14
Mir rinnt der Schweiß über den Rücken, als ich die letzte Meile zu Wills Haus laufe. Das Geräusch meiner Füße, die über den Asphalt traben, wirkt merkwürdig beflügelnd auf mich.
Ich habe Mum versprochen, zum Abendessen wieder zu Hause zu sein. Samstagabends isst sie gerne schon früher und es liegt bereits genug Spannung in der Luft, dass ich sie nicht auch noch wegen solcher Kleinigkeiten verärgern will.
Mit ein bisschen Glück benutzt Will genau wie Tamra und ich einen Wäschekorb. Ich male mir aus, wie das zusammengeknüllte T-Shirt unbemerkt darin liegt – und darauf mein Blut, das selbst außerhalb meines Körpers purpurfarben schimmert und glänzt.
Hoffentlich! Denn wenn es auch den meisten nicht auffallen würde – Will würde die rotvioletten Flecken sofort identifizieren. Und die Entdeckung, dass ich eine Draki bin, würde uns alle in Gefahr bringen. Kein Draki wäre mehr sicher, nicht einmal Mum und Tamra. Allein, weil sie mit mir verwandt sind, wären ihre Leben verwirkt.
Ich bin fast da. Hinter einer Reihe Bäume erblicke ich eine Villa mit spanischen Dachziegeln und verlangsame meinen Schritt. Ich habe mir die Wegbeschreibung, die Catherine mir am Telefon gegeben hat, gut eingeprägt. Zum Glück hat sie, abgesehen von einem bedeutungsschweren Hmmm, nichts weiter dazu gesagt, nicht nachgebohrt oder gefragt, warum ich wissen will, wo Will wohnt.
Das Tor steht offen. Atemlos renne ich die Einfahrt entlang, als ich plötzlich den Landrover bemerke, der vor der Garage neben dem Haus parkt. Zögerlich bleibe ich vor der geschwungenen Haustür stehen und überlege, was ich als Nächstes tun soll.
Wäre das Leben wie im Bilderbuch, wäre niemand zu Hause und ein Fenster stünde offen oder wäre nur angelehnt. Ich könnte mich reinschleichen, das T-Shirt finden und wäre in fünf Minuten wieder draußen. Aber mein Leben war noch nie wie im Bilderbuch.
Mir bleibt also nichts anderes übrig, als zu klingeln, denn ich kann keinen Tag länger warten. Ich muss das jetzt durchziehen. Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen gehe ich weiter. Bevor ich es mir anders überlegen kann, stehe ich schon auf der Treppe und klopfe an die riesige Flügeltür. Ich höre, wie das Geräusch im Innern widerhallt, als erstrecke sich auf der anderen Seite eine große Höhle oder ein Abgrund. Nervös warte ich, dass jemand kommt. Ich wünschte, ich hätte etwas anderes angezogen als meine gestreiften kurzen Jogginghosen und mein Spaghettiträgershirt. Die Haare habe ich mir vorhin zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der mir locker über den Rücken hängt – nicht gerade mein attraktivstes Outfit.
Als die Tür dann aufschwingt, überkommt mich wieder dieses komische Gefühl und sofort weiß ich, dass Will dahinter steht, noch bevor ich ihn tatsächlich sehe.
Er gibt sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als freue er sich über meinen Besuch. Doch nachdem ich gestern so überstürzt aus seinem Auto geflohen bin, kann ich es ihm wohl nicht übel nehmen.
»Jacinda, was machst du denn hier?«
Schlagfertig wiederhole ich seine Worte der vergangenen Nacht: »Ach, weißt du, ich dachte, ich schau mir mal an, wo du wohnst. So für alle Fälle.«
Will lacht nicht über meinen Scherz, er ringt sich nicht einmal ein Lächeln ab. Aber wenigstens schreit er nicht auf der Stelle das ganze Haus zusammen, weil ein Draki vor der Tür steht. Anscheinend hat er sich sein T-Shirt doch nicht näher angesehen.
»Willst du mich denn nicht reinbitten?«, frage ich hoffnungsvoll.
Er wirft einen besorgten Blick hinter sich.
»Will, wer ist denn da?« Die Tür wird weiter aufgezogen und neben Will taucht ein Mann auf, der die gleichen haselnussbraunen Augen hat. Damit hört die Ähnlichkeit aber auch schon auf. Er ist kleiner als Will, aber drahtig, als würde er eine Menge Zeit im Fitnessstudio verbringen, um seinen Körper zu stählen.
»Oh, hallo.« Anders als Will lächelt der Mann sofort, aber in dem Lächeln liegt keine Wärme – es ist nur eine leere Geste.
»Dad, das ist Jacinda aus meiner Schule.«
»Jacinda«, sagt der Mann freundlich und streckt mir die Hand hin. Es ist, als würde ich dem Teufel persönlich die Hand schütteln. Ich sehe es in seinen Augen, spüre es in seiner Berührung, dass er ganz anders ist als Will. Dieser Jäger würde einen Draki niemals entkommen lassen.
»Mr Rutledge«, bringe ich endlich in einigermaßen normalem Tonfall heraus. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Seine Finger umfassen meine kitzelnde Haut. »Ebenfalls. Es kommt nicht oft vor, dass Will Freunde mit nach Hause bringt.«
»Dad«, mischt sich Will schroff ein.
Schließlich lässt sein Vater mich los und klopft Will auf den Rücken. »Schon gut. Ich höre damit auf, dich in Verlegenheit zu bringen.« Wieder schaut er mich an und sein gieriger Blick macht deutlich, dass er zufrieden ist mit dem, was er sieht. »Jacinda, komm doch rein. Wir sind alle auf der Veranda und grillen gerade.«
»Dad, ich glaube nicht …«
»Aber gerne!«, lüge ich. Gemeinsam mit Wills Familie zu essen steht bei mir etwa so hoch im Kurs, wie mir die Zähne ziehen zu lassen, aber irgendwie muss ich ins Haus kommen. Schließlich geht es nicht nur um mich. Tamra, Mum, das Rudel, alle Drakis sind in Gefahr, solange dieses T-Shirt in diesem Haus ist.
Mr Rutledge winkt mich herein. Ich drücke mich an Will vorbei und trete in die eisige Kälte der Eingangshalle.
»Magst du Rinderbrust, Jacinda? Seit heute Morgen schon steckt eine im Räucherofen, sie müsste jeden Moment fertig sein.«
Will geht neben mir, als wir seinem Dad durch die gigantische Eingangshalle folgen. Unsere Schritte hallen laut über den Fliesenboden. Das gesamte Haus ist von kühler Perfektion beherrscht. An den Wänden hängen leblose Kunstwerke und über unseren Köpfen surren mächtige weiße Ventilatoren, die von Decken hängen, die etwa doppelt so hoch sind wie in einem normalen Haus.
Will flüstert mir ins Ohr. »Was willst du hier?«
Und erst diese Frage macht mir bewusst, dass ich wirklich hier bin, im Unterschlupf meiner Feinde. Ob hier auch die Drakis landen, die sie einfangen? Bevor sie sie an die Enkros verkaufen? Ich spüre, wie ich mich innerlich anspanne, bei so viel Gefahr, die in der Luft schwebt. Tief einatmend zwicke ich mir in den Arm, damit meine Fantasie nicht völlig mit mir durchgeht.
»Ist es für dich so eine schreckliche Enttäuschung, mich zu sehen?«, frage ich und fasse neuen Mut. Vor uns biegt Wills Dad in einen anderen Flur ab. »Letzte Nacht bist du bei mir aufgekreuzt.« Bei dem Gedanken an letzte Nacht verschlucke ich mich fast. Immerhin war ich kurz der Meinung, Will würde mich jagen und sogar bis zu mir nach Hause verfolgen.
Da packt er mich am Arm und hält mich fest. Seine so wandelbaren Augen schweifen suchend über mein Gesicht. Ich merke, wie verwirrt er ist, wie schwer es ihm fällt, mich zu verstehen. Oder zu begreifen, warum ich hier bin.
»Ich will dich wiedersehen, ich konnte seit gestern an nichts anderes mehr denken …« Er hält inne, fühlt sich eindeutig unwohl in seiner Haut. »Nur nicht hier.«
»Will? Jacinda? Wo bleibt ihr denn?«
Beim Klang der Stimme seines Vaters fährt Will zusammen und starrt besorgt an mir vorbei. »Wir können uns woanders treffen. Ich hab dir doch gesagt, wie ich zu meiner Familie stehe. Du solltest einfach nicht hier sein!«, sagt er leise.
»Jetzt bin ich aber hier und ich werde nicht einfach wieder verschwinden.« Ich reiße mich von ihm los, laufe weiter und rufe ihm zu: »Und anscheinend komme ich genau richtig!«
»Jacinda!«, fleht er und in seinem Ton schwingt eine Verzweiflung mit, die ich nicht einordnen kann. Ich bin mir sicher, dass seine erbitterte Entschlossenheit, mich von seinem Zuhause und seiner Familie fernzuhalten, etwas damit zu tun hat, dass er ein Drakijäger ist. Aber was hat das mit mir zu tun? Schließlich weiß er nicht, was ich bin. Nur weil er ein Mädchen mit zu sich nach Hause bringt, muss seine Familie doch nicht gleich Verdacht schöpfen.
In einer Küche voller blitzender Arbeitsflächen und supermoderner Haushaltsgeräte holt Will mich ein. Als wir durch eine Schiebetür auf die Terrasse hinaustreten, spüre ich deutlich Wills Beklommenheit. Mehrere Gesichter wenden sich uns zu und starren uns an. Niemand sagt auch nur ein Wort.
Mr Rutledge deutet auf mich, während er gerade die Klappe des Räucherofens öffnet. »Mal alle hergehört, das hier ist –«
»Jacinda«, fällt ihm Xander ins Wort und erhebt sich aus einem schmiedeeisernen Stuhl, in der Hand eine beschlagene Flasche Limonade. »Will, ich wusste ja gar nicht, dass du jemanden eingeladen hast.«
Angus schaufelt sich eine Portion Kartoffelchips in den Mund, direkt aus der Tüte, und denkt gar nicht daran, aufzustehen oder etwas zu sagen. Mit seinem typisch aggressiven Blick beobachtet er die Szene.
»Hab ich wohl vergessen zu erwähnen.« Will bringt mich zu einem der Verandatische und stellt mich den anderen vor: Xanders Eltern, einer Reihe von Onkeln und Tanten und noch mehr Cousins und Cousinen. Sie alle sind Jäger, wie mir klar wird, zumindest alle über dreizehn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Kleinkind, das Saft aus einem Tetrapak schlürft, oder der Siebenjährige auf der Schaukel mit auf die Jagd gehen. Noch nicht.
Sie alle heißen mich willkommen und mustern mich mit derselben Intensität wie zuvor Wills Vater. Während wir essen, prasseln Fragen auf mich ein: Wo wohnst du? Wo habt ihr vorher gelebt? Was arbeiten deine Eltern? Hast du noch Geschwister? Machst du irgendeinen Sport? Ich fühle mich wie bei einem Interview. Mr Rutledge scheint es vor allem zu interessieren, dass ich renne. Zum Beispiel die vollen sieben Meilen bis zu ihrem Haus.
»Und sie ist schnell«, erklärt Will mit finsterer Miene, als wüsste er zwar, dass Small Talk erwartet wird, er aber eigentlich keine Lust darauf hat.
»Tatsächlich?« Mr Rutledge hebt die Augenbrauen. »Für Langstreckenlauf braucht man ganz schön Ausdauer. Ich war schon immer beeindruckt, wenn jemand ein solches Durchhaltevermögen besitzt.«
Während der Unterhaltung lässt mich Xander, der selbst schweigt, keine Sekunde lang aus den Augen. Nur Will, der neben mir sitzt, beruhigt mich – er und die Luftbefeuchter, die die Terrasse mit Sprühnebel besprenkeln. Dankbar saugt meine Haut die Feuchtigkeit auf.
Als wir fertig sind mit dem Hauptgang, stehen Wills Tanten auf, um den Nachtisch aus der Küche zu holen. Ich sehe meine Chance gekommen und springe auf, um zu helfen. In der Küche behaupte ich, dass ich mal auf die Toilette müsste, und schlüpfe schnell in den Flur.
Vom Haupteingang aus gehe ich die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Lautlos husche ich in meinen Turnschuhen über den roten Teppich, während ich eine Tür nach der anderen öffne und kurz den Kopf hineinstecke, bis ich Wills Zimmer gefunden habe.
Selbst wenn ich nicht spüren würde, dass dieses Zimmer mit den Holzpaneelen an der Wand seins ist, wüsste ich es, weil ihm so ganz die kalte Präzision des übrigen Hauses fehlt. Das Bett ist ordentlich gemacht, aber alles sieht bewohnt und gemütlich aus: Auf einem Nachttischchen türmen sich zahlreiche Bücher und Comichefte. Auf dem Schreibtisch liegt Wills aufgeschlagenes Schulbuch über Literatur, daneben ein halb fertiger Aufsatz. Dort steht auch das gerahmte Bild einer Frau mit Wills goldbraunem Haar, und als ich in das strahlende Gesicht blicke, besteht für mich kein Zweifel, dass es sich um seine Mutter handelt.
Nachdem ich mich von dem Foto losgerissen habe, öffne ich den Kleiderschrank und finde sofort den Wäschekorb unter den Klamotten, die von der Kleiderstange hängen. Als ich eine Weile darin herumgewühlt habe, ziehe ich mit einem Seufzer der Erleichterung das blutverschmierte T-Shirt heraus. Mit zitternden Fingern halte ich es fest, während ich schnell die Schranktür wieder schließe. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Was mache ich denn nun damit?
Als ich vorsichtig in den Gang hinausspähe, kommt mir die Idee, das T-Shirt irgendwo im Freien zu verstecken – vielleicht hinter einem Busch neben der Auffahrt, wo ich es später wieder abholen kann, wenn ich mich erst einmal aus dieser verzwickten Lage befreit habe. Als ich eilig den Flur hinuntertapse, nimmt dieser Plan in meinem Kopf immer klarere Formen an und ich bin ziemlich zufrieden damit, auch wenn ich noch immer auf der Hut bin. Das T-Shirt zu finden war fast schon zu einfach.
Plötzlich höre ich ein Geräusch. Schritte, die die Treppe heraufstapfen.
Panik wallt in mir auf. In Windeseile husche ich in das nächstbeste Zimmer und schließe leise die Tür hinter mir. Die Klinke fest umklammert, lausche ich angestrengt nach der kleinsten Bewegung auf der anderen Seite. Um mich aus dem brennenden Griff der Angst zu lösen, schnappe ich ein paarmal nach Luft und konzentriere mich darauf, meine Lungen abzukühlen. Es könnte mir nichts Schlimmeres passieren, als mich ausgerechnet jetzt zu verwandeln.
Mein Blick bohrt sich in die Tür, als könne ich so auf den Flur dahinter sehen. Schließlich lasse ich die Klinke los und trete einen Schritt zurück, dann noch einen, während ich die Tür keinen Augenblick lang aus den Augen lasse.
Ich wage es noch nicht einmal zu blinzeln. Ich wringe das T-Shirt in meinen Händen, wie um es zu erwürgen – als könne ich es so verschwinden lassen. Wenn ich mich verwandeln und es zu Asche verbrennen könnte, ohne den Feueralarm auszulösen, würde ich es tun.
Die Minuten vergehen und noch immer kommt keiner. Allmählich lässt die Anspannung in mir nach. Wesentlich ruhiger atmend, blicke ich mich in dem Zimmer um, in dem ich mich verstecke.
Und fange fast an zu schreien.
Drakihaut starrt mir entgegen. Überall.
Der Schreibtisch, die Lampenschirme, die Möbel – alles ist mit der Haut meiner Brüder und Schwestern bezogen. Mir wird schlecht.
Meine Knie werden weich. Taumelnd greife ich nach einem Stuhl, um mich darauf zu stützen, als ein sengender Schmerz meine Hand durchfährt und ich sie sofort wieder wegziehe. Ich lasse das T-Shirt fallen und stiere gebannt vor Schrecken die glänzende schwarze Polsterung an, die ich berührt habe: Onyxhaut, die mit ihren schillernden violetten Schattierungen grässlich vertraut wirkt. Das Gesicht meines Vaters schießt mir durch den Kopf. Könnte es sein …
Nein! Mir wird übel vor Wut. Ich schlage mir beide Hände vor den Mund und grabe die Finger in meine Wangen, um einen Schrei zu unterdrücken. Erst als meine Augen zu brennen anfangen, wird mir bewusst, dass ich weine. Eine ganze Flut von Tränen rinnt mir über die Hände.
Trotzdem blicke ich mich noch immer um, verbeiße mir einen weiteren Schrei beim Anblick der Sofakissen, die in die dunkle Bronzehaut eines Erddrakis gehüllt sind – die zweithäufigste Art meiner Gattung, die mit Leichtigkeit Edelsteine, essbare Wurzeln und Trinkwasser aufspüren kann und alles andere, das irgendwie in Verbindung mit dem Erdreich steht. Ihre sterblichen Überreste hier zu finden, in diesem Haus, in dieser Wüste, so weit entfernt von der Erde, die sie lieben, erschüttert mich.
Ich wende mich ab, weil ich die grausamen Beweise für die Ermordung meiner Artgenossen nicht länger ertragen kann.
In dem Moment fällt mein Blick auf eine riesige Landkarte von Nordamerika. Schwarze, grüne und rote Fähnchen sind darauf verteilt. Hier und da stehen sie in Grüppchen, vor allem in bergigen Gebieten, die für Drakis den idealen Lebensraum bieten. Als mir die Bedeutung dessen bewusst wird, laufen mir wieder die Tränen übers Gesicht. Ich wische sie weg und trete näher, während meine Augen sich an all diesen schwarzen Flaggen regelrecht festsaugen. Es sind so viele.
Auf der ganzen Karte gibt es nur zwei rote Fähnchen, die dafür größer sind als die übrigen. Sie stehen völlig alleine da, keine der schwarzen oder grünen Flaggen sind in ihrer Nähe. Eine steckt in Kanada, die andere in Washington.
Sind es Jagdgebiete?
Todeszonen?
Fieberhaft huschen meine Blicke über die Landkarte, suchen das Kaskadengebirge und die kleine Ecke, wo ich mein gesamtes früheres Leben verbracht habe. Und auch dort stecken zwei Fähnchen, ein grünes und ein schwarzes. Vor Grauen knete ich meine Hände so lange, bis ich meine Finger nicht mehr spüre.
Die grüne Flagge steckt in der Region um mein altes Zuhause und daneben wirft die schwarze Flagge ihren Schatten.
Eine einzelne schwarze Fahne!
Automatisch denke ich an Dad. Seit zwei Generationen ist er der einzige Draki aus unserem Rudel, der eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Ich starre die kleine schwarze Flagge an, bis meine Augen zu brennen anfangen. Eine finstere, grässliche Gewissheit breitet sich in mir aus: Diese Fahne markiert einen Mord.
Mir kommt ein furchtbarer Verdacht, der mir die Luft abschnürt. Könnte es sein, dass Will zu der Gruppe gehört, die meinen Vater getötet hat?
Mein Rudel lebt nur wenige Hundert Meilen nördlich von hier. Diese Möglichkeit hätte ich schon viel früher sehen müssen. Und vielleicht habe ich das sogar getan, vielleicht war die Vermutung immer schon da – ich habe es nur nicht wahrhaben wollen. Doch jetzt, mit dieser Karte vor Augen, kann ich es nicht länger ignorieren. Immerhin besteht kein Zweifel daran, dass Wills Familie in unserem Gebiet wildert, das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Wieder fangen meine Augen zu tränen an und schnell blinzle ich ein paarmal. Ich kann das einfach nicht glauben.
Dad hat mich immer verstanden, hat verstanden, dass ich fliegen muss, denn er hat genauso gefühlt. Er hätte nie von mir erwartet, meinen Draki zu unterdrücken. Ich will nicht glauben, dass Will mit dafür verantwortlich sein könnte, dass er starb. Dad, der Einzige, der mich so geliebt hat, wie ich bin.
Heftig schüttle ich den Kopf. Bestimmt war er damals noch viel zu jung, um mit seinem Vater auf die Jagd zu gehen. Das sagt mir mein Bauchgefühl – er ist anders als die anderen. Will hat mich nicht verraten. Unmöglich kann er meinen Vater getötet haben.
Doch seine Familie hätte keine Skrupel gehabt. Und sie sitzen alle nur einen Katzensprung entfernt.
Ich bücke mich nach dem T-Shirt, hebe es auf und will den Raum verlassen, aus diesem Haus entkommen, bevor es zu spät ist. Bevor ich nicht mehr wegkann. Aber es gelingt mir nicht, mich von dieser Wand zu lösen – ähnlich wie bei einem schlimmen Autounfall kann ich einfach nicht den Blick abwenden.
Erst das Klicken der Tür, die hinter mir ins Schloss fällt, weckt mich aus meiner Schreckensstarre.