Die St. Leonard’s Police Station war ein Achtzigerjahre-Bau, ein Backsteinklotz, der im Schatten der Salisbury Crags kauerte. Er lag L-förmig an zwei sich kreuzenden Straßen, eine großzügige, gläserne Fassade, Drehtüren und überall blaue Verblendungen. Jenny fragte sich, wie viele Menschen wohl in diesem Augenblick in den Zellen saßen, was sie getan hatten und ob sie sich ungerecht behandelt fühlten. Sie war schon einmal auf dem Polizeirevier gewesen, als sie Mitte der Neunziger auf der Napier studiert hatte. Sie war um zwei Uhr morgens in der Schlange vor einem Indie-Club an der Victoria Street begrabscht worden, eine Hand unter ihren Rock und in ihren Schlüpfer, und als sie daraufhin Rabatz machte, schlug ihr einer der Kumpel des Typen ins Gesicht. Die Türsteher schauten weg. Als sie das Revier erreichte, gaben sich die diensthabenden Beamten größte Mühe, ihr süffisantes Grinsen zu verbergen. Wer sich so anzieht, hat’s nicht anders verdient. Ihre Abneigung war offensichtlich. Sie hoffte, es war heute anders, falls Hannah einen Übergriff melden müsste, doch sie bezweifelte es.
»Wollen wir?«, fragte Dorothy.
Jenny folgte ihrer Mum durch die Türen zum Empfang. Dorothy fragte an der Rezeption nach Thomas Olsson, stand dann da und spielte nervös mit dem Riemen ihrer Lederhandtasche. Eigentlich war es mehr ein Tornister, ein zweckmäßiges Ding mit Schnallen.
»Mit dir alles okay?«, fragte Jenny.
Dorothy nickte, wirkte aber beunruhigt. Jenny überkam ein mächtiges Gefühl, als sie ihre Mum so sah. Es war nie einfach zu sehen, wie die Kraft der Eltern abnahm, all ihre Schwächen und Macken zu erkennen. Zu begreifen, dass sie auch nur ganz gewöhnliche Menschen waren, die sich wie alle anderen abmühten, über die Runden zu kommen.
Jenny war einige Zeit zuvor nach Greenhill Gardens zurückgekehrt, immer noch ganz zittrig vom Adrenalin nach ihrer Begegnung mit Bradley. Was zum Teufel war mit ihr los? Wäre es andersherum gewesen, hätte sie sexuelle Belästigung gebrüllt. Aber etwas an seiner Art hatte sie einfach rotsehen lassen. Man musste nicht der beste Seelenklempner der Welt sein, um zu erkennen, dass Craig ihre Einstellung Männern gegenüber versaut hatte, aber das war so lange her, warum tauchte es gerade jetzt wieder auf? Sie musste den Deckel daraufhalten.
Als sie von den Kings Buildings nach Hause gekommen war, hatte sie Mum im Garten vorgefunden, wo sie auf die verkohlte Stelle des Scheiterhaufens starrte. Dorothy berichtete von den Zahlungen, Rebecca in Craigentinny, deren Tochter. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Entweder hatte Jim ein Verhältnis mit Rebecca gehabt, oder Rebecca war seine Tochter, oder vielleicht war auch Natalie seine Tochter. Vielleicht hatte er etwas mit Simons Verschwinden zu tun. So oder so, er war ein Lügner. Er hatte seine Frau angelogen, hatte vor seiner Familie etwas geheim gehalten und Tausende Pfund ihres Vermögens verschenkt. Bei Dorothys eigener treuloser Vergangenheit konnte sie sich nicht wirklich aufs hohe Ross setzen. Aber wenigstens hatte sie nicht gelogen, vermutete Jenny. Soweit Jenny wusste.
Dorothy spielte mit einem Kettchen an ihrem Handgelenk, drei ineinander verschlungene bunte Stränge, zusammengehalten von einem kleinen Knopf mit einem Auge darauf. Hannah hatte es ihr vor vielen Jahren gemacht, und Jenny konnte kaum glauben, dass Dorothy es immer noch hatte. Sie fragte sich, ob sie noch etwas hatte, das Hannah in der Schule gebastelt hatte, die Halsketten und Schlüsselanhänger, Bilder, wahllose Sammlungen von Steinen und Stöcken, im Namen der Kunst bemalt und miteinander verklebt.
Zwei Polizeibeamte in unförmigen stichfesten Westen kamen mit Kaffee in den Händen durch die Drehtür herein und verschwanden nach hinten. Die Frau hinter der Rezeption lächelte sie an.
Jenny wendete sich Dorothy zu. »Wie noch mal hast du Thomas kennengelernt?«
Dorothy lächelte. »So wie wir jeden kennenlernen, wir haben die Beerdigung seiner Frau durchgeführt.«
»Aber du kanntest ihn vorher schon vom Yoga.«
»Er kommt dienstags zum Kurs.«
»Ein Cop, der Yoga macht?«
»Na und?«
»Wusste Dad, dass ihr befreundet wart?«
Dorothy zögerte einen Moment. »Was willst du damit sagen?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Nichts. Hab mich nur gefragt.«
»In welchem Jahrhundert leben wir?«, sagte Dorothy. »Eine Frau darf mit einem Mann befreundet sein.«
»Klar.«
Dorothy schüttelte den Kopf. »Nicht, dass es dich was angehen würde, aber ja, dein Dad wusste, dass ich mit Thomas befreundet bin. Er hatte kein Problem damit.«
Eine Tür der Büroräume öffnete sich, und ein großer Schwarzer in einem maßgeschneiderten Anzug tauchte auf.
»Dorothy, wie schön, dich zu sehen«, sagte er, sein Akzent ein Mischmasch aus Schottisch und einer skandinavischen Sprache. »Kommt mit.«
»Das hier ist meine Tochter Jenny.« Sie drehte sich zu Jenny um. »Und das hier ist Thomas.«
Jenny schüttelte seine Hand; er hatte einen festen Griff, aber eine zarte Haut.
»Dorothy hat schon viel von Ihnen erzählt«, sagte Thomas.
»Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen«, erwiderte Jenny.
Der Besprechungsraum im ersten Stock bot einen wunderbaren Ausblick auf die Salisbury Crags und Arthur’s Seat. Die Gipfel waren mit Touristen und Wanderern übersät, kleine Punkte auf der Silhouette.
Thomas hielt eine geöffnete braune Mappe vor sich. Jenny musterte ihn, als er in den Papieren blätterte. Mitte fünfzig, elegantes Erscheinungsbild, verwitwet. Er war ein echter Fang.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab hier nicht viel, um ehrlich zu sein.«
Er blätterte ein Blatt um, handschriftliche Notizen, ein offiziell aussehendes Formular.
»Ein einfacher Vermisstenfall, nie aufgeklärt. Er wurde von seiner Frau vermisst gemeldet, aber zunächst haben wir nichts unternommen. Zwei Tage später rief sie wieder an, immer noch kein Zeichen, also wurde ein Beamter mit dem Fall betraut. Man hat seine Bankkonten und sein Telefon überprüft, keinerlei Aktivität. Nichts in seiner E-Mail, das war ja noch vor dem Aufkommen der sozialen Medien.«
»Wieso wusste ich nichts davon, wo er doch bei uns gearbeitet hat?«, fragte Dorothy.
Thomas fuhr mit einem Finger über das Blatt. »Officer Daniels hat mit Jim und Archie gesprochen, die beiden haben ausgesagt, nichts zu wissen, es hätte keine verdächtigen Vorfälle gegeben.«
»Die Polizei hat Archie vernommen?«
»Es war keine Vernehmung, nur ein zwangloses Gespräch.«
Dorothy wandte sich an Jenny. »Ich habe Archie gefragt, er hat nichts davon erwähnt.«
»Vielleicht hat er es vergessen.«
Dorothy schüttelte den Kopf. »Officer Daniels, ist der noch hier?«
»Sie«, korrigierte Thomas. »Lorna Daniels hat vor fünf Jahren Mutterschaftsurlaub genommen und ist nicht mehr zurückgekommen.«
Jenny sah aus dem Fenster; jemand ließ auf dem Rasen unterhalb der Steilwände einen Drachen steigen. »Haben Sie Kontaktdaten von ihr?«
Thomas legte das Blatt aus der Hand. »Kann ich besorgen, aber ich bin nicht sicher, ob sie euch helfen kann. Wir befassen uns mit Hunderten von Fällen, und diese Sache ist schon sehr lange her. Sie hat wahrscheinlich nicht mehr als ein paar Stunden damit verbracht, wenn ich an unser Arbeitsaufkommen denke.«
»Trotzdem«, sagte Jenny.
Dorothy seufzte. »Ich muss noch mal mit Archie reden.«
»Glaubst du, er hatte was damit zu tun?«
Dorothy strich ihre Haare hinter das Ohr. Thomas beobachtete sie, und Jenny beobachtete Thomas. Klar, sie waren befreundet, vielleicht aber auch mehr. Jenny versuchte sich ihre Mum vorzustellen, wie sie sich hinter Dads Rücken mit diesem Mann herumtrieb. Bei ihrer Vergangenheit war das nicht unmöglich.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Dorothy.
Thomas klappte die Aktenmappe zu und schob sie über den Tisch. Dorothy legte ihre Finger darauf und schloss die Augen, als versuche sie, intuitiv eine tiefere Bedeutung darin zu erkennen, eine innere Wahrheit.
»Es tut mir leid, dass ich nicht mehr anbieten kann«, sagte Thomas. »Wenn ich sonst noch was tun kann, lässt du es mich bitte einfach wissen.«
Dorothy öffnete die Augen. Sie benötigte einen Moment, um sich wieder auf den Raum zu konzentrieren.
Jenny räusperte sich. »Eigentlich gibt’s ja noch eine vermisste Person, auf die Sie mal für uns einen Blick werfen könnten.«
Thomas runzelte die Stirn und sah von Jenny zu Dorothy, die nickte.