gebraucht habe.
Hast du aber nicht.
Das, was jetzt auf mich wartet, habe ich verdient. Er war nämlich immer gut zu mir und ich habe ihn aufs Schmerzlichste verletzt. Er hält mich nicht als seine Sklavin für kranke Sexvorlieben. In einem brutalen Käfig aus Leid war er greifbar und hat mich aufgefangen. Nicht in meinen Träumen, sondern real. Für einen kurzen Augenblick hat er mir den Raum genommen, in dem ich eingesperrt war, und hat mir das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung gegeben. Vicco, er hat mich befreit, nicht du. Zudem hat er mich an diesen schönen Ort gebracht und nichts weiter verlangt, als gesund zu werden und ihn zu lieben.
Er hat es verdient. Du nicht.
Dennoch habe ich an dich gedacht, wo er sich doch so gut angefühlt hat. Ich habe deinen Namen gestöhnt und nicht seinen.
Dafür werde ich jede Strafe hinnehmen.
Trotz des Sturms, der durchs Zimmer wütet, höre ich den Schlüssel ins Türschloss gleiten. Er kommt.
Doch da klingelt sein Handy. Ich schließe die Fenster. Seine dunkle Stimme dringt durch das noch verschlossene Holz und auf Zehenspitzen, als könnte er meine nackten Füße auf dem Teppich hören, falls ich normal ginge, schleiche ich vor, um zu lauschen.
»Nur, damit wir uns verstehen. Ich muss dir keine Rechenschaft ablegen, also was ist los?«
Ich lege das Ohr ans Holz, um besser zu hören, strenge mich sogar an, die Stimme am anderen Ende des Handys zu erahnen.
Sie ist aufgebracht.
Sie?
Eine Frau?
Dann wieder Stille. Spricht sie leiser oder gar nicht?
»Aha, klingt doch gut.« – unhörbar, ok.
»Das hast du toll gemacht. Ich bin stolz auf dich.« Jetzt klingt er so wohlwollend, dass ein beklemmendes Gefühl in mir ausgelöst wird.
»Das hast du geschafft?«
Wieso kann ich sie nicht mehr erfassen?
»Super. Du hast ja ungeahnte Talente.«
Mit wem redet er nur und woher kommt diese Wut in mir? Ich bin verletzt, Vicco, und verstehe nicht, warum. Nur, dass dieses Gespräch mit der Frau mich traurig stimmt. Wahrscheinlich, weil ich dachte, für ihn die Einzige zu sein. Scheinbar nicht. Oder ich steigere mich jetzt in etwas hinein, was nicht da ist, weil ich in diesem Raum gefangen bin und nichts von der Außenwelt mitbekomme.
Wegen der ganzen quälenden Gedanken habe ich fast zu spät mitbekommen, wie er sich verabschiedet, und schaffe es noch rechtzeitig, zum Bett zu sprinten, bevor die Tür aufgeht.
Da steht er. In der offenen Tür und zögert, hineinzukommen.
Er betrachtet mich aufmerksam. Unwissend, was ich nun sagen soll, sitze ich voller Scham auf der Bettkante. Sekunden der Stille vergehen und machen mich nervös.
»Es tut …«, beginne ich.
»Es tut …«, spricht er gleichzeitig.
Synchron wollen wir uns beim anderen entschuldigen und ich schüttle lächelnd den Kopf. »Nein. Mir tut es leid.«
»Doch, Rose. Ich hätte dich nicht schlagen dürfen.« Wie auf Kommando kribbeln meine aufgeplatzte Lippe und die angeschwollene Wange.
Erneut schüttle ich den Kopf.
»Nein. Deine Reaktion war ganz natürlich. Ich hätte Schlimmeres gemacht, wenn du den Namen einer anderen Frau gesagt hättest.«
»Warum solltest du?«, fragt er und ich schaue in sein fragendes Gesicht. Mit einem Tritt nach hinten fällt die Tür ins Schloss und er lässt mich nicht aus seinen Adleraugen, als er näherkommt und ich mir meiner Worte bewusst werde.
»Sag mir, Rose, warum solltest du wütend werden, wenn ich einen anderen Name stöhne als deinen?«
Nervös kaue ich auf der Unterlippe, woraufhin ich das Gesicht verziehe, weil der brennende Schmerz mich durchzieht.
Vor mir bleibt er stehen und geht in die Knie, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
»Also?«
In seinen Iriden erkenne ich die Wahrheit und er mit Sicherheit in meinen die Antwort. Deswegen neige ich den Kopf beschämt hinab. Ich bin eifersüchtig. Dabei möchte ich das nicht sein. Habe auch kein Recht dazu.
»Rose.« Mit den Fingern an meinem Kinn zwingt er mich, ihn anzusehen, und ein fürsorgliches Lächeln strahlt mir entgegen. Nur erreicht es nicht seine Augen. Wahrscheinlich, weil er noch wütend ist.
»Ich weiß, was in dir vorgeht. Dir geht es schlecht, weil es sich nach Betrug anfühlt.«
Betrug?
Da ich nicht weiß, was er meint, schweige ich.
»So heißt er also.« Er verunsichert mich. »Vicco. Der Mann, der dein Herz besitzt.«
Ich weigere mich, mit ihm über dich zu sprechen. Eigentlich will ich noch nicht einmal über dich nachdenken. Du hast genügend Leid verbreitet.
»Ich hatte dir im Pearl gesagt, dass alles, was geschieht, im Raum bleibt. Du musstest dich nicht schlecht fühlen. Aber jetzt stehen die Dinge anders, Rose.«
Pearl. Der Name meiner persönlichen Hölle. Tief in seine Augen schauend schlucke ich hart und versuche, darin zu erkennen, was mich nun erwartet.
»Wo war dein Vicco, als es dir im Pearl schlechtging?«
Du warst nicht da. Bist sogar derjenige, der mich dort hingebracht hat. Das werde ich ihm aber nicht sagen.
»War er bei dir und hat dich vor den anderen Männern beschützt, wie es ein Mann tut?«
Nein. Nur in meinen Träumen warst du bei mir. Er hingegen schon. Er war real.
»Rose, du musst dich entscheiden, ob du lieber einem Schatten nachjagen möchtest, den du nie erreichen wirst, oder ob du beginnst, für dich selbst im Hier und Jetzt zurechtzukommen.«
Seine Worte sind mit dieser bestimmenden Stimme gesprochen, treffen hart auf mich und beinhalten die Wahrheit, die wie ein Geist zwischen uns schwebt.
Die Wahrheit, Vicco.
Die Tatsache ist, dass ich dich loslassen muss, um weitermachen zu können. Dass ich dich vergessen sollte, um den Schmerz zu übergehen. Dass ich dir den Rücken zuwenden sollte, so wie du gegangen bist.
Ein unerträgliches Gewicht legt sich auf meinen Brustkorb, nimmt mir die Luft und das Atmen fällt mir schwer. Vicco, so sehr ich dich auch aus meinem Leben und meinen Gedanken verbannen möchte, es geht nicht. Denn eine Existenz ohne dich wäre nicht lebenswert.
Merkst du, wie kaputt ich bin? Wie krankhaft verrückt ich nach dir bin? All deine Taten lassen sich so leicht ausblenden, wenn ich mich nur an dein Gesicht erinnere, an das dunkle Geräusch, deine gespielt bösartigen Lacher und diesen Vicco-Geruch, der mir allein beim Gedanken eine Gänsehaut verursacht. Ich liebe dich so wahnsinnig, dass ich mich nicht gegen dich entscheiden kann, auch wenn ich es will. Es ist keine Kopfsache, sondern eine Herzensangelegenheit und das Herz triff eigene Entschlüsse. Also was soll ich tun? Was, Vicco, soll ich ohne dich in diesem Leben?
Habe ich nicht genug ertragen müssen?
Innerlich stehe ich wieder vor einem Scheideweg.
Leben oder Tod.
»Oder es liegt an dem Raum?« Diese Worte holen mich aus meinen melancholischen Gedanken. »Vielleicht musst du auch einfach nur mal raus an die frische Luft, um den Kopf frei zu bekommen.«
Unvorstellbar. Die Freiheit? Ohne ein Mauerwerk oder Gitterstäbe zwischen uns?
»Komm.« Er steht auf und zieht mich mit sich hoch. Barfuß trotte ich ihm hinterher.
Direkt aus dem Zimmer.
Vicco, es ist sein Ernst. Wir verlassen den Raum.
Dort erstreckt sich ein kleiner Flur, auch mit hohen Wänden, wie in einem Herrenhaus. Es wirkt spärlich, weil ich hier nur eine weitere Tür erkenne, und dennoch so mächtig. Er steuert eine Treppe mit breiten Stufen an, die er mich hinunterzieht. Selbst hier ist weicher, heller Teppich ausgelegt.
Mein erster Gedanke: Wie hält man das bitte so sauber?
Verrückt, Vicco. Abertausend Eindrücke prallen auf mich ein. Denn hier sind die Decken noch höher und heller und am Ende der Treppe wartet ein großer, runder Flur auf mich. Hier ist so viel Platz.
Mein zweiter Gedanke: Wie lustig es doch wäre, auf dem Parkett im unteren Bereich mit Inlineskates zufahren. Vicco, es ist so groß.
Die Kälte des Bodens trifft meine Füße und ich zucke noch nicht einmal. Zu sehr bin ich auf die Umgebung fixiert. Gemeinsam gehen wir an einer Wohnküche vorbei, in die ich nur einen Blick erhaschen konnte. Schließlich durchqueren wir einen Wohnbereich mit offenem Kamin. Es wirkt, als wären nur die nötigsten Räume vorhanden, aber es ist so großflächig, dass man hätte 10 Zimmer daraus bauen können.
Er steuert eine große Glasschiebetür an und schaut über die Schulter nach hinten.
»Warte, ich gehe noch mal hoch. Es ist recht kühl und du hast nichts an den Füßen.« Er lässt mich los und sogleich halte ich ihn am Arm zurück. Lächelnd schüttele ich den Kopf und ziehe ihn zur Tür. Ich will sie öffnen, doch es tut sich nichts. Er steht hinter mir und an meiner Körperseite vorbei streckt er den Arm aus und schließt sie auf. Die Wärme, die bei seiner plötzlichen Nähe auf mich übergeht, steigert die Euphorie, endlich die Ungezwungenheit zu spüren.
Schließlich schiebe ich mit ihm gemeinsam die Tür auf und bleibe wie erstarrt stehen.
Da ist sie, Vicco. Die Freiheit.
Sie ist da. So greifbar. Und ich kann mich nicht bewegen.
Wie viele Tage bin ich eingesperrt?
Ich weiß es nicht, aber die Beklommenheit tauscht ihren Platz mit dem Glücksgefühl. Ich kann mich nicht rühren.
»Angst?«, haucht er mir ins Ohr und es tut fast weh, dass er meine Gefühle erkennt. »Solltest du auch haben, Rose. Die Welt da draußen ist nicht so schön, wie du denkst. Sie ist voller Härte, brutal und gefährlich.«
Darüber dachte ich einmal anders. Glaubte an das Gute und daran, dass es Bösewichte nur in Filmen gibt. War sogar überzeugt, dass die wenigen bösen Menschen unter uns nur so sind, weil sie kaum Liebe erfahren haben. So wie meine Mutter nie Zeit hatte, mir diese zu geben. Man hätte sie allesamt mit Innigkeit retten können. So wie du mich gerettet hast, Vicco. Deine Liebe hat in mir alles verändert.
Leider auch zum Schlechteren.
Denn letztlich weiß ich nun, dass deine Liebe mir die Augen geöffnet hat. Dein Hass mir die Boshaftigkeit gezeigt hat. Deine Eifersucht mein Herz zerbrochen hat.
Ja, die Welt besteht aus geheimen, ekelerregenden Fantasien, die an Frauen ausgeübt werden. Dabei ist es ihnen egal, ob diese schutzlosen Seelen ausgebeutet werden. Das Böse bewohnt die Erde und das Gute stirbt mit jeder dieser Taten.
Mein Ziel ist da draußen, obwohl es mir hier bei ihm so gutgeht, ich seinen Schutz genieße und mir nichts mehr passiert?
Bedeutet Freiheit also auch Schmerz?
»Ich bin bei dir, Rose«, er flüstert wohlwollend, dass es mein Herz erwärmt. Denn ja, Vicco. Er ist bei mir. Ich strecke meine Hand nach hinten. Als ich seine finde, verschränke ich unsere Finger miteinander und traue mich. Ich wage einen Schritt hinaus in die quälende Freiheit. Da, wo das Übel an jeder Ecke lauert, lächelt, obwohl dort grausame Schandtaten verborgen sind. Langsam setze ich den Fuß auf das kalte Pflaster der Terrasse, rieche den Wald, die Feuchtigkeit und spüre den Wind im Gesicht und auf der nackten Haut am Kopf. Ich friere nicht, ängstige mich nur.
Doch er ist da und macht mich mutig, also trete ich mit dem zweiten Fuß in die Freiheit, vor der ich mich nun fürchte, da sie mir ebenfalls etwas vorlügt. Sie täuscht Glück und Liebe vor. Dabei ist sie erbarmungslos, weil jeder Bösewicht seinen Platz dort findet.
Da stehe ich. Der Sturm ebbt ab und ich spüre nur zwischendurch den Wind über die Haut fegen. Ich könnte die Beine in die Hand nehmen, Vicco. Könnte davonlaufen.
Aber wohin?
Soll ich zu meiner Mutter rennen, die mich nicht erkennen würde, so wie ich aussehe? Zu dir flüchten, wo du mich doch schon längst aufgegeben hast? Mir eine eigene Wohnung ohne Geld suchen? Wieder die Schule besuchen, so kaputt wie ich bin?
Ich habe keinen Platz, Vicco.
Stocksteif stehe ich da, sollte genießen, was sich vor mir erstreckt. Die Bäume, das nasse Grün der Wiese und die Unendlichkeit. Dabei kommen mir aber die Tränen.
Von hinten schließt er die Arme um meine Körpermitte und drückt mich an sich.
»Bei mir bist du sicher, also warum so angespannt, kleine Rose?«
Als wüsste ich es nicht, zucke ich mit den Schultern.
»Du hast dir doch gewünscht, hier draußen zu stehen, oder?«
Ich nicke den Kopf, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
»Wo liegt das Problem?«
Wieder zucke ich die Schultern, obwohl ich es genau weiß. Tränen rollen mir die Wange runter. Vicco, ich fühle mich so schwach. Ausgebrannt. Leer. Unbedacht drehe ich mich um, schließe die Arme um seinen Hals und schluchzte.
Ich brauche Sicherheit, Vicco. Jemanden, der mich auffängt, weil ich so allein bin.
Und er ist da.
Er hält mich, drückt meinen Körper an seinen und erlaubt mir, zu weinen.