Rose
»Du bist nicht zu gebrauchen!« Sein Brüllen höre ich kaum, es überdeckt nicht mein lautes Weinen und ich habe Angst. Ich habe Angst, was er mit mir tut. Gleichzeitig ist da dieser winzige Teil in mir, der danach fleht, ebenfalls einfach erschossen zu werden.
Ich habe nichts mehr. Nichts. Sie ist tot. Vicco ist weg.
Und meine Mama ist tot. Verletzt, gefesselt wie ich im Pearl, auf einer Latexmatratze mit dieser Maulsperre im Mund, deren Anblick mir den Schmerz in den Kiefer zurückholt. Hat sie auch so leiden müssen wie ich? War es die ganze Zeit Viktor, der mich dieser Gewalt ausgesetzt hat und nicht Vicco? Mein lieber Freund, ich bekomme keine Luft mehr, liege hier zitternd am Boden und der Teil in mir, der vor Schmerzen nach dem Tod ruft, wird immer größer. Immer größer, während dieser Mann, der doch so gut zu mir war, brüllend durchs Zimmer stampft.
Er war nie gut zu mir, oder? Ich habe mir das nur eingebildet. Du hast es gesehen, gehört und gefühlt. Sag mir, habe ich mir das nur gewünscht und es war nie real?
So real wie die Stimmen, das Gebrüll und das Gewimmer, wovon ich glaubte, es nur zu fantasieren. Diese Geräusche, von denen er behauptet hat, dass sie durch eine tiefliegende Furcht aus der Vergangenheit entstanden sind, die ich verarbeiten muss.
Es war echt. So wie mein armer Vicco aussah, war es echt. Er hat Höllenqualen erlitten. Ich weiß es, spüre jetzt den tiefen Schmerz seines geschundenen Körpers, fühle diese Enttäuschung, als ich mich von ihm abwandte. Und doch kann ich ihm nie wieder gehören. Er wird nicht wiederkommen. Mich nicht holen und für mich da sein. Mich niemals mehr auffangen. Mich nicht mehr lieben.
Tausend Gefühle prasseln auf meinen Körper ein und das Einzige, was ich spüre, ist Schmerz.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Dass Viktor vermeintlich derjenige ist, der für meine Qualen im Pearl gesorgt hat, dass er mir seine Zuneigung nur vorgespielt hat und dass ich diese für ihn empfinde?
Oder meine Mutter? Meine geliebte Mama, die durch mich gefoltert wurde und nun tot ist. O Gott, stiller Freund, sie hat wegen mir gelitten. Ich kenne noch nicht einmal den eigentlichen Grund, weiß nur, dass ich an ihrem Tod schuld bin, weil ich nicht gehört habe. Sie ist tot.
Dann ist da noch Vicco. Vicco und seine lauten, schmerzerfüllten Rufe, die ich wieder in meinen Ohren höre und dafür Viktor nicht mehr wahrnehme. Vicco, der da war. Mich in seinen Arm genommen und mich seine Wärme spüren lassen hat. Alles, obwohl ich ihn verraten, beklaut und belogen habe. Ich durfte seinen vertrauten Geruch einatmen und habe mich von ihm abgewandt. Oh, Freund, was bin ich für ein schlechter Mensch. Warum bin ich so und warum hört dieser Schmerz nicht auf?
Das Einzige, was mir geblieben ist, ist die Schuld. Der Schmerz und ein Mann, der mich weiter foltern wird, obwohl ich sein Kind in mir trage.
Scheiße. Ich bin schwanger! Ich bin auch noch schwanger!
Nein, nein, NEIN!
Mein Weinen ist ohrenbetäubend laut, weil der Schmerz mich so auffrisst. Ich will nicht mehr. Kann nicht mehr.
Nimm mich mit. Hole mich hier raus. Töte mich.
Töte mich, wenn er es nicht tut. Bitte. Ich halte es nicht aus. Ich schaffe es nicht länger. Bereite dem Ganzen ein Ende.
Bitte töte mich.
»Hör auf damit, du Psycho!« Er schüttelt mich an den Armen. So wild, dass es mir im Nacken wehtut und es doch egal ist. Es übertrifft den Schmerz in mir bei weitem nicht. »Lass das jetzt!«
Er wirft mich so hart aufs Bett, dass es sich wie Beton unter mir anfühlt. Erst da bemerke ich das Blut an meinen Oberarmen. Laut weinend, weil ich es nicht aufhalten kann, knie ich mich zittrig auf und betrachte das verschmierte Blut an meiner Haut. Sehe die rote Flüssigkeit auch unter meinen Nägeln. Ich habe nicht gemerkt, dass ich mich derart an mir selbst festgekrallt habe. Und dennoch bin ich gefallen. Tief in den Abgrund.
Das hier ist nicht das Fegefeuer. Es ist die Hölle.
Noch immer höre ich dem schreienden Viktor nicht zu. Du auch nicht, oder? Du bist auch so schockiert wie ich, nicht wahr? Ich fühle deinen Schock, Freund. Fühlst du auch meinen Schmerz? Es tut so weh. Du verstehst, warum du mich hier rausholen musst. Verstehst auch, warum der Tod die einzige Möglichkeit ist, dem hier zu entkommen.
Aber sicher bin ich schon längst tot und merke es nicht selbst. Werde gerade für meine vielen Sünden bestraft, weil ich auf Erden kein guter Mensch war.
Ich habe meine Mutter nicht geehrt, nie gedankt für mein Leben. Stattdessen war ich sauer und neidisch, weil sie Männern mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als mir.
Weißt du … ich habe Nilas damals betrogen. Ich habe es nie jemandem erzählt, weil ich mich geschämt habe, aber ich habe ihn mit Vicco betrogen. Es war ein Versehen. Ich wollte es nicht. Vicco hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen, ich konnte es nicht aufhalten. Normalerweise ging ich anderen Jungs aus dem Weg, wollte nie, dass man mir etwas unterstellt oder mich für eine Schlampe hielt, so wie bei meinen damaligen Freundinnen.
Damals wollte ich mir nur einen Milchkaffee kaufen. Aus dem hinteren Bereich kam er heraus. Ich wusste nicht, was er da zu suchen hatte, und ich habe es mich auch nie gefragt. Er war einfach da, mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, und kam auf mich zu. Neben mich lehnte er sich an die Theke und flüsterte: »Hallo, Rose.« Er sagte es so verschwörerisch, als wären diese Worte ein Geheimnis, welches nur wir kennen. Dabei kannte ich ihn nicht, sah ihn nur an jenem Abend, als ich vor dem Kino in ihn hineingelaufen bin. Doch so kam es mir nicht vor. Die Vertrautheit war unwirklich und ich konnte mich ihm und seinem Lächeln nicht entziehen, wurde rot. Bin sogar mit ihm mitgegangen, als er von hinten einen Arm um mich schlang und mich aus dem Lokal schob. Wir sprachen zunächst nicht. Ich folgte ihm in die entgegengesetzte Richtung, als ich eigentlich musste. Unsere Körper sprachen wie alte Freunde miteinander, gingen aufeinander ein und bewegten sich wie von selbst. Plötzlich fand ich mich in einer Seitengasse wieder, was ihn auch kurz verwundert hatte. Es war so, als hätten unsere Beine uns einfach zwei Häuser weiter dorthin geführt. Er nahm mir den Kaffee ab, stellte diesen auf die Mülltonne und sah mich verwundert an.
»Was ist los?«, flüsterte ich verunsichert und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Nichts, Rose. Nichts.« Er schmunzelte und legte seine Hand in meinen Nacken, zog leicht am Haar meinen Kopf in den Nacken und kam mir mit seinem Gesicht so nah, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten.
»Du bist nur so wunderschön.« Dann zog er mich an sich und küsste mich. Seine Lippen an meinen sorgten für eine direkte Explosion, etwas, was ich nie zuvor gespürt habe. Unsere Lippen, Zungen tanzten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Sie kannten einander und ich wusste nicht, woher. Das war so vertraut und dennoch nicht gewöhnlich. Es war wie ein Ankommen. Ich schlang die Arme um ihn, zog ihn noch näher an mich, dass kein Blatt Papier mehr zwischen uns passte, und er drängte mich an die Hauswand, nahm mir jeden Fluchtweg und dennoch wollte ich nie mehr weg von ihm. Seine Hände waren überall an meinem Körper, ich bekam kaum noch Luft und eine Hitze tat sich in mir auf, die mich schmelzen ließ. Trotzdem reichte es nicht. Ich wollte mehr. Mehr von seinen Lippen, mehr von seinem Körper, mehr von diesem Fremden, mehr von diesem Vicco. Meine Hände fuhren unter sein Shirt, spürten seine warme Haut und es reichte immer noch nicht. Viel näher wollte ich ihm sein. Wie von selbst wanderten meine Finger zu seinem Hosenbund und nestelten an dem Knopf seiner schwarzen Jeans, ohne dass von mir je diese Bereitschaft ausging. Doch abrupt beendete er den Kuss, hielt meine Hände mit seinen auf und trat atemlos einen Schritt zurück.
»Scheiße, Rose …« Seine Arme stützte er dann an der Wand rechts und links von meinem Kopf ab. Trotz der kleinen Entfernung spürte ich seinen Atem auf meinen geschwollenen Lippen.
»Was machst du da nur?«
Scham überkam mich, weil ich ihm wirklich so nah sein wollte. Hier in der Öffentlichkeit.
»Ich kann das nicht.«
»Es tut mir leid«, flüsterte ich verlegen und die Hitze schoss mir in die Wangen. Ich wollte weglaufen, habe mich so geschämt, ihn überfallen zu haben. Es war demütigend. Doch er nahm mein Gesicht in seine großen, warmen Hände und zwang mich, ihn anzusehen.
»Es soll dir nicht leidtun. Du hast keine Ahnung, wie schwer mir das gerade fällt.« Eine Hand glitt zu meiner, nahm sie und drückte sie an seinen Schritt. Erneut überkam mich die Scham, als ich seine harte und große Männlichkeit durch seine Jeans spürte.
»Du machst mich unglaublich an, Rose. Aber du bist keins von den Mädchen, die man spontan in der Seitengasse an einer Hauswand fickt.«
Seine derbe Wortwahl löste ein schweres Bauchgefühl in mir aus.
»Du bist viel mehr als das, Rose.«
Er ließ meine Hand los und beugte sich herunter, glitt mit seinen Lippen an meinem Hals entlang, was mich zum Kichern brachte.
»Dafür werde ich mir viel Zeit nehmen, um dich zu genießen«, flüsterte er und der Puls zuckte aufgeregt unter meiner Haut. Dann nahm er viel zu schnell wieder Abstand, drückte mir den Kaffee in die Hand und ging. Kein Wort des Abschieds. Nichts. Er ging und ich starrte ihm enttäuscht hinterher. Mein klingelndes Handy holte mich damals wieder zurück und mit einem Blick darauf sah ich, dass es Nilas war. Weißt du, ich war darüber im ersten Moment enttäuscht. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich mich verspätete, weil ich jemand anderes getroffen hatte. Ich wollte gar nicht mit ihm reden. Denn ich wollte nur ihn. Vicco.
Trotz allem war ich schließlich bei Nilas. Aber ich habe den ganzen Tag an diesen Fremden gedacht, der sich in meine Gedanken geschlichen hatte. Meinen Freund nahm ich gar nicht mehr wahr.
Ich bin ein schlechter Mensch. Habe die Gefühle eines anderen so stark verletzt. Besonders, als ich mich dann schließlich gänzlich für Vicco entschied. Dass Nilas nicht begeistert darüber war, brauche ich dir nicht zu sagen.
Aber das ist noch lange nicht alles. Auch wenn Vicco und Viktor immer sagten, ich sei so unschuldig, war es schon immer eine Lüge, weil sie die Wahrheit nicht kennen. Dir werde ich sie sagen. Dir, weil ich es jemandem erzählen muss, bevor ich für immer gehe. Damit du auch verstehst, warum das hier meine Hölle ist. Meine Strafe.
Aus Neid habe ich meine Freunde verraten. Ja, meine eigenen Freunde. Sie haben immer viel gefeiert, auch wenn Klausuren anstanden. Ich nicht. Ich saß zuhause und habe gelernt. Wollte hoch hinaus. Mein Abi perfekt abschließen und studieren. Ja, das war mein Traum. Dafür tat ich viel. Meine Freunde jedoch nicht. Sie feierten, weil man nur einmal jung ist, und spickten, wenn die Arbeiten und Tests anstanden. Ich fand es nicht fair, dass sie nicht gelernt hatten und dennoch gute Noten schrieben. Teilweise sogar bessere als ich. Du denkst sicher, ich wollte nur das Richtige tun. Aber das ist falsch. Ich wollte nicht, dass sie besser waren als ich, wenn sie schon mehr feiern konnten als ich. Neidisch war ich, nichts anderes. Sie wissen bis heute nicht, dass ich sie verraten habe. Habe sogar mit ihnen gemeinsam geschimpft und sie getröstet, weil sie Sechsen bekommen haben. Ich war ihnen wirklich eine schreckliche Freundin. Kein Wunder, dass es mir auch nicht schwerfiel, mich gegen sie zu stellen, als ich mich zwischen ihnen und Vicco entscheiden musste.
Und dann ist da noch Gino, dem ich zuletzt meine Zuneigung vorgeheuchelt habe. Und Vicco.
Vicco, der vor mir kniete. Dessen Drogen ich weggeschmissen habe, ohne mit ihm darüber zu reden. Du weißt es wahrscheinlich nicht, aber er hat immer alles für mich getan. Den Boden, auf dem ich ging, hätte er geküsst, wenn ich es gewollt hätte. Warum habe ich nicht mit ihm gesprochen? Wieso musste ich handeln und ihn vor etwas schützen, was ich gar nicht kannte? Ich kann mir selbst noch nicht einmal helfen. Warum war ich so egoistisch, so einfältig, über ihn hinweg zu entscheiden?
Siehst du? Ich habe mehr als den Tod verdient, und die Qualen, die ich erlitten habe, waren meine Buße. Aber jetzt …
Jetzt musst du mir helfen. Hilf mir, es zu beenden. Ich schaffe es nicht allein.