Zum Geleit

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Das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der aufkommenden Industriearbeiterschaft in Österreich war von allem Anfang an die Geschichte einer tiefen Entfremdung. Die vom Staatsabsolutismus geknebelte Kirche rang zu dieser Zeit um ihre Freiheit vom Staat und konnte diese im Zuge der Revolution von 1848 auch erstreiten. Das änderte aber nichts daran, dass die Kirche an die vergehende ständische Gesellschaft gebunden war und diese aus tragischem Selbstinteresse verteidigte. Die arbeitenden Menschen in den neuen Fabriken rund um Wien waren, so analysierten Zeitzeugen, ein Abfallprodukt der zerfallenden mittelalterlichen Stände der Bauern und des Handwerks, zu denen neben dem Adel und dem Bürgertum auch der Klerus gehörte. Zu begreifen, dass mit der Industrialisierung die ständische Gesellschaft zu Ende ging und eine nach Klassen geteilte Gesellschaft mit einem prekär lebenden Industrieproletariat entstand: Das war den Klerikern, aber auch den Theologen dieser Zeit nicht zugänglich. Sie waren problemblind, vertrösteten – so belegen Predigten und Erbauungsschriften – die Ausgebeuteten auf das Jenseits und organisierten für die Massen der Elenden lediglich Armenhilfe. »Klingelbeutelsozialreform« geschah, so ätzte die junge Arbeiterzeitung 1890. Die Ursachen der Verelendung der wachsenden Arbeitermassen wurden erst von Leo XIII. kirchenamtlich wahrgenommen, fast ein halbes Jahrhundert nach den Analysen von Karl Marx.

Die vorliegende Arbeit geht dieser Geschichte der Entfremdung von Kirche und Arbeiterschaft in Österreich einfühlsam nach. Viele Dokumente, Flugblätter, Reden und analytische Beiträge bilden die Grundlage der Studie und werden so in Erinnerung gebracht.

Die christlich-soziale Bewegung, zur selben Zeit wie die sozialistische Partei entstanden, beendete die Blindheit der Katholiken in Österreich für die Arbeiterfrage. Viele berührende Erfahrungsberichte aus der sozialkritischen Zeitschrift »Vaterland« unter der Federführung des Freiherrn Carl von Vogelsang belegen den neuen, geschärften Blick.

Es freut mich, dass ich als langjähriger Vorsitzender der FCG im ÖGB die Drucklegung dieser ersten Dissertation des Religions- und Werteforschers Paul M. Zulehner aus dem Jahre 1961 ermöglichen konnte. Paul M. Zulehner hatte fast ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Pastoraltheologie inne, der 1774 von Maria-Theresia zur Ausbildung von staatstreuen Religionsdienern in der k.u.k. Monarchie gegründet worden war. Just die vom feudalen Staat gebildeten und von diesem in Dienst genommenen Kleriker waren es, welche die Entfremdung der Arbeiter von der Kirche nachhaltig mitverschuldet haben. Ihre Pflicht war es, die ständische Ordnung zu sichern, Gehorsam gegenüber der Autorität und die Pflicht zum Zahlen der Steuern einzumahnen. Für das Aufkommen der Industriegesellschaft waren sie, dank solcher Aufgaben für den absolutistischen Staat, mit einer professionellen Blindheit geschlagen, als die einsetzende Industrialisierung vielen Menschen unvorstellbares Elend, damit aber das alte gesellschaftliche Gefüge ins Wanken brachte.

Die Geschichte lehrt, dass ohne Gerechtigkeit keine Gesellschaft auf Dauer Bestand hat.

Fritz Neugebauer,

Nationalratspräsident a. D.

Wien, 2015