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DOROTHY

Ihr tat das Kreuz weh, während sie zu einem alten Yo La Tengo-Album auf dem Schlagzeug herumschrappte. Es war eine Indie-Band, aber ihre Songs kreisten um Gefühle, hatten eine fast einschläfernde Wirkung, und wenn Georgia Hubley sang und auch Schlagzeug spielte, ließ es irgendwie Erinnerungen aufkommen. Durch die Kopfhörer bekam Dorothy warme Ohren, als sie beim Refrain mit den Ride-Becken einsetzte, ihr Gewicht verlagerte und spürte, wie ihr Rücken ächzte. Seit Jims Beisetzung war sie nicht mehr auf der Yogamatte gewesen, so lange wie seit Jahren nicht mehr, und ihr Körper ließ es sie unüberhörbar spüren. Es war dumm, damit aufgehört zu haben, denn bei dem Training ging es um die totale Verbindung, Körper und Geist im Gleichgewicht zu spüren, aber sie konnte sich nicht aufraffen. Vielleicht verwandelte sich ihre Trauer in eine Depression. Vielleicht bestand auch gar kein Unterschied zwischen beidem. Vielleicht würde sie an gebrochenem Herzen sterben, wie man es schon bei älteren Paaren gehört hatte. Aber ihr Herzeleid wurde durch die Möglichkeit gedämpft, dass ihr Mann ein Mörder und Lügner war. Sie schlug inzwischen viel zu heftig auf das Schlagzeug ein, ertränkte die Melodie, und sie nahm sich zurück, schloss die Augen, versuchte, sich bis zum Ende des Songs zurückzuhalten.

Als das Lied zu Ende war und sie die Augen öffnete, stand Abi in der Tür und wartete auf den Beginn ihres Unterrichts. Dorothy lächelte und machte den Schlagzeughocker frei.

Der Unterricht rauschte nur so vorbei. Dorothy versuchte, sich vollkommen auf das Mädchen zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie hatte Wilco aufgelegt, um sie zu fordern, und Abi war der Herausforderung gewachsen, aber Dorothy konnte an nichts anderes denken als an die Liste der Bestattungen, die unten lag, an die Trauerfeiern, die Jim in den Tagen durchgeführt hatte, nachdem Simon Lawrence als vermisst gemeldet worden war. Es war für die Firma eine überraschend ruhige Zeit gewesen, es gab nur eine Erdbestattung drei Tage nach Simons Verschwinden, dann folgte eine Lücke von fast einer Woche, daraufhin gleich mehrere Einäscherungen hintereinander. Jim könnte die Leiche natürlich über Wochen in einem Kühlfach gelagert und sie erst viel später beseitigt haben. Was jedoch riskant gewesen wäre. Falls er die Leiche in einen der eingeäscherten Särge gelegt hatte, war das das Ende der Spur. Man würde aus den eingeäscherten Überresten nichts mehr ableiten können, keine DNA, und die Aschemenge variierte erheblich in Abhängigkeit einer ganzen Reihe von Faktoren. Also musste sie sich auf die Erdbestattung konzentrieren, mehr hatte sie nicht.

Auf Abis Stirn schimmerte ein Schweißfilm, wo in letzter Zeit einige Pubertätspickel aufgetaucht waren. Außerdem waren ihre Haare fettig, und Dorothy erinnerte sich an Jenny in diesem Alter, irgendwie durchaus ähnlich, überhaupt nicht vorbereitet auf die Welt, aber gleichzeitig war es ihr auch scheißegal gewesen, was wiederum sehr anregend war. Mütter sollten eigentlich wollen, dass sich ihre Töchter aufgeräumt und ordentlich der Welt stellten, aber Dorothy hatte Jennys improvisierte Energie schon immer geliebt, dieses Gefühl von subkultureller Unzufriedenheit. Es erinnerte sie an die kalifornische Gegenkultur mit allem, was dazugehörte, und die überall um sie herum gedieh, als sie ihren ganzen Kram zusammenpackte und nach Schottland kam.

Der Song war zu Ende, und Abi schaute auf, strahlte und schwitzte. Dorothy lächelte sie ermutigend an und wählte einen weiteren Song auf dem iPod.

»Das war super«, sagte sie. »Aber denk nicht zu viel nach, orientiere dich an deinem Bauchgefühl.«

Abi nickte ernst, nahm es auf. Sie war ein tolles Mädchen und würde es in der Welt weit bringen, wozu auch immer sie sich entschied.

Dorothy versuchte, nicht zu viel über alles nachzudenken, aber dieses Grab irgendwo dort draußen ragte bedrohlich in ihr auf, warf einen Schatten über alles.

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Archie war mit Gesichtskosmetik bei einer älteren Frau auf dem Tisch beschäftigt. Dorothy schaute zu, wie er Wangen, Stirn und Hals mit einer Grundierung vorbereitete, sorgfältig und behutsam, als ob er letzte Hand an das kunstvolle Modell eines Menschen anlegen würde.

»Ich habe eine Entscheidung gefällt«, sagte Dorothy, blieb in der Tür stehen.

Archie zuckte zusammen und schaute auf.

Der Geruch von Make-up erreichte Dorothy, darunter etwas wie verrottende Blumen. Ein kühler Luftzug wehte durch den Raum, aber sie spürte, wie sie heiße Wangen bekam.

»In Bezug worauf?«, fragte Archie.

»Ich muss es mit Sicherheit wissen.«

Archie schüttelte heftig den Kopf, hielt den Grundierungspinsel in der Hand. Winzige Puderteilchen rieselten wie Pollen vom Pinsel auf seine Hand.

»Sprich mit der Polizei«, sagte Archie. »Das ist deren Angelegenheit.« Er sah auf Mrs Murdochs Gesicht hinab.

»Du weißt genau, dass die mich nicht ernst nehmen würden«, sagte Dorothy.

»Thomas schon.«

»Nicht mal er kann das schaukeln. Wegen eines leisen Verdachts eine Exhumierung anordnen? Die Hinterbliebenen eines Todesfalls von vor zehn Jahren wegen etwas unnötig aufwühlen, das wahrscheinlich gar nichts ist?«

Archie sah auf. »Genau das ist es, es ist nichts, du hast keinerlei Beweise.«

»Deshalb muss ich in dieses Grab.«

Archie schluckte. »Da mach ich nicht mit.«

Dorothy spürte das Holz des Türrahmens unter ihren Fingern. »Du schuldest mir was.«

»Das ist nicht fair«, protestierte Archie. »Ich glaube, du hast einen Nervenzusammenbruch.«

»Ich war im Kopf noch nie klarer.«

»Du musst mit jemandem sprechen.«

»Ich spreche mit dir.«

Archie legte den Grundierungspinsel weg, wischte sich die Hände ab. »Du sprichst hier von Grabschändung. Das ist illegal. Man wird dich erwischen.«

Dorothy drückte den Rücken durch. »Nicht, wenn du mir hilfst.«

»Tut mir leid, Dorothy, aber das werde ich nicht tun.«

Dorothy hielt sich am Türrahmen fest, presste das Holz, hoffte, dass ein Splitter ihre Haut durchbohrte. »Dann werde ich es eben allein tun.«