Tag 73
Ich bin schwanger.
Irgendwann in der Nacht kam Viktor mit Obst zurück, fütterte mich und zwang mich, im Bett zu schlafen statt auf dem Boden, auf dem ich gelegen habe. Wirklich einschlafen konnte ich wegen der Angst aber nicht. Anscheinend hat er sich für heute freigenommen, denn ich darf wieder aus dem Zimmer und im Haus wandeln wie ein Geist.
Lediglich schwebend bewege ich mich durch die Räume, fühle noch nicht einmal den Boden unter den Füßen und schaffe es nicht, unter die Dusche zu gehen. Die Kraftlosigkeit bewohnt mich, entreißt mir die Kontrolle über die Glieder und die Gedanken an die Zukunft des ungeborenen Geschöpfes liegen schwer auf meinen Schultern. Es fühlt sich an wie eine Einbahnstraße. Es geht endlos vorwärts, aber nicht zurück. Nicht nach rechts oder links, nur immer weiter geradeaus ins Nirgendwo. Ich wünschte mir einen kleinen Ausweg. Eine Möglichkeit, dem Ganzen zu entkommen. Doch zugleich kann ich Viktor nicht verlieren oder ihn enttäuschen. Meine Mutter wird mich nicht mehr wollen, so wie Vicco mich auch zurückgelassen hat. Viktor und ich sind zwei einsame Seelen, die einander gefunden haben, und so wird es bleiben. Wir haben einander und mit dem Wesen in mir ein Kettenglied mehr, das mich an ihn bindet. Das ist etwas Schönes, oder? Also warum kann ich mich nicht freuen? Und wieso sehe ich in Viktor keine Freude? Er ist wie jeden Tag. Ist diesmal nur eben hier. Es gibt keine Veränderung – außer seine Anwesenheit und die Stille. Die Stille, weil selbst die traurige Stimme in mir zu kraftlos ist, um mich zu ängstigen.
Mein stiller, zuhörender Freund, ich bin krank. Geisteskrank. Jeden Tag spüre ich es ein bisschen mehr. Viktor weiß es und dennoch habe ich noch keinen Therapeuten gesehen. Er vertröstet mich, sagt, dass es schwer ist, einen zu finden, der hierherkommt und zugleich kurzfristig einen Termin vergibt. Nur bin ich schon so viele Tage hier. Dann schwängert er mich zusätzlich. Und das bewusst.
Eigentlich sollte es einen Sinn ergeben. Ich sehe es nur nicht. Meine Ansichten sind anscheinend zu beschränkt, um es zu erkennen. Trotzdem muss ich mich immer wieder fragen, was das alles soll. Aber auch, was sich Gott bei dem Ganzen gedacht hat. Ein Fegefeuer sollte doch nur mich betreffen und nicht noch ein Kind. Was für einen Plan hat Gott bei den Ereignissen? Ich verstehe es nicht.
»Bist du genügend Kreise durchs Haus gewandert?«
Ich drehe mich zum Sofa. Siehst du auch diesen herablassenden Blick, den er mir über die Lehne zuwirft, während er den Laptop beiseiteschiebt? Sicher hat er schlechte Laune und diesmal liegt es nicht an der Arbeit. Bestimmt an mir, weil ich ihn wieder enttäusche. Womöglich durch meine Traurigkeit und die Streifzüge durch die Räumlichkeiten auf beiden Ebenen.
»Hörst du wieder Stimmen?«
»Nein.«
»Das ist ja mal was Neues.« Heute nehme ich ihm seine Worte übel. Bin viel zu empfindlich, um mich seiner Kälte auszusetzen, und gehe auf die Suche nach einer Antwort, die ich doch nicht hier finde, aus dem Raum, geradewegs nach oben.
»Hör auf, Rose. Du machst mich nervös«, hält er mich auf und merkt nicht, dass ich es bereits bin.
»Setz dich zu mir. Wir müssen reden.« Nickend stimme ich zu, da mir nichts anderes übrigbleibt, um ihn nicht noch mehr zu frustrieren, obwohl ich lieber wegrennen möchte.
Zwar spüre ich neben ihm die geborgene Wärme, aber diesmal reicht es nicht aus. Ich seufze nur, als er mir über den Kopf streichelt.
»Du solltest wirklich die Perücke tragen, Rose. Das macht dich hübscher.« Diesen Peitschenhieb spüre ich nicht. Zu festgefroren sind meine Gefühle. Spüre nur seine Finger, die zu dem Halsband wandern.
»Das brauchst du nicht mehr.« Mit einem Piepsen löst es sich. Und die Kälte dringt wie eine Warnung an meine Haut.
»Warum nicht?«
»Weil du dich auch so an meine Regeln halten wirst, Rose. Du darfst sie nicht brechen.«
»Nenn mir deine neue Regel.«
»Du tust, was ich sage, ganz einfach, oder?« Darauf kann ich nur nicken. Was sonst? Das Halsband hat mir gezeigt, dass ich hören muss. Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber ich glaube, du ahnst genauso Schlimmes wie ich. Er will mir nicht wehtun und mich auch nicht wie einen Hund erziehen, er will wirklich nur das Beste für mich. Glaube ich zumindest.
Auf jeden Fall werde ich es nur ungern infrage stellen. Schon gar nicht, weil er meine Hand nimmt, mit dem Daumen beschützend über den Handrücken streichelt und diesen Blick auf mich gerichtet hält, während er etwas aus seiner Hosentasche holt.
»Rose, du gehörst mir.« Ich halte seinem intensiven Blick stand. In seinen Iriden suche ich mal wieder Antworten auf die vielen Zweifel, die mich plagen. Nur muss ich mich von seinen Augen trennen, spüre das kalte Metall an meinem Ringfinger und erstarre, als ich sehe, wie er einen Ring darüberstülpt.
Einen breiten Ring. Anstatt eines Diamanten hat dieser allerdings eine kleine Öse daran. Wie ein Ring am Ring.
»Ich meine es ernst. Du bist mein Besitz, Rose.«
Sein Besitz? Sicher ist das nur so eine Redensart, eine Floskel. Aber wo sollte ich auch sonst hin? Ich gehöre hierher, zu ihm.
»Bald ist es soweit, Rose. Bald. Nur einige Monate.«
»Was ist dann?«
»Wirst du dann sehen, kleine Rose. Meine kleine Rose.« Denkst du nicht auch, dass seine Worte sich perfide anhören? Erst recht bei diesem undurchsichtigen Lächeln. Trotzdem erwidere ich sein Lächeln schüchtern, obwohl ich einen Kloß im Hals habe. Mir wünsche, dass mein Leben doch ein bisschen mehr wie ein Film wäre. Die fehlende bedeutungsvolle Romantik setzt mir zu. Auch dann, als er sich von mir abwendet und den Laptop wieder auf seinen Schoß zieht.
Plötzlich ein Knall!
Ich schrecke zusammen. Auch Viktor. Du hast dich sicher auch erschrocken.
»Du hast das auch gehört!«
»Psst, Rose!« Er legt mir die Hand an die Lippen und beim Anblick seiner verdunkelten Augen beginne ich zu zittern. Böse starrt er mich an, sodass sich alles in mir zusammenzieht. Er horcht, weiß nicht, ob es nur ein einmaliges Geräusch war und es nichts zu bedeuten hat, und ist in Alarmbereitschaft. Dann wieder.
WUM!
So laut, dass ich in mich zusammensacke.
»Geh sofort hoch ins Zimmer! Du kommst erst raus, wenn ich es dir sage!«
In Schockstarre sehe ich ihn mit aufgerissenen Augen an. Siehst du auch, wie unsicher er wirkt, als er die Hand von mir nimmt und mich auffordernd anstiert? Das jagt mir durch die Glieder.
»Geh, ROSE!« Er schreit nicht, aber diese Worte schlagen mir ins Gesicht, so dunkel sind sie. Deswegen springe ich auf und renne zur Treppe, ohne zu wissen, was los ist. Die Stufen nehme ich gleich doppelt. Es ist eine Flucht und ich weiß nicht, wovor. Oben angekommen will ich direkt zum Zimmer rennen, doch bleibe stehen. Festgenagelt am Boden, wegen der Stimme, die zu mir dringt und meine Beine weich werden lässt.
WUM!
Der Knall zieht durch mich hindurch, sodass ich in die Knie sacke. Oder ist es diese Stimme, die mich aus der Bahn wirft? Diese bekannte Stimme, die dafür sorgt, nicht in mein Zimmer zu gehen, obwohl er
es mir befohlen hat und er
mich dafür bestrafen wird. Entgegen meiner Angst vor der Bestrafung, die mich erwartet, drehe ich mich um. Denn eines war immer stärker als meine Angst – die Liebe.