Vorwort

Dies ist die erste Drucklegung meiner Dissertation aus dem Jahre 1961. Der Titel der damals von Johannes Schasching SJ in Innsbruck betreuten Doktorarbeit lautete: »Das religiöse Verhalten der Industriearbeiterschaft. Versuch einer religionsphilosophischen Analyse«.

Die Entscheidung für die Drucklegung hat mehrere gute Gründe. Erstens führt die Studie ein in das hochsensible Verhältnis der weithin austromarxistisch geprägten Österreichischen Arbeiterschaft zur Kirche. Es war, was die Arbeiterinnen und Arbeiter betraf, weniger ein ideologischer Konflikt, sondern mehr ein politischer. Die Kirche war mit dem politischen Lager der Christlichsozialen eng verwoben. Die Arbeiterschaft hingegen wurde weithin von der Sozialistischen Partei organisiert und vertreten. Zwischen Christlichsozialen und Austromarxisten verschärften sich die politischen Konflikte bis zum Bürgerkrieg. Der Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel ließ auf ­kämpfende Arbeiter schießen. Auch im innerkirchlichen Bereich waren die Spannungen mit Händen zu greifen. Manche Beichtväter verweigerten die Lossprechung, wenn sich der Beichtende als Mitglied der Sozialistischen Partei deklarierte.

Nach 1945 war der politische Kampf zu Ende gegangen. In den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus lernten einander führende Köpfe beider politischer Lager kennen und verstehen. Unter dem Sozialisten Bruno Kreisky und Kardinal Franz König kam es formell zur Annäherung. Es wurde – aus der Sicht der Kirche – auch aus pastoralen Gründen Frieden geschlossen.

Die Aussöhnung auf der Ebene der führenden Persönlichkeiten führt aber nicht von selbst zur Aussöhnung der Menschen. Voraussetzung für eine pastorale Annäherung ist sowohl die Kenntnis der Entfremdungsgeschichte, zugleich aber auch ein gediegenes Wissen um mögliche Anknüpfungspunkte. Von hier aus ergibt sich die Aufgabenstellung der beiden Hauptteile dieser Studie. Der erste Teil geht der Entfremdungsgeschichte nach. Der zweite Teil ist eine empirische Studie über die Religion von Industriearbeitern – Frauen wie Männern.

Im historischen Teil kommen wenig bekannte Dokumente ans Licht. So beispielsweise Flugblätter aus dem Jahre 1848. In diesem Jahr gab es zunächst noch eine Allianz zwischen Bürgerlichen und Arbeitern. Doch im Verlauf der Revolution kam es zur Entfremdung. Arbeiter stürmten Fabriken. Liberale und Sozialisten kämpften zwar politisch gegen das herrschende Regime, trennten sich aber rasch aus sozialpolitischen Gründen.

Der empirische Teil macht einen Sprung in die (damalige) Gegenwart. Mit noch ziemlich einfachen Mitteln wurde eine Repräsentativstudie unter arbeitenden Menschen der VÖEST in Linz durchgeführt. Thema war die Religion von Industriearbeitern. Es sollte sich zeigen, dass der politische Bruch mit der Kirche geschah, nicht aber mit der Religion und deren rituellem Reichtum, wie Taufe oder Beerdigung. Die Auswertung der durch mündliche Erhebung gesammelten Daten geschah damals händisch, Computerprogramme standen noch nicht zur Verfügung. Auch Lochkarten und Auszählmaschinen waren nicht zur Hand. Und dennoch lohnt es sich, die rudimentär präsentierten Ergebnisse zu dokumentieren. Denn es ist die erste größere religions­soziologische Studie in Österreich (und wohl auch darüber hinaus).

Paul M. Zulehner, Wien 2015