Vicco
»Es ist nicht so schwer, mein Sohn. Sich selbst zu kontrollieren. Seinen Jähzorn zu unterdrücken, um diese Situation klarer zu sehen, gehört zum Erwachsenwerden dazu.« Ich höre seine Worte unter einem Dröhnen in meinem Ohr. Nach so vielen Tagen bin ich nicht mehr sauer auf ihn. Hasse ihn nicht mehr. Seine Lehre verstehe und spüre ich durch jeden zuckenden Muskel. Schon vor Stunden lief der Urin mein Bein entlang. Vor Schweiß und reflexartigen Tränen kann ich ihn nicht mehr sehen. Das Zucken der Muskeln ist ein schmerzhafter Tanz, den ich schon lange weiß, zu ertragen. Es ist mittlerweile eine erdrückende Schwerelosigkeit. Ein Nebel, der sich um mich schlingt und mich zerquetscht, dem ich aber auch nicht entkommen kann. Ein Raum zwischen tot und lebendig. Angst habe ich keine. Denn er, mein Vater, kann mir jeder Zeit den Schmerz nehmen.
»Also sag mir, Vicco. Wer ist dein Retter? Wer kann dir die größten Schmerzen bescheren und sie dir auch sofort wieder nehmen?«
»Du, Papa«, flüstere ich dünn.
»Bist du ein Baby?«
»Nein.« Ich schlucke, weiß, was er von mir hören will, und berichtige mich. »Vater. Du, Vater, bist der Einzige, der über mein Glück und Leid entscheidet«, sage ich den Satz, der mir immer und wieder im Kopf geistert.
»Genau, Sohn. Du bist noch jung. Aber du darfst nie vergessen. Und wie macht man das am besten?«
»Durch unvergesslichen Schmerz.«
Nach vielen Jahren sitze ich wieder in diesem Raum fest, spüre wie damals mein Leid nicht mehr, nur, wie der Urin sich in die gereizte Haut ins Fleisch frisst. Der täglichen Fütterung zum Trotz will ich, dass er es beendet. Ich habe alles, was mir lieb ist, verloren. Dich, Rose. Tagein, tagaus das Gleiche: Elektrische Schläge, die durch meinen Körper fahren, essen und mit der Kaltdusche gereinigt werden. Ich lebe. Allerdings gegen meine Entscheidung. Mein Vater will mich wieder umerziehen, wie damals. Doch diesmal ist es nicht der Zorn, der Besitz von mir ergriffen hat, sondern die Wanderung zwischen Realität und Fiktion. Wahrnehmung und Täuschung. Was ist wahr, was falsch? Und letztlich ist es mir egal, wenn ich Qualen erleide und bewusstlos werde. Ich sehne die Schwärze sogar herbei. Denn ich warte auf den Punkt, wo um mich herum alles dunkel wird und du in meine Arme fällst. Ich will nur zu dir, Rose. Die Schmerzen sind mir egal, Hauptsache, sie übernehmen das Entscheidende, den Tod.
Die Stahltür öffnet sich und mein Vater kommt herein. Die Tür ist nie verschlossen und trotzdem flieht niemand aus dem Kerker. Niemand, der einmal hier auf diesem Stuhl voller Kabel gesessen hat. Niemand, der nackt, nur in Shorts bekleidet, dem Strom, der Kälte und der Abhängigkeit ausgeliefert war. Es ist fast verstörend, dass er mein Vater ist, Rose, und gerade bin ich froh, dass du ihn nie kennenlernen wirst. Ihn, den einzigen Menschen, dem ich mehr traue als dir.
Er schmeißt eine Papierakte vor meine nackten Füße.
»Weißt du, was das ist, Vicco?«
Ich schüttle demütig den Kopf, so wie er es als Kind schon von mir verlangt hat.
»Bist du bereit für die Wahrheit? Oder brauchst du noch mehr, um dich von deinem Zorn zu lösen?«
Ich bin nicht zornig, Rose. Ich bin traurig, weil du nicht leben darfst. Also nicke ich.
»In diesen Papieren steht alles drin. Dass Gino lebt, du Rose mit der Waffe getötet hast, die du dabei hattest, als du zu mir gekommen bist. Und, dass du Celine getötet hast. Du bist der Einzige, der laut den Kameras im Hotel in ihrem Zimmer war. Davor war sie am Leben. Fotos sind alle in dieser Akte. Soll ich sie dir zeigen?«
Ich schüttele den Kopf.
Rose, körperliche Schmerzen sind eine Sache. Sie sind da, du kannst sie kaum ertragen, aber irgendwann gewöhnt sich dein Körper daran. So, dass es dich nicht tötet. Aber seine Worte. Die Tatsache, dass du tot bist und ich dein Mörder sein soll … Es frisst mich innerlich auf. Es ist ein Schmerz, der meine Seele erdrückt, während das Herz in tausend Einzelteile zerspringt und die Scherben sich in deiner Lunge verteilen. Kein Blut. Keine Luft. Einfach nur tot. Uneigentlich doch nicht.
Rose, wir Menschen können viele Schmerzen bewältigen, aber ich kann nicht ertragen, dass du nicht mehr da bist. Es will mir nicht in den Kopf, dass ich der Grund dafür bin. Jedenfalls scheint es so.
Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, wie es sein kann, dass ausgerechnet ich es war. Aber dazu muss ich qualvoller dahinscheiden als jetzt und sterbe dennoch nicht. Will einfach nur zu dir, obwohl ich das nicht verdient habe.
»Heulst du jetzt wieder wie ein kleines Mädchen? Hast du es immer noch nicht begriffen? Dieses Mädchen hat dir den Kopf zerstört!«
Ich schweige, da er es ja doch nicht verstehen kann. Aber ich habe dich mir selbst genommen. Du warst das nicht freiwillig.
»Vicco, hör auf damit. Du brauchst nur mich und nicht irgendein Mädchen.«
Ich brauche nur dich, Rose. Nur dich.
»Glaubst mir nicht, Vicco?«
»Ich liebe sie, Vater«, flüstere ich.
»Mein Sohn, wann kam der Punkt, an dem du mir nicht mehr vertraut hast? Habe ich dir nicht schon von Anfang an beigebracht, wozu Frauen fähig sind? Was sie aus unserem Geist, Stolz und Verstand machen? Warum hast du das nur zugelassen? Sieh dich an.« Er spuckt mir angewidert vor die Füße. »Ich musste deine Geschäfte übernehmen. Dir ist dein hart erkämpftes Leben aus den Fingern entglitten und jetzt sitzt du hier und trauerst diesem Mädchen immer noch hinterher, obwohl du sie selbst getötet hast? Merkst du, wie psychotisch sie dich macht?«
Ja, ich bin wahnsinnig. Aber nach
dir, nicht wegen
dir.
»Schluss damit. Du bist mein Sohn und ich lasse nicht zu, dass sie dich zerstört.«
Ich bin es schon, Rose, und du hast keine Schuld daran. Du bist eine unschuldige, unberührte Rose, die ich in meiner brutalen Hand zerquetscht habe.
Auf einem Ohr höre ich mit, dass mein Vater nach Leon ruft. Sein Mitarbeiter für den Strom. Und ich weiß, was mich erwartet. Ich werde schreien, Rose, weil es ein Reflex ist. Meine Glieder und jede Faser meiner Muskulatur werden zusammenkrampfen, bis ich das Gefühl bekomme, zu zerreißen. Meine Organe werden zu einem Knäuel voller Qualen. Aber all das, Rose, wird nicht genug sein, um endlich zu gehen, um dich wiederzusehen. Also werde ich dich in meine Gedanken holen, mich der Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit bewusst werden lassen, weil ich dich so sehr vermisse, dass ich diesen Schmerz kaum ertrage. Daran werde ich letztlich sterben, das weiß ich, Rose.
Meine Liebe zu dir war von Anfang an unser Tod.
Ich wusste es und habe es dennoch nicht verhindert. Denn ich dachte wirklich, ich könnte für dich zu einem besseren Menschen werden. Könnte dir sogar all das geben, was du brauchst, um das schönste Leben auf Erden zu haben. Mir reichte nur die Tatsache, dass du an meiner Seite bist.
Jetzt bist du weg. Nicht mehr da. Dir wurde die Möglichkeit, zu heiraten, Kinder zu kriegen und älter zu werden, entrissen. Von mir.
Leon soll ruhig kommen, Rose. Denn die Stromschläge werden nicht reichen, um das gutzumachen, was ich dir genommen habe.