Tag 72
Er ist wieder abweisender zu mir und ich weiß nicht, ob es besser für mich ist oder nicht. Unterkühlt und desinteressiert geht er nun mit mir um, als hätten die Tränen ihn verstummt und diese Mauer zwischen uns errichtet. Es ist sogar so, dass er mich noch nicht einmal in den Arm genommen hat, als ich in der Nacht erneut das Gewimmer gehört habe. Stattdessen meinte er nur, dass ich aufhören soll, zu spinnen. Heute Morgen hat er mich zum ersten Mal seit langem wieder eingesperrt. Er nimmt an, dass meine Vergangenheit psychotische Schübe verursacht und ich nun wirklich geisteskrank bin. So bin ich im schönen Raum gefangen und komme nur heraus, wenn ihm das gefällt. Vielleicht hat er auch recht, denn das Gewimmer von der Nacht wurde zu einem Geschrei, als er das Zimmer verlassen hat. Ich bilde mir das nur ein. Dabei hört es sich so echt an. Du hörst es doch auch, oder?
Genauso, wie du weißt, wie ich mich jetzt fühle. Die Unsicherheit ist bestimmt verständlich für dich, denn du kannst dich an die vielen Taten erinnern, die ich erlebt habe. Alles wirkt so komisch auf mich. Für dich auch.
Er hat mich missbraucht, das bilde ich mir nicht ein. Es war kein Traum. Ich habe es gestern gefühlt – wie damals. Das Bett, welches sich wie ein Schiff bewegt hat, sein Atmen, dieses Gefühl. Mein Verstand konnte es mit der Erinnerung und dem gestrigen Geschehen zusammensetzen. Wie ein Puzzle. Es ist real. Ebenso echt wie die Tatsache, dass er mich betäubt hat.
Die Zeit, die ich hier verbracht habe, hat dafür gesorgt, dass ich vergesse. Dass Erinnerungen gelöscht wurden. Teile meines Gedächtnisses verloren gegangen und überschattet worden sind.
Die Art, wie er mit mir umgeht, wird mir nun plötzlich auch bewusster. Er ist nicht so wohlwollend, wie ich es denke, oder? Wie siehst du das?
Ich wünschte, deine Meinung hören und den Rat, den du mir geben würdest, umsetzen zu können. Du siehst alles mit Sicherheit objektiver als ich, hast keine Gefühle für diesen Mann und auch nie welche für Vicco gehabt. Aber vielleicht ist es besser, dir nicht die Last meiner Lage aufzubürden. Zu wissen, dass du da bist und zuhörst, hilft mir auch schon. Falls dein Rat nämlich für mich nicht gut ausgeht, würdest du die Verantwortung dafür übernehmen. Das möchte ich aber nicht. Du bist zum Glück nicht in meiner Situation, kannst nicht wissen, was das Beste ist und wie ich mich verhalten muss, um heil aus der Sache rauszukommen. Doch du bist da, Freund, und das ist mehr wert als jeder gutgemeinte Ratschlag.
Du kannst mir aber bei meinen Gedanken helfen, wenn du ohnehin schon da festsitzt. Die Frage ist:
Habe ich eigentlich so tiefe Gefühle für Viktor oder ist es nur Angst? Würde ich ihn heiraten wollen, falls es anders wäre?
Das verwirrt mich zusätzlich. Ich kann mich selbst nicht klar sehen und weiß eigentlich auch nicht, wer ich bin. Deswegen ziehe ich Kreise im Zimmer, bin so rastlos und schwitze durchgehend, obwohl es so kühl beim offenen Fenster ist.
Die Perücke – siehst du sie? Sie liegt da auf dem Kosmetiktisch und verhöhnt mich. Trotzdem muss ich zu ihr gehen, sie berühren und anziehen. Ist es nicht noch verwirrender, mich so zu sehen? Wo ich doch die ganze Zeit keine Haare auf dem Kopf habe und mir jetzt diese blonden, langen Strähnen auf die Schultern fallen, als wäre ich Rixa? So, wie du mich kennengelernt hast.
Siehst du mein Gesicht wie ich im Spiegel? Wir wissen beide, dass ich nicht mehr diese Rixa bin. Schon lange ist sie weg. Allerdings bin ich auch nicht Rose. Sie ist an den Qualen im Pearl zugrundegegangen. Wer bin ich nun?
Du kennst mich nur als Rose, deswegen wirst du jetzt mit dem Kopf schütteln. Aber es gab auch eine andere Zeit für Rose. Eine, wo sie den Namen gehört hat, ein Kribbeln in den Wangen gespürt hat, die bedingungslose Zuneigung wahrgenommen hat und den Namen als ein Versprechen für die Ewigkeit sah.
Bin ich eigentlich noch ein Jemand? Oder schon längst ein Geist?
Wir bleiben besser bei der Theorie mit dem Fegefeuer. So, dass am Ende alles wieder gut wird, wenn ich es überstanden, akzeptiert und nicht ignoriert habe. Damit lebe, bis ich sterbe. Denn zum Schluss ändert es sich stets ins Positive. Ist doch so. Muss so sein. Es ist das, was ich in allen Filmen gesehen und Büchern gelesen habe. Egal, wie schlimm etwas zu sein scheint, spätestens der Epilog ist das Schönste einer Geschichte mit Höhen und Tiefen. Der Moment, wenn man aufgefangen wird. So wird es auch bei mir sein. Es muss so sein, Freund.
Und wenn nicht, bin ich doch am Ende auch tot, oder? Spüre den Schmerz und die Angst auch nicht mehr. Also ist es nicht schlimm. Denke ich.
Ich weiß es nicht.
Was würdest du mir raten, was ich tun soll?
Es spielt keine Rolle, denn es ändert die Situation nicht. Auch nicht meine Verwirrtheit und erst recht nicht die vielen Ängste. Nur, dass es mich wahrscheinlich noch nervöser macht oder mich ungewollt unter Druck setzt.
In mir drin sehe ich nur Viktors Wohlwollen. Er hat mir eigentlich – im Vergleich zum Pearl – nie etwas Schlimmes angetan. Gut, er hat mich unter Drogeneinfluss vergewaltigt. Wer aber behauptet, dass ich nicht ›Ja‹ gesagt hätte, wenn ich nüchtern gewesen wäre? Vielleicht hätte ich dem nie zugestimmt, vielleicht aber schon. Da er die Entscheidung für uns beide getroffen hat, werden wir es nie erfahren. Soll ich mich ihm jetzt verweigern, weil er genauso ein Mann ist wie die anderen? Weil er menschlich ist und meine Situation wie viele vor ihm ausgenutzt hat? Natürlich könnte ich ihm böse sein, aber genauso hat er mich befreit und keinem weiteren Leid mehr ausgesetzt.
Und selbst, wenn ich mich gegen ihn entscheide, muss ich dann gehen? Wird es mir dann nicht viel schlimmer ergehen, weil ich allein und zerstört bin und die Welt mich nie akzeptieren könnte? Deswegen ziehe ich die Perücke wieder herunter, betrachte mich genauer und erkenne es endlich.
Es ist egal, was ich denke. Ich bin hier. Daran werde ich nichts ändern.
Ich bin hier, weil er es so will und ich keinen anderen Ort habe, wo ich hingehöre. Die Vergangenheit habe ich längst losgelassen und irgendwann wird sie mich auch freigeben. Dann, Freund, kann ich mit Viktor auch glücklich werden.