Rose
Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich Viktor kennengelernt habe? Was er im Pearl in mir ausgelöst hat und welche Worte er verwendet hat?
›Ich werde nichts tun, was du nicht auch möchtest.‹
Auf dem Bett sitzend lausche ich in die Stille. Viccos Rufe haben aufgehört, deswegen ahne ich, dass Viktor gleich kommen wird. Verrückt – unser Verstand, wie sehr er sich an Zeiten gewöhnen kann, dass sich die Halluzinationen dem anpassen, oder? Eine Angewohnheit, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Eine Routine, die mein Wille noch nicht einmal infrage stellt.
Morgens klingelt sein Wecker und ich stehe auf, befriedige ihn oral, als wäre es täglich ein stummer Befehl. Anschließend geht er duschen, zieht sich an und fährt zur Arbeit. An dieser Stelle komme ich wiederholt ins Grübeln, weil ich noch immer nicht weiß, was er überhaupt beruflich macht, wo dieser Ort ist, sondern lediglich, dass er stets zur selben Uhrzeit wiederkommt. Dann, wenn Viccos Rufe verstummen. Nur heute ist es anders.
Ein leises, dumpfes Wimmern wie aus der Nacht höre ich im Haus. Es ist Tag, Viktor wird jeden Moment kommen. Ich kann den Ort, an dem das Geräusch entspringt, nicht orten. Es ist irgendwo im Haus. Ich traue mich aber nicht, vom Bett aufzustehen, weil er mich hier erwartet. Wie jeden Mittag. Dann, wenn ich ihn erleichtern muss, wir den Nachmittag zusammen verbringen, bis wir vor dem Schlafengehen Sex miteinander haben.
Ich stelle das auch nicht infrage. Wie auch? Er tut mir nicht weh und es ergeht mir besser als im Pearl, oder? Und Viktor tut nur das, was ich auch will, oder? Er ist immer da und tröstet mich, passt auf mich auf und sorgt dafür, dass ich alles habe, was ich brauche.
Da geht die Tür auf. Nicht wie sonst knie ich mich auf den Boden und krabble zu ihm, denn das Gewimmer, was immer noch zu hören ist, macht mich nervös. Ist es real oder Einbildung?
»Hörst du das?«
So fragend, wie er dreinschaut, hört er es sicher nicht.
»Was meinst du?«
»Dieses … Weinen … Stöhnen … Ich weiß nicht? Ist das eine Frau?«
»Hört es sich an wie nachts?«
»Ja. Aber wir haben Tag und ich schlafe nicht.«
»Das ist nur in deiner Fantasie, weil du viel erlebt hast und krank bist, Rose. Denk nicht daran und komm her.« Du denkst sicher, er ist bestimmend und herablassend, so wie er dasteht und mit seinen Fingern zeigt, dass ich mich ihm nähern soll, so, wie er es von mir erwartet. Aber er hatte sicher einen schlechten Tag auf der Arbeit. Du wirst merken, dass er manchmal direkt zu mir kommt, mich küsst und dann seine gewünschte Erlösung von mir ersucht.
Ich hinterfrage seine gestresste Laune nicht und krabbele schnell zu ihm. Glaub mir, er wird wütend, wenn man zu viele Fragen über seine Arbeit stellt, und ich kann mir eine Abweisung nicht erlauben, also frag du ihn bitte auch nicht. Ich habe nur ihn.
Wie du siehst, ist er wirklich gestresst, da er mir zuvorkommt, selbst die Hose öffnet und sich kraftvoll in meinen Mund schiebt, bevor ich richtig vor ihm sitze. Sonst nimmt er meinen Kopf nicht in seinen Pranken gefangen und stößt mir so fest in Rachen, dass mir die Tränen kommen. Ich versuche, ihm zuliebe, den Würgereiz zu kontrollieren, und schaffe es kaum. Zu brutal ist er heute.
Ich will nicht wissen, was schiefgelaufen ist, dass er sich so in meinen Mund stößt, dass meine Lippen brennen und meine Muskeln sich anspannen, um dagegen anzukämpfen, obwohl ich es nicht möchte. Zum Glück spritzt er mir früher als sonst in den Rachen und brav schlucke ich alles. Das ging so schnell, dass ich mir seiner gar nicht richtig bewusst werden konnte und jetzt erst seine Anwesenheit spüre, schmecke und rieche.
»Braves Mädchen.« Zumindest hilft er mir auf die Beine und zieht mich in seine Arme. Siehst du, er ist so lieb zu mir. Dabei bin ich atemloser als er.
Er muss wirklich wütend sein, da er noch nicht einmal gestöhnt oder gebrummt hat. Du musst sicher denken, dass er ein Unmensch ist, weil er mich wie eine Puppe aus dem Zimmer schiebt, zum Flur hinunter.
Da ist es wieder.
»Da!«
»Was, Rose?«
»Hörst du es nicht?« Bitte sag mir, dass du es hörst. Dieses Weinen. Es ist eine Frau. »Es kommt aus dem Schlafzimmer.« Er hört es nicht, sonst würde er mich nicht so böse ansehen.
»Rose? Da ist nichts.«
»Was ist in deinem Schlafzimmer? Warum darf ich nicht rein?«
Der plötzliche Schmerz um meinen Kiefer, weil er diesen auf einmal packt und zudrückt, erschreckt mich genauso wie sein Blick. Du weißt es nicht, weil ich dich die letzten Wochen nicht in meine Gedanken gelassen habe, aber das hier ist neu. Viktor ist gut zu mir und tut mir nicht weh. Nicht so wie jetzt.
»Denkst du, ich bin blöd?«
»Viktor.«
»Nein, Rose. Du nutzt es aus, dass ich dich tröste, und tust so, als würdest du Stimmen hören, damit du in einen Raum schauen darfst, der dich nichts angeht. Schluss damit!«
»Nein, ich höre es wirklich. Es ist da. Gerade.« Nach wie vor.
»Lass das, du bist doch krank!«
So, wie er mich packt und hinter sich herzieht, habe ich ihn wieder verärgert. Ich will das nicht. Aber du hast es doch auch gehört, oder? Wegen dem, was im Pearl passiert ist, kann ich mir das doch nicht einbilden. Glaube ich. Eigentlich weiß ich es nicht.
Es ist wirklich besser, wenn er weiterhin entscheidet.
Eigentlich habe ich sonst immer auf dem Sofa gesessen und gelesen und er hat am Laptop gehockt, den er behütet wie einen Schatz. Stattdessen zieht er mich neben sich aufs Sofa und schaltet den Fernseher ein.
»Wir schauen besser einen Film. Vielleicht regen die Bücher nur deine Fantasie an und machen dich noch verwirrter, als du es ohnehin bist.«
Er hat bestimmt recht, so wie er es immer hat. Mich von ihm in seinen Arm ziehen zu lassen fühlt sich gut an. Das hier ist so warm und ich atme gerne seinen Geruch ein. Er riecht männlich und dezent nach Aftershave. Ich mag es sehr. Dennoch brennen mir die Fragen im Kopf, worüber wir heute gesprochen haben, weißt du noch? Die Sache mit der Verhütung.
»Viktor?«
»Ich mag es, dass du endlich meinen Namen sagst.« Das scheint ihn wirklich gnädig zu stimmen. Hörst du, wie weich seine Stimme klingt?
»Denkst du nicht, ich müsste verhüten?«
»Nein, warum?« Findest du nicht auch, dass er bei diesem Thema zu ruhig bleibt?
»Na, du weißt schon, warum.«
Seine Finger, die über meine Körperseite streicheln, fühlen sich so gut an. Wie geborgen ich mich auch in diesen Armen fühle, aber das Thema muss besprochen werden.
»Rose, ich bin fünfundvierzig Jahre alt, siehst du hier Kinder herumlaufen?« Also legt er es darauf an. Ohne mich zu fragen.
»Aber ich bin erst achtzehn.«
»Du bist in der Blüte deines Lebens, Rose, und ich bin mit einem Bein im Grab. Gut, das ist übertrieben, aber du verstehst sicher, worauf ich hinauswill.«
Er hört nicht auf, mich zu streicheln, was mich noch nervöser macht.
»Du hast also keine Kinder?«
»Doch, Rose. Einen Sohn.«
Das ist ja ganz neu.
»Was ist mit ihm? Wie heißt er? Wie alt ist er? Und warum habe ich ihn noch nie gesehen? Ich bin doch schon lange hier.«
»So viele Fragen. Er ist etwas älter als du, kleine Rose. Sein Name ist Cvitko. Vidar Cvitko Sinanovic.«
»So ein langer Name?« Das wird gerade interessant.
»Ja. Ein Doppelname und sein Familienname.«
»Also heißt du Viktor Sina…« Ich habe es vergessen.
»Sinanovic. Ja. So hießen wir, als wir nach Deutschland gekommen sind.«
Dass er kein Deutscher ist, ist mir kaum aufgefallen. Er spricht akzentfrei und so ausländisch sieht er gar nicht aus.
»Du kommst also nicht aus Deutschland?«
»Nein, Bosnien. Meine Mutter aus der Ukraine.«
Ich kann kaum fassen, dass er etwas von sich erzählt und mich weiterhin liebevoll streichelt.
»Wann bist du nach Deutschland gekommen?«
»Vor sechszehn Jahren.«
»Und was ist mit der Mutter von deinem Sohn? Wo ist er jetzt?«
»Rose, warum die Fragen?«
»Ich will dich kennenlernen und falls ein Familienmitglied von dir …«
»Nein, Rose. Du wirst ihn nicht kennenlernen, weil er weit genug von dir weg ist. Er ist krank. Regelrecht besessen. Ihn muss man wegsperren.« So wie mich. »Rose. Er ist geisteskrank, also mach dir um ihn keine Gedanken. Seine Mutter war es auch schon und ist gestorben, als er noch klein war.«
»Wie? Wann?«
»Rose, willst du wirklich die Wahrheit hören?«
»Ja.«
»Wie du willst. Ich habe sie umgebracht, kurz bevor wir nach Deutschland gekommen sind.«
Du kannst sicher verstehen, dass diese Worte in meinem Kopf kreisen wie eine schrille Warnung. Ein Schrei. Und dennoch muss ich fragen: »Warum und wie?«
Ich merke selbst, wie klanglos meine Stimme ist, weil er zu gut ist, um Menschenleben zu nehmen.
»Sie war krank, Rose. Sie war einfach lebensmüde und ich habe ihr geholfen. Lass uns nicht den Feierabend mit Schauergeschichten verderben. Morgen ist dafür auch noch Zeit.«
Es hört sich an, als wäre sie depressiv gewesen, und ich kann verstehen, dass er nicht weiter darüber reden möchte. Gerade dann auch nicht, wenn sein Sohn ebenfalls krank ist. Der Arme, nun muss er sich auch noch um mich zerstörte Seele kümmern und das, obwohl er schon so viel mitgemacht hat. Aber vielleicht kommt auch daher sein Verständnis für mich.
»Darf ich dir noch eine Frage stellen, bevor wir den Film gucken?«
»Ja, Rose.« Dass es sich nicht überzeugend anhört, muss ich nicht erwähnen.
»Wo ist dein Sohn?«
»Wie gesagt: Weggesperrt und das wird vorerst so bleiben. Wo, sage ich dir aber nicht.«
Das muss wirklich schwer für ihn sein. Wahrscheinlich ist das der Anlass, weshalb er anscheinend eine Familie mit mir gründen möchte. Nur glaube ich nicht, dass ich dazu bereit bin. Denn ich bin auch krank. Ist es das, warum ich hier bin? Weil ich ihn an seine Frau erinnere? Ist ihr auch so Schreckliches passiert?
Diese Antworten bekomme ich sicher nicht heute und schiebe diese Gedanken auch besser zur Seite, bevor ich ihn noch verärgere. Lieber will ich seine Nähe genießen. Unsere kleine Zweisamkeit.