Tag 75
Ich weiß nicht, wann Viktor gegangen ist und wann genau ich unter Tränen eingeschlafen bin. Was ich weiß, ist, dass meine Augen so angeschwollen sind, dass sie brennen und ich keine Tränen mehr übrighabe. Ich fühle mich kalt und leer und innerlich tot. Am Fenster stehend denke ich an dich. Wo genau bist du gerade? Was genau tust du? Bist du wirklich gerade mit hier im Zimmer, siehst auf mich und fragst dich wie ich, warum ich nicht einfach selbstständig aufhöre zu atmen, weil der Schmerz zu groß ist? Warum kann ich das nicht selbst entscheiden?
Mehrfach habe ich mich schon im Raum umgeschaut. Nach einer Möglichkeit gesucht, wie ich es beenden kann. Doch jedes Mal, wenn ich eine Idee bekommen habe, musste ich sie verwerfen, weil es nicht funktioniert hätte. Und dann, mein lieber Freund, ist da noch dieses winzige Etwas in mir, dass mich davon abhält.
Denn ich bin schwanger.
Wir wissen ja beide, dass ich es eigentlich nicht will und dass ich mit Sicherheit die schlechteste Mutter abgeben würde, die es je gegeben hat. Dass ich zudem nicht möchte, dass mein Kind solche Qualen erleiden muss wie meine Mama und ich. Aber kann ich einem Kind das Leben nehmen? Werden dafür nicht noch mehr Strafen nach dem Tod auf mich warten? Gibt es etwas nach dem Tod? Bin ich überhaupt dazu in der Lage, es zu Ende zu bringen?
Könntest du es?
Heute, hier am Fenster, wo ich sonst Trost finde zwischen den Bäumen und der Möglichkeit auf Freiheit, sind der Schmerz und die große Frage viel düsterer als der Schatten der Bäume. In mir ist kein Platz mehr für Licht und Hoffnung. Es ist ausweglos, mein Leben ungewiss und ich weiß nicht, was gut oder schlecht ist. Was ich will und wohin ich will. Weder ein Plan noch die Zuversicht halten mich aufrecht. Das Einzige, was ich mir ersehne, bleibt mir für immer verwehrt. Denn ich würde gerne zurückgehen. Zu jenem Abend, als ich Viccos Drogen geklaut habe, um alles anders zu machen. Oder müsste ich noch weiter in die Vergangenheit, um meinen Lebensweg zu berichtigen? Vielleicht müsste ich sogar bis in meine Kindheit zurück, an jenen Nachmittag, als ich meine gleichaltrige Nachbarin Nadja aus Eifersucht, weil sie von ihren Eltern die neue Puppe geschenkt bekommen hat, geschubst habe und sie sich die Knie aufgeschlagen hat. Ja, vielleicht muss ich viel weiter zurück. Da ich wahrscheinlich nie ein guter Mensch war. Fehlentscheidungen, die mein Leben unterbewusst geleitet haben. Alle meine Fehler sind jetzt zu meinen Verfolgern geworden, haben mich in diese Situation gebracht, in der ich mich befinde. Mich tot fühle und gleichzeitig am Leben bleiben muss, weil ich nicht für mich allein denken darf. Genau, ruhiger Freund. Du hast recht, wenn du denkst, dass ich jetzt zumindest nicht so egoistisch sein sollte. Du hast recht. Möglicherweise ist es noch nicht zu spät, alles zu verbessern oder zumindest dem Wesen in mir ein besseres Leben zu geben, als ich es hatte. Ich könnte dem Baby beim Wachsen zusehen und ihm all meine Fehler erzählen, ihm sagen, dass es diese nicht wiederholen sollte. Ja, vielleicht wird dieses Kind zu einem guten Menschen heranwachsen. Zwar nicht meine Fehler wiedergutmachen können, aber dafür glücklich sein. Glücklich und gesund. Fern von dem Leid.
Wenn das überhaupt möglich ist. Ich weiß es nicht. Aber töten kann ich es nicht. Es geht nicht. Verstehst du mich? Oder bin ich naiv?
Leider bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt dazu fähig bin, einen Menschen auf den richtigen Weg zu bringen, wo ich doch selbst so schlecht bin, und zeitgleich glaube ich nicht, dass ich ein Kind töten kann, auch wenn es noch so klein ist. Ein Würmchen in meinem Bauch, das nach Leben ruft. Nein, ich kann es nicht. Beides nicht.
Erschrocken zucke ich zusammen, als sich die Tür lautstark öffnet. Alle meine Gedanken sind verschwunden, als ich sein wutverzerrtes Gesicht sehe, er mit schnellen Schritten auf mich zukommt und meinen Arm umschließt. Die Dunkelheit, die ihn schon immer umgibt, hätte eine Warnung sein sollen. Hast du es geahnt? Hast du gewusst, dass er die Dunkelheit, das Böse ist? Ich weiß es jetzt, während er mich schweigend und grob hinter sich herzieht. Ich traue mich nicht, dagegen anzukämpfen oder einen Laut von mir zugeben, achte nur darauf, nicht zu stürzen, damit er nicht noch wütender wird. Meine beiden Beine sind aus Furcht ganz weich, mein Magen flau und mein Puls schlägt dröhnend durch meinen Kopf. Jetzt werde ich sterben, ich spüre es und du ahnst es sicher auch.
Hilf mir nicht, wenn es so ist, denn dann hat er die Entscheidung für mich übernommen.
»Ich bin fertig mit dir!« Er zerrt mich die Treppen hinunter, ich stolpere und falle doch nicht. Zu stark ist sein Griff um meinen Arm. Wo ist nur das Gute in ihm? War es jemals da?
Du denkst sicher, ich ließe mich täuschen. Du hast recht. Vielleicht habe ich nur das gesehen, was ich sehen wollte. Mich vor den Qualen schützen wollen.
Als er mich in den Flur schimpft, komme ich ins Taumeln und schon steht er mir gegenüber. Ich fühle mich so klein und schwach vor ihm. Wieder packt er mich am Oberarm, löst ein Brennen dort aus. Er zieht mich zur Haustür. Ich wehre mich nicht, auch wenn ich nicht weiß, was er vorhat. Ändern kann ich es sowieso nicht. Doch als er dir Tür öffnet, steht da …
Vicco.
Verwundert schaut er zwischen uns hin und her.
»Vicco? Ich habe dich die ganze letzte Nacht gesucht.« Viktor lässt mich nicht los, zieht mich aber zurück, sodass Vicco, der Mann, dem schon immer mein Herz gehört hat, ins Haus kommen kann, doch er bleibt stehen und schaut misstrauisch auf die Hand, die mich umfasst.
»Lass sie los.« Hörst du, wie wütend er diese Worte knurrt? Das ist er, mein Vicco. Der Mann, den ich kenne, der mich immer beschützt. Genau das weckt mich auf, gibt mir Kraft. Ich reiße mich aus dem Griff und laufe los in Richtung Terrassentür. Doch Viktor ergreift mich, hält mich somit auf, kurz bevor ich die Tür erreiche.
»Wo willst du hin?«
»Lass sie los!« Viccos brüllende, zornige Stimme holt sich meine Aufmerksamkeit, wie auch Viktors, während er mich am Arm zurückzerrt.
»Geh weg von ihr.« Sein Zischen ist eine Drohung, die ich so noch nie von ihm gehört habe.
»Du willst sie immer noch?«
»Sie gehört mir, Vater. Das wird immer so bleiben.«
»Sicher? Auch mit deinem Geschwisterchen in ihrem Bauch?«
»Was?«
Warum tut er das? Warum sagt er ihm das so?
Viccos Gesichtsmimik entgleist.
»Ja, du hast richtig gehört, mein Sohn. Sie ist schwanger.«
Fühlst du auch diese Pein, als Vicco schmerzverzerrt und verzweifelt die Augen weitet und ich sein Herz förmlich brechen hören kann?
Da zieht er eine Waffe! Vicco hält eine Waffe zwischen seinen Fingern und richtet sie auf Viktor! Tu was!
»Vicco, nicht. Bitte«, flehe ich.
»Nein, Rose.«
»NICHT!« Mein Körper setzt sich in Gang. Bewegt sich wie von selbst.
Ein Knall. So laut.
Ohrenbetäubend.