Rose
Tränen, so viele Tränen. Dabei sieht er mich mit seinen eisblauen Augen an, als würde er einen Geist sehen. Was ist hier los?
Ich schaue unsicher zu Viktor, erkenne sofort Wut in seinem Ausdruck, da ich nicht auf ihn gehört habe, und dennoch ist Vicco stärker und lenkt meine Aufmerksamkeit zu sich.
Was geht hier vor und warum sieht er so kaputt aus? Siehst du auch, dass er lediglich eine Jeans trägt, seine Haut fahl und schmutzig und selbst sein hübsches Gesicht von Schmerz gezeichnet ist? Nur seine Augen, sie strahlen. Warum sitzt er mir zu Füßen? Warum hält er mich? Er hasst mich doch, hat mich schon längst aufgegeben und mich wie Müll weggeschmissen.
Dennoch spüre ich diese besondere Verbindung zwischen uns. Die Art, wie er mich ansieht und mein Herz ganz schwer wird. Ich lasse die Hände runter, nur damit ich eine in seinem Haar vergraben und sanft hindurch streichen und diese Wärme zwischen uns spüren kann. Sie ist nie abgerissen. Ich muss sogar die Augen schließen, weil dieses Gefühl so überwältigend ist. So viele Wochen ohne ihn. Nur in meinen Träumen.
Doch dann fällt es mir wieder ein. Der Schmerz, den er verursacht. Der Grund, warum ich ihn aus meinen Gedanken geschoben und für dich Platz gemacht habe.
Erinnerst du dich an die vielen Tage voller Qual und Elend? Ich auch.
»Geh weg!«, brülle ich, als ich ihn erneut von mir wegdrücke. »Lass das!«, schreie ich verzweifelt, als er nach mir greifen will und ich davonrenne. Zu Viktor.
Auf den Knien sitzend sieht er mir hinterher, mit diesem Schmerz in den Augen. So muss ich ausgesehen haben, als er diese Frau genommen hat. Dieses Gefühl von jenem Tag ist da. Jetzt. Hier in meinen Gliedern und in meinem Herzen. Es hat die letzten Wochen nur geruht und ist bei seinem Anblick erwacht. Es trifft mich hart und bitter und ich beginne ebenfalls, zu weinen.
Vicco versteht meine Reaktion nicht, siehst du das? Er ist so ein böser Mensch, dass er noch nicht einmal nachvollziehen kann, warum ich mir den Bauch halte und mich erst beruhige, als Viktor einen Arm um meine Schulter legt.
»Was machst du hier, Vicco? Müsstest du nicht eingesperrt sein?«
Eingesperrt? Was? Und kennen sie sich? Woher?
»Ja, Vater. Muss Rose nicht tot sein?«
Tot und … Stopp! VATER?! Ich weiche zurück, schaue zwischen ihnen hin und her und erkenne es. JETZT ERST!
»VATER?«, brülle ich schockiert, kann nicht glauben, was ich da höre. Du hast es gewusst, richtig? Du hast es die ganze Zeit geahnt und diese Ähnlichkeit bemerkt. So wie ich sie auch bemerkt, sie jedoch für Zufall gehalten habe. Ich stehe jetzt hier und weiß nicht, was ich davon halten soll.
»Du wusstest es nicht?« Vicco sieht mich so stirnrunzelnd an, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Mir wird schlecht. Ich habe mit dem Vater von meinem Freund geschlafen. Meinem Ex-Freund. Aber das erste Mal war er doch noch mein Freund, oder nicht?
»Scheiße«, flüstere ich, weil ich so durcheinander bin, und Vicco reißt die Augen auf. Er versteht es auch.
»Du hast mit meinem Vater gefickt?«, brüllt er fassungslos und steht auf. Siehst du seine Muskeln, wie sie sich zu einem großen Steinklumpen zusammentun? Und wie er zittert? Siehst du diesen dunklen, wilden Blick?
»Sag mir, dass du nicht mit meinem Vater geschlafen hast.« Dieses Knurren.
»Vicco, nicht nur das. Sie liebt mich.« Da muss Viktor jetzt auch noch meine Hand nehmen, sie hochhalten, sodass Vicco den Ring am Finger sieht, um damit so richtig Salz in die Wunde zu streuen. Mit offenem Mund schüttelt er den Kopf und geht. Schweigend dreht er sich um und geht.
Und das sicher für immer.
Er geht und nimmt meine ganze Hoffnung mit sich. Denn erst jetzt erkenne ich, dass es da noch eine gab. Eine, die mit ihm zu tun hatte. Eine, die ich in Viktor sah. Ja. Ich habe Viktor an Viccos Stelle gesetzt – mit dem Wissen, dass er nie wirklich seinen Platz einnehmen könnte. Obwohl Vicco mir alles genommen hat, was ich an mir mag.