Sie trank ihren Kaffee aus und traf eine Entscheidung. Stand auf und verließ das Café, ging im Abendlicht auf dem Kopfsteinpflaster die Gasse hinunter und in den Hof. Sie drückte die Haustür auf, ging zu Liams Atelier und klopfte an. Sie war sich nicht sicher, was sie ihm sagen würde, aber es war Zeit zu reden.
Sie hörte ein Klappern, Pinsel auf einem Tisch, und die Tür wurde geöffnet. Aus der Nähe war Liam ein durchaus attraktiver Mann, hatte grüne Augen und ein markantes Kinn. Er hatte seinen Büroanzug ausgezogen, der jetzt an der Vorhangschiene am Fenster hing, und trug nun eine weit geschnittene Jeans und ein blaues Hemd. Wie es sich an seine Brust schmiegte, konnte sie erkennen, dass er darunter durchtrainiert war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. Sein Akzent war sanfter als der von Orla, er wirkte insgesamt offener. In seinem schwarzen Haar gab es graue Strähnen, über das Hemd verteilt sah sie dunkle Farbkleckse. Seine Hände waren schmal, die Finger lang und ebenfalls voller Farbspritzer.
»Hi«, sagte Jenny und lächelte ihn an. »Ich beabsichtige eines dieser Ateliers zu mieten, und da habe ich mich gefragt, ob ich mich bei Ihnen wohl mal kurz umsehen könnte.«
Er sah sie fragend an, war unsicher.
»Mohammed sagte, es wäre okay«, fuhr sie fort. »Er hat den Schlüssel für meines nicht finden können, meinte aber, ich solle einfach mal herkommen, und irgendwer würde mich schon reinlassen, damit ich mal einen Blick reinwerfen kann.«
Sie wedelte mit der Hand zum Korridor hinter sich.
»Ich hab’s bei ein paar anderen probiert, aber es war niemand da.«
Er sah hinter sich zu der Staffelei mit der Leinwand, an der er gerade arbeitete.
»Klar«, sagte er und öffnete die Tür.
»Danke.«
Sie ging an ihm vorbei in die Mitte des Raums. Der Geruch von Farbe und Schweiß kam ihr entgegen.
»Gutes Licht«, sagte sie und deutete auf das Fenster.
Er kniff die Augen zusammen und betrachtete sie aufmerksam, und sie spürte ein Flattern in der Brust.
»Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragte er.
Sie drehte sich um und hob eine Hand an die Schläfe. »Ich glaube nicht, nein.«
»Sie kommen mir aber bekannt vor.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das höre ich oft, ich scheine ein Allerweltsgesicht zu haben.«
Er biss sich auf die Lippe, dachte konzentriert nach. »Das würde ich definitiv nicht so sagen.«
Sie ging durch den Raum, warf einen Blick auf die Leinwände, die gestapelt an den Wänden lehnten, dieselben, die sie bei ihrem Einbruch bereits gesehen hatte.
»Ist es hier sicher?«
Er stand inzwischen vor seiner Leinwand, ließ sie aber immer noch nicht aus den Augen. »Wenn Sie mich das vor einer Woche gefragt hätten, hätte ich darauf mit einem Ja geantwortet, aber vor Kurzem ist hier eingebrochen worden.«
»Ist irgendwas gestohlen worden?«
Er lachte und schüttelte den Kopf. »Ich schätze mal, es waren keine Kunstfreunde.«
Sie lächelte.
»Ich vermute, sie waren hinter Sachen her, die sie zu Geld machen können«, sagte Liam. »Laptops, irgendwas Elektronisches. Ein Haufen schräger Gemälde von einem Niemand dürfte unten im Pub nicht viele Käufer finden.«
Jenny zeigte auf ein Bild, das auf dem Boden lag. »Ich finde die großartig, die sind überhaupt nicht schräg.«
Das Gemälde zeigte den vagen Umriss eines Hirschs, aber er schien im Wald zu wurzeln, so als wäre er ein missgestalteter Baum, und aus dem Geweih sprossen Blätter und Blüten. Andere Bäume im Hintergrund hatten ebenfalls die Gestalt von Tieren, und eine flüssige Sonne ergoss sich durch skelettartige Auswüchse. Es war wunderschön und gleichzeitig unheimlich.
»Danke.«
»Ich meine es wirklich so«, sagte Jenny und kam zu seiner aktuellen Arbeit. Es war eine Meerlandschaft, Gestalten unter und über Wasser, eine Art Wal-Kadaver mit hervorstehenden Rippen, ein verrottendes Schiff, frei liegende Deckbalken an der Wasserlinie. Umschlungen von seltsamen Pflanzen, purpurner und kastanienbrauner Seetang, leuchtende Rankengewächse hingen an den beiden größeren Objekten, Balance und Bildkomposition exzentrisch und unkonventionell.
»Stellen Sie die Bilder auch aus beziehungsweise verkaufen Sie die?«
Er lachte überrascht. »Nein, nichts dergleichen.«
»Sollten Sie aber.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich rede keinen Scheiß«, sagte Jenny.
Er verbeugte sich. »Sie sind sehr freundlich, aber ich glaube nicht, dass ich so weit bin.«
Sie lächelte über seine Selbstherabsetzung und bot ihm die Hand an. »Ich heiße übrigens Jenny.«
Er schüttelte ihr die Hand, fest und solide. »Liam.«
Sie sah sich weiter in dem Raum um, strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Jetzt weiß ich, wo ich Sie schon gesehen habe«, sagte er.
Sie senkte die Hand und drehte sich um.
»Auf der Beerdigung meiner Schwägerin. Sie haben für das Bestattungsunternehmen gearbeitet.«
Jenny hatte gehofft, dass eine andere Frisur und andere Kleidung ihn täuschen würden, aber er war Künstler, es war sein Job, solche Dinge wahrzunehmen. Oder vielleicht hatte er auch nur sie wahrgenommen. »Ja, ich arbeite da. War das der Trauergottesdienst für Gina O’Donnell?«
Er nickte nachdenklich. »Wie ist es so in dieser Branche?«
»Wenn ich ehrlich bin, ich habe eigentlich erst kürzlich angefangen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist das Familienunternehmen«, sagte sie. »Skelf Funeral Directors. Ich bin Jenny Skelf. Aber ich bin erst dabei, seit mein Vater gestorben ist.«
Liam trat einen Schritt näher. »Das tut mir leid.«
Sie konnte seine Wärme spüren, wie er jetzt so dicht vor ihr stand, und fragte sich, ob er sie anfassen würde, eine teilnahmsvolle Hand auf dem Arm. »Ist schon okay«, sagte sie.
»Nein, ist es nicht. Ihr Dad ist gestorben, das ist alles andere als okay.«
Schweigen legte sich für einen langen Herzschlag zwischen sie, die Geister all der Toten wirbelten Jenny durch den Kopf.
»Dann sind Sie also sowohl Künstlerin als auch Bestattungsunternehmerin?«, fragte Liam.
»Ich denke schon, ja.«
»Was für Sachen machen Sie denn?«
Jenny betrachtete Liams Gemälde auf der Staffelei. »Schwer zu beschreiben.«
Liam nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Es ist schwer, darüber zu sprechen. Deshalb erschaffen wir ja Dinge, nicht wahr, damit wir nicht sprechen müssen.«
Jenny versuchte sich zu erinnern, ob sie in ihrem Leben je etwas anderes erschaffen hatte außer Chaos. Sie dachte an Hannah, ihre Schöpfung, die einzige Sache, die sie und Craig richtig hinbekommen hatten.
»Genau«, sagte sie.
Sie ging im Raum umher, ließ einen Finger entlang der Oberkante einiger gestapelter Bilder gleiten.
»Was denken Sie? Werden Sie es nehmen?«, fragte Liam.
»Was?«
»Das Atelier. Sie sagten doch, Sie hätten mit Mo darüber gesprochen. Welches ist es denn?«
Jenny versuchte sich zu erinnern. »Er hat gesagt, das von Derek wäre frei. Irgendwas von wegen Krankenhaus?«
»Ja, eine Schande.«
»Ich glaube, ich werde es nehmen. Es ist gut, einen eigenen Raum zu haben, einen Ort, an dem man sich verlieren kann.«
Sie berührte eine der Leinwände, sah Liam um Erlaubnis bittend an. Er nickte, und sie ging den Stapel durch, weitere Tier-Pflanzen-Hybride, manche vage menschlicher Gestalt, die Farben und Konturen faszinierend, gleichzeitig vertraut und jenseitig.
»Möchten Sie nicht, dass Leute die hier sehen?«, fragte sie.
»Eines Tages vielleicht. Ich lerne noch zu gehen.«
»Die sind gut.«
»Darum geht es nicht.«
Jenny drehte sich zu ihm um. »Worum geht es dann?«
Liam dachte über die Frage nach.
»Es geht darum herauszufinden, wer man ist«, sagte er schließlich. Er zeigte aus dem Fenster. »Ohne jede Ablenkung. Ohne dass jemand im Weg steht. Herausfinden, was für ein Mensch man sein will. Es geht um den Prozess des Malens, den Schöpfungsakt, nicht um das Endresultat des Gemäldes selbst. Im Leben geht es um Prozesse, nicht um Ergebnisse.«
Das war also sein Geheimnis, er wollte herausfinden, wer er war, indem er malte und Zeit allein verbrachte. Jenny dachte darüber nach, was für ein Mensch sie war, was sie geworden war und was sie sein wollte, aber ihr Kopf war leer. Sie war einfach nur jemand, dessen Vater tot war, jemand, der anderen Menschen folgte und sie ausspionierte, der Ehefrauen half, ihren Männern Fallen zu stellen, damit sie sich scheiden lassen konnten, die mit ihrem Ex-Mann knutschte, obwohl der mit einer neuen Frau verheiratet war, die einen jungen Mann an den Eiern packte, weil er dreist und anmaßend war und sie ihn nicht mochte, die sich inständig wünschte, dass sich ihre Tochter besser machte als sie. Sie spürte die Tränen kommen und rannte an Liam vorbei zur Tür und weiter hinaus in eine Welt, in der sie nicht mehr wusste, wer sie war, falls sie das überhaupt je gewusst hatte.