Tag 71
Heute war es wieder ganz anders. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Aber wie du bemerkt hast, ist er schon in der Nacht aufgestanden. Mit Absicht habe ich so getan, als wäre ich nicht wachgeworden. Allerdings bin ich dann wieder eingeschlafen und habe nicht mitbekommen, wann er die Dusche verlassen hat. Doch das Gewimmer kam nicht mehr. Das hat mich nicht geweckt.
Sondern Vicco.
Und zwar mit einem lauten Schrei in der Stille am Morgen, was auch wirklich ungewöhnlich ist. Seither herrscht Funkstille. Das ganze Haus liegt in einer schweren Ruhe. Selbst der sonst so starke Herbstwind lässt nichts von sich hören. Draußen ist es sogar unheilvoll düster, obwohl wir vormittags haben. Glaubst du auch, dass Vicco mich aus einem guten Grund geweckt hat, dass er mich vor etwas warnen wollte? Ich schon. Seitdem ich wach bin, schwirre ich durchs Haus und lausche wiederholt an der Schlafzimmertür, die ich nicht öffnen darf. Aber nichts.
Ruhe.
Es ist zu friedlich. Dafür wird die Unruhe in mir immer unerträglicher, bis ich wieder vor der Tür stehe und lausche.
Nichts.
»Hallo?« Ich bin bescheuert und wirklich krank, dass ich nach dem Geist der Vergangenheit rufe, aber mich lässt es nicht los. Durch meine Erlebnisse drehe ich geistig so durch, dass ich Wahrnehmungsstörungen entwickelt habe. ›Posttraumatische Belastungsstörung‹ hat er einmal gesagt. Die Bestätigung dafür kommt von der anderen Seite: die unangenehme, schwere Stille.
Ich bin bewiesen verrückt. Dabei ist das, was mir widerfahren ist, gar nicht so schrecklich. Da draußen gibt es ganz viele Frauen, die weitaus mehr ertragen müssen und keinen Viktor haben, der sie befreit. Bestimmt gibt es das. Ich denke da auch an die anderen im Pearl. Was ist mit ihnen? Denen geht es doch viel schlimmer als mir. Und sie sind so stark und haben niemanden, der sie rettet. Viktor ist bei mir und mir geht es gut. Wenn ich nicht so verrückt wäre.
Einmal habe ich mich gefragt, ob es nicht an Vicco liegt. Weißt du, er war für mich ein Anker zwischen Realität und Traum. Sobald der Schmerz kam, hat er mich in die Traumwelt gezogen und mich gehalten, gerettet. Er war da, nur nicht real. Zwar ist Viktor tatsächlich hier, aber wenn er, so wie jetzt, auf der Arbeit ist und ich allein bin, ist er auch wirklich weg. Ist das der Grund, warum ich verrückt werde? Kannst du mein Anker sein, der mich hält, mir beim Leben hilft und mich aus Schmerzen zieht, wenn sie mich überfallen? Kannst du mir nicht nur zuhören, falls ich dir über die Zweifel berichte, sondern mir auch die Hand reichen, insofern ich hier wegmuss? Das wäre schön. Du wirst mich unterstützen, sobald ich es brauche. Du hast mich die ganze Zeit über begleitet. Bislang musstest du mir nicht helfen, da Vicco da war und ich bis gestern nicht das Gefühl hatte, jemand anderes zu brauchen als Viktor. Jetzt bist du ja da und beobachtest nicht nur, sondern sprichst mit mir. Zugegebenermaßen höre ich dich nicht, aber es reicht für mich, zu wissen, dass du da bist, mir zuhörst und hilfst, falls ich es benötige. Ja, du bist mein Anker.
Eigentlich wünsche ich mir, dass Viktor es wäre, so wie es Vicco für mich war. Viktor und ich haben eine Verbindung zueinander, aber sie ist nicht ausreichend genug. Da ist etwas, nur eben anders. Merkwürdiger. Es ist nur diese Vertrautheit, die mich in seinen Bann zieht. Immer wieder lockt sie mich und das fühlt sich gut an. Wie nach Hause zu kommen … oder so.
»Was tust du da?«
So schnell kann ich nicht aufstehen, wie Viktor bei mir ist. Gedankenverloren habe ich mich an die Schlafzimmertür gesetzt und jetzt ist er wieder zurück. Und ich bin nicht da, wo ich sein sollte.