Rose
Seine Hand streichelt besitzergreifend über meinen Rücken. Er ist genauso nervös wie ich. Das Ticken der Eieruhr macht mich wahnsinnig und ich will die Antwort nicht wissen. Das alles will ich nicht. Es ist zu früh. Viel zu früh. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass das alles geplant war. Bist du das? Zeigst du mir gerade, dass ich misstrauisch sein sollte?
Du hast recht. Das hier ist ein abgekartetes Spiel. Viktor sitzt auf glühenden Kohlen, weil er es unbedingt will – ich dagegen, weil ich Zweifel hege. Wir kennen uns kaum und ich bin krank, zerstört und labil. Das kann nicht funktionieren. Dazu kommt noch, dass ich viel zu jung bin. Das siehst du sicher genauso. Ich gehe schon lange nicht mehr zur Schule. Nicht, weil ich mein Abi abbrechen wollte, sondern weil Vicco mich entführt und ins Pearl gesperrt hat.
Jetzt sitze ich hier, finde nicht den Trost in seinen Liebkosungen, die auch viel zu fest sind, und bekomme vor Engegefühl keine Luft mehr.
Seit wann sind drei Minuten so lang?
Nach drei Minuten müsste es ein Ergebnis anzeigen. Nach drei Minuten erfahre ich, ob mein Leben noch eine Wendung bekommt. Und nach drei Minuten weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Ich glaube, das Erstere, und ich darf es dennoch nicht. Weil Viktor es sich wünscht. Er wünscht es sich so sehr, dass er die Eieruhr anstarrt wie ein Wahnsinniger, als könne er die Zeit so schneller vergehen lassen. Ich hingegen fixiere sie, um die Zeit zu verlangsamen. Keiner von uns hat Erfolg, denn diese hat ihren eigenen Lauf. Einen eigenen Plan und berücksichtigt nicht unsere Wünsche. Keiner von uns kann etwas so Wichtiges und zugleich Gleichgültiges beeinflussen wie die Zeit. Sie nimmt ihr eigenes Tempo auf.
Ich wünschte, ich wäre die Zeit, lieber Freund. Dann könnte ich selbst den Lauf meiner Geschichte entscheiden. Selbst bestimmen, wo dieser langführt. Wie schnell und wie langsam sie vorbeigeht. Aber dem ist nicht so. Ich bin abhängig von so vielen Dingen und nicht nur von Viktor selbst. Alles entscheidet über mich, über meine Reize und über mein Denken. So, wie die Erlebnisse meiner Vergangenheit meinen Verstand beeinflussen und erst recht meinen Körper, so übernimmt die Zeit meine Zukunft und deren Richtung – ebenso wie der Mann neben mir, dessen schweißnasse Hand mein Shirt befeuchtet, sodass es an meiner Haut kleben bleibt. Oder ist es mein Angstschweiß, der den Stoff klamm macht?
Da piepst es und es fährt mir bis ins Mark. Sofort springt Viktor auf und fährt sich durchs Haar. Er ist wirklich nervöser als ich. Er fragt noch nicht mal, als er mich von der Bettkante hochzieht und mich ins Bad hinterherschleift. Er merkt nicht, dass ich die Fersen in den Teppich drücke, weil ich mich vor der Antwort schützen möchte. Schwachsinnig, aber es ist eine impulsive Reaktion, ohne jegliche Zustimmung. Der Schweiß perlt sich schon auf meiner Stirn, du siehst es sicher, ich fühle es.
Hast du bemerkt, wie seine Hände zittern, als er den Test vom Waschbecken nimmt? Deswegen zittere ich gleich mit.
Gemeinsam beobachten wir, wie er den Kopf in den Nacken legt, ohne eine Antwort zu erhalten. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Schwanger oder Glück gehabt?
Was bedeutet jetzt dieser Blick, den er nun auf mich richtet, während er den Test hochhält? Ja? Nein? Vielleicht?
Der Abstand, den er mit wenigen Schritten zu mir überwindet, treibt mir die Eiseskälte in die Glieder.
»Hast du gut gemacht. Du bist schwanger.« Ein Kuss auf meine Stirn und er geht an mir vorbei? Das war es?
»Ich bin stolz auf dich.« Hä?
Ich glaube, du starrst gerade genauso wie ich verwirrt zwischen dem Schwangerschaftstest, den er achtlos aufs Bett geschmissen hat, und der verschlossenen Tür, die er gerade abschließt, hin und her. Irgendwie habe ich mehr erwartet. Deshalb renne ich verwundert zum Bett und erkenne das Unheil.
›Schwanger‹
›ca. 4. Woche‹
Dennoch habe ich mehr von Viktor erwartet. Zumindest, dass er sich mehr freut und mich nicht lobt, als hätte ich meinen Teller leer gegessen. Ich habe sogar damit gerechnet, dass er vor Freude schreit, mich umarmt und wie im Fernsehen glücklich hochhebt und im Kreis dreht. So etwas in der Art.
Ich bin wirklich naiv, oder? So läuft das im realen Leben nicht. Männer sind in der Wirklichkeit kühler, distanzierter, freuen sich nicht so wie im Film und sagen, wie sehr sie die Mutter des ungeborenen Kindes lieben und wie sehr sie sich freuen, eine Zukunft mit ihnen aufzubauen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. In der harten Realität machen Männer keinen kitschigen, süßen Antrag mit roten Rosen und Kniefall, sondern fragen die Frau beim Akt, der alles andere ist als ›Liebe machen‹.
Obwohl ich gerade feststelle, wie naiv ich eigentlich die ganze Zeit über war, finde ich seine Reaktion alarmierend. Denn man sieht mir doch meine Ängste an. Stattdessen ist er gegangen und lässt mich verzweifelt zurück. Selbstverständlich eingeschlossen. Eingesperrt wie eine Aussätzige. Die Böse.
Bestimmt, weil ich mich so fürchte, höre ich die Frau wieder, die laut Viktor ich selbst sein soll. Die Frau aus dem Pearl, die geschrien und geweint hat. Dabei glaube ich nicht, so viel geweint zu haben, wie ich es jetzt höre. Diesmal ist sie sogar viel lauter als sonst. Höchstwahrscheinlich sind meine Ängste auch schlimmer als sonst. Jetzt gerade kommen mir die Laute wirklich bekannt vor. Hören sich vertraut an. Sind wie meine eigenen. Viktor hat recht. Ich bin verrückt genug, um die Stimme meiner Vergangenheit zu hören, und so soll ich ein Kind gebären? Ich bin doch selbst noch eins. Habe gar keine Ahnung von Kindern, vom Leben und stelle gerade erst fest, dass ich mein Leben immer mit Filmen und Romanen verglichen habe. Glaubte immer, dass der Schrecken nur in Horror- oder Actionfilmen stattfindet, und weiß erst seit einigen Wochen, dass dem nicht so ist.
Was soll ich einem Kind nur beibringen? Sag es mir. Wie man sich in Träumen versteckt, während man missbraucht wird?
O Gott, hast du das gehört? Selbst meine Gedanken sind so krank. Und so echt. Ich will kein Kind in diese grausame Welt setzen. Was ist, wenn mein eigenes Fleisch und Blut das auch erleben muss? Was ist, wenn mein Baby sich in die falsche Person verliebt, so wie ich? So blind und naiv in eine Gefahr rennt.
O Gott, das ist alles so schrecklich.
Das ist so traurig, dass ich mich nicht halten kann und falle und weine. Siehst du die Eieruhr? Ich sehe sie nur durch einen Tränenschleier, weiß aber, dass sie stillsteht. Das wünsche ich mir jetzt. Halt die Zeit für mich an. Bewahre das Glück und halte das kommende Unglück auf, denn ein neuer Mensch wird diese grausame, kranke Welt kennenlernen und ich kann ihn nicht davor schützen, weil ich mich selbst nie schützen konnte. Werde – wie meine Mutter – den Lebensinhalt in einem Mann suchen, der immer für mich unerreichbar sein wird, und mich mit einem anderen trösten.
Ich werde wie meine Mutter sein und da hilft es auch nicht, sich auf den Boden zu kauern und zu heulen, wie ich es gerade tue. Egal wie unfair die Welt ist und wie dumm es ist, jetzt so zu weinen, ich finde keine Kraft, stiller Freund. Ich weiß nicht, was ich machen soll, außer, mir die Augen aus dem Kopf zu heulen. Wie die vertraute Stimme, die ich schon so lange höre. Es ist ein jämmerlicher Chor aus Schmerz und ich kann nichts tun. Kann nicht dagegen ankämpfen, weil die Zukunft so erbärmlich aussieht und das unschuldige Wesen in mir genauso leiden wird wie ich.
Genauso.
Oder schlimmer.