Tag 74
Die ganze Nacht über sitze ich hier im Flur. Da, wo er mich erneut verlassen hat. Bin ich verrückt, weil ich ihn schon wieder vermisse? Ja, oder? Was ist das nur mit mir und Vicco? Das ist doch krank. Es darf nicht sein und ich will das auch nicht. Aber mein Herz, lieber Freund, mein Herz liebt ihn so sehr, dass ich nicht wegen Viktor trauere, der gleich hinterhergegangen ist.
Es war immer schon Viccos Platz in meinem Herzen.
Die Sonne ist bereits aufgegangen, mein Hintern schmerzt und dennoch kann ich nicht gehen, sitze da mit verschränkten Beinen und umschlossenen Armen, während ich meinen Blick nicht losreißen kann. Starre auf die kalte, bewegungslose Tür. Warte, ohne zu wissen, worauf.
Die Tür öffnet sich und ich halte die Luft an, als Viktor wütend hereinstampft.
»Was verstehst du nicht an: ›Geh ins Zimmer und komm nicht heraus‹?«
Ich zucke zusammen, dennoch schafft er es, mich am Arm zu packen und mich in den Stand zu ziehen. Gewaltvoll. Zornig.
Unter seinem Griff beginne ich zu zittern, kenne diese unglaubliche Wut nicht, die er gerade ausstrahlt, die sich wie eine Schlinge um meinen Hals legt und sich brutal zuschnürt. Mir ist ganz flau und meine Beine geben unter meinem Gewicht nach. Viktor schafft es trotzdem, mich mit seiner geballten Kraft nach oben zu schleifen, als wolle er mir die Haut vom Körper ziehen und meine Schmerzensschreie hören. Diesmal aber bleibt er vor seinem Schlafzimmer stehen, lässt mich los, sodass ich fast das Gleichgewicht verliere und stürze. Gerade so konnte ich mich noch halten.
»Ich habe dir gesagt, dass du dich an meine Regeln halten sollst.«
Ich nicke.
»Dank dir habe ich die ganze Nacht nach meinem Sohn gesucht und ihn nicht gefunden! Es war zu früh, Rose. ZU FRÜH! Aber du wolltest ja nicht hören!«
Was war zu früh? Doch diesen Gedanken lässt er mich nicht zu Ende führen. Er schließt die Tür auf und ich mache direkt ein Gewimmer in der Dunkelheit aus.
Es war nie mein Gewimmer. So wie auch nicht jetzt.
Viktor drückt mich in den Raum. Angst davor, was er nun mit mir vorhat, wo ich doch nicht gehorcht habe, schleicht mir schmerzhaft durch die Adern. Würde ich es ertragen? Könnte ich noch mehr aushalten? Oder wird es so unerträglich, dass ich nun die letzten Atemzüge mache?
Dann aber erkenne ich das Bild. Erkenne mich dort.
Angstschweiß dominiert den Raum. Rotes Latex, Fesseln, nackte Haut. Ich erinnere mich an die Zeit zurück, als ich nur ein Stück Fleisch der Lust für andere war. Ohne einen freien Willen. Voller Schmerz. Ich bekomme kaum noch Luft und die Erinnerung setzt eine Qual in mir frei, dass es mir schwerfällt, mich auf den Beinen zu halten.
Plötzlich klärt sich mein Blick und ich sehe nicht mich auf dem Bett.
»MAMA!«, schreie ich. »MAMA!« Ich will auf sie zulaufen. Doch siehst du das? Das, was Viktor in der Hand hält und womit er genau auf meine Mutter zielt? Ich traue meinen Augen nicht. Das ist nicht echt. Das kann nicht sein.
Was passiert hier?
Ein Knall.
Rote Farbe spritzt gegen die Wand, ans Kopfende des Bettes und aufs Kissen.
Nein, keine Farbe.
Blut.
Alles geht so schnell. So verdammt schnell, dass meine Gedanken nicht hinterherkommen, stolpern und die Welt vor mir ins Wanken gerät.
Ich stehe im Raum und traue meinen Augen nicht, als sich das Bild meiner erschossenen, nackten Mutter in meine Netzhaut einbrennt.
Schreie. So laute, ohrenbetäubende Schreie und die fehlende Kraft. Es reißt mich von den Beinen.
Nein.
Es ist Viktor, der die Gewalt über meinen Körper eingenommen hat, und es sind meine Schreie. Mein Schmerz, als er mich ins andere Zimmer schleift.
Ich schreie. Und weine. Strample. Kralle meine Finger in alles, was ich finden kann, um mich loszureißen und um zu ihr zurückzukehren. Halte mich am Türrahmen fest. Doch ich bin zu schwach. Er reißt mich los, zerrt mich weg. Weg von ihr.
»Mama!« Ich kann es nicht glauben. Dieses Bild schwebt vor meinem inneren Auge. Sie ist tot.
»NEIN!«
Meine Mama. Meine geliebte Mami. Sie ist weg.
Er hat es getan.
Er hat sie umgebracht!
Er hat sie erschossen!
»Gib Ruhe! Du wolltest nicht hören, Rose. Das ist deine schuld! Wegen dir ist deine Mutter jetzt tot!«
O Gott. Warum habe ich nicht gehört? Warum ist das die Strafe?
O Gott. Meine Mama. Sie war die ganze Zeit hier.
Er hat darauf gewartet, dass ich einen Fehler mache. Sie hat geschrien, geweint und gewimmert. Sie, nicht ich, und jetzt ist sie tot.
Oh, bitte, stiller Freund, hol mich von hier weg, es ist so grausam.
Meine Mama, sie ist tot, wegen mir.
Ich habe sie ins Unglück gestürzt, weil ich nicht hören wollte.
Sie ist tot. O Gott. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht!
Bitte, ich flehe dich an. Ich weiß, dass du das siehst, es hörst, meinen Schmerz fühlst, bitte hol mich hier raus.
Nimm meine Hand und zieh mich aus dem Unglück.
Ich kann nicht mehr.
ICH WILL NICHT MEHR!
Rette mich, bitte. Bitte, bitte!