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JENNY

»Du siehst aus wie ein Zombie.«

Jenny drehte sich um und entdeckte Hannah in der Küchentür. Sie kam herein, stellte den Wasserkocher an und setzte sich Jenny gegenüber an den Tisch.

Es war bereits Nachmittag, da Jenny nach den Ereignissen der vergangenen Nacht lange geschlafen hatte. Es kam ihr wie ein Fiebertraum vor, als wäre es nicht wirklich geschehen oder jemand anderem in einem Paralleluniversum passiert. Aber das Gefühl von Dreck unter den Nägeln war immer noch da, den Geruch der nassen Erde hatte sie immer noch in der Nase. Zu Jennys Erstaunen war Dorothy unten und arbeitete, besprach eine Beerdigung mit dem Ehemann einer älteren Dame, die in der Nacht zuvor verstorben war. Wie schaffte sie es bloß zu funktionieren, körperlich und emotional? Jenny wollte sich nur noch einigeln und die Welt verschwinden lassen.

»Wie ist es gestern Abend gelaufen?«, fragte Hannah.

Jenny wartete, dass Hannah ihr erzählte, sie wisse aus unerfindlichen Gründen, dass ihre Mutter und Großmutter die Nacht mit einer Grabschändung verbracht hatten. Sie hatten das Loch schneller wieder zugeschaufelt, aber harte Arbeit war es dennoch gewesen, vor allem auch getrübt durch Dorothys Enttäuschung über das Nichtvorhandensein einer weiteren Leiche. Die ganze Eskapade war unnütz gewesen.

Dann merkte sie, dass sie nicht geantwortet hatte.

»Wie meinst du das?«

Der Wasserkocher schaltete sich aus, das Blubbern des kochenden Wassers hörte auf.

»Das Gespräch mit Bradley?«

Jenny schaltete gedanklich um, dachte einen Moment nach. »Ich hab gar nichts. Die Polizei hat mit ihm gesprochen, ich vermute mal, die haben seine DNA genommen.«

Hannah begann, einen Tee aufzusetzen. »Nur, weil Peter Longhorn nicht der Vater von Mels Kind war, bedeutet das ja nicht zwangsläufig, dass er sie nicht doch umgebracht hat.«

»Aber es macht es weniger wahrscheinlich.«

»Ich weiß nicht«, sagte Hannah und brachte die Becher an den Tisch. »Vielleicht hat er sie umgebracht, weil er herausgefunden hatte, dass sie von jemand anderem schwanger war.«

»Aber er wusste doch, dass sie einen Freund hatte.«

Hannah zuckte mit den Achseln. »Wer weiß, was sie ihm gesagt hat oder was er selbst herausgefunden hat?«

Jenny blickte auf das Whiteboard. »Und was jetzt?«

»Ich mache mich gleich auf den Weg, um mit Xander zu sprechen.«

»Hast du ihn gestern nicht angetroffen?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, er war noch auf dem Polizeirevier. Aber ich habe seine Mitbewohner aufgespürt.«

»Und?«

»Wahrscheinlich sind sie nicht schuldig, aber sie kannten Mel, und es sind zwei frauenfeindliche Arschlöcher. Ich hab Thomas auf sie aufmerksam gemacht.«

Jenny trank einen Schluck Tee. »Bist du sicher, dass das alles eine gute Idee ist? Sollten wir die Ermittlungen nicht besser der Polizei überlassen?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Ich vertraue der Polizei nicht, dass sie das hier hinbekommen. Ich muss selbst weiter ermitteln.«

Jenny sah wieder zur Tafel hinüber. Hannah hatte die Namen von Faisal McNish und Darren Grant hinzugefügt. »All diese Typen umkreisten Mel. Ich werde Männer nie verstehen.«

»Ich auch nicht.«

Jenny lächelte betrübt. »Wie meine eigene gescheiterte Ehe wunderbar demonstriert.«

Sie fragte sich, wo Schrödinger war, vielleicht unterwegs auf Partnersuche oder Vogeljagd. So oder so ein Macho-Ding.

»Was Dad dir angetan hat, war scheiße«, sagte Hannah. »Ich bin nicht blöd, ich vergöttere ihn nicht.«

Jenny schaute aus dem Fenster auf die in der Sonne funkelnden neuen Gebäude der Quartermile.

»Frauen haben merkwürdige Beziehungen zu ihren Vätern«, sagte sie. Sie ergriff Hannahs Hand. »Deine Gran ist überzeugt, dass mein Dad sie jahrelang angelogen hat.«

»Aber abgesehen von dem Geld gibt es dafür keinerlei Beweis, richtig?«

Jenny musste an Dorothy im Scheinwerferlicht denken, wie sie in dem Grab stand und Knochen durchsiebte, um die Wahrheit zu finden. Aber es gab keine Wahrheit, zumindest nicht von der Sorte, nach der sie suchte. »Nein, gibt es nicht.«

»Na dann.«

Jenny trank ihren Tee in kleinen Schlucken. »Wir denken, unsere Dads wären perfekt, aber wir wissen, wie Männer in der wirklichen Welt sind. Und Dads sind letzten Endes auch nur Männer.« Sie sah Hannah an. »Du hast mit Indy die richtige Wahl getroffen.«

Hannah runzelte die Stirn. »Das ist doch kein Unterschied, Männer und Frauen, hetero und schwul, wir alle versuchen doch nur klarzukommen, niemandem wehzutun, nur läuft das nicht immer so.«

Jenny lächelte. »Wie komme ich nur an so eine weise Tochter?«

Hannah stand auf und betrachtete die Whiteboards. Sie wurden aktualisiert, neue Linien gezogen, Namen durchgestrichen, Begräbnisse durchgeführt, Verdächtige hinzugesetzt.

»Was ist mit deinem Ehebruch-Fall?«, fragte Hannah.

Ein Teil von Jenny konnte nicht glauben, dass die Welt sich nach letzter Nacht immer noch drehte. Sie war davon ausgegangen, dass sie erwischt würden. Wie kann man einfach auf einen Friedhof gehen und jemanden ausgraben und kein Mensch kriegt was mit? So wie sie die Grabstelle hinterlassen hatten, würde es auffallen, wenn jemand genau hinsah. Sie hatten als Erstes die Grasnarbe ausgeschnitten und beiseitegelegt, und nachdem das Loch wieder aufgefüllt war, hatten sie die Narbe wieder über die Erde gelegt und festgestampft, aber die Einstichstellen waren leicht zu erkennen. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand es spitzkriegte, ein Friedhofsgärtner oder ein Angehöriger. Dann würde in der Lokalzeitung ein Aufruf erscheinen, wer etwas wusste, zusammen mit dem Foto eines empörten Ehemanns oder Bruders neben dem Grab. Vielleicht würde man den Sarg noch einmal ausgraben, um sich zu vergewissern, dass Barbara noch da war. Vielleicht gab es eine Videoüberwachung, die sie nicht entdeckt hatten. Vielleicht würde diese verdammte Eule in die Welt hinausposaunen, was sie gesehen hatte.

Sie begriff, dass sie Hannah wieder nicht geantwortet hatte.

»Er ist unschuldig«, sagte sie.

»Wirklich?«

»Ich glaube schon.«

»Dann sind manche Männer also in Ordnung.«

Jenny zuckte mit den Achseln, dachte an Liams Augen, an diese Bilder. »Vielleicht.«

»Der Fall ist also abgeschlossen?«

»Sie hat versucht, ihn hereinzulegen. Sie hat eine Hostess beauftragt, ihn zu verführen, während ich ihn beschattet habe.«

Hannah bekam große Augen. »Wow. Aber er hat nicht angebissen?«

»War nicht interessiert.« Jenny kratzte sich am Hals. »Da ist noch mehr. Seine Frau ist diejenige, die sich herumtreibt. Ich habe sie mit einem Landschaftsgärtner gesehen.«

»Hast du es ihm gesagt?«, fragte Hannah.

»Noch nicht.«

»Wirst du?«

»Ich weiß es nicht. Genau genommen, habe ich den Fall ja nicht mehr, und es geht mich nichts an.«

Hannah sah sie an. »Aber?«

»Ich sollte es ihm sagen.«

»Was hindert dich?«

Jenny stand auf, starrte die Tafeln an, all der Tod und die Täuschungen, all die Geheimnisse und Lügen. »Es ist nicht immer leicht, das Richtige zu tun.«

Sie dachte an ihre Mum, die Barbaras Schädel in der Hand hielt, an einen gesichtslosen Mann, der Mel erwürgte, an Orla, die mit ihrem Gärtner zum Orgasmus kam. Sie dachte an Archie und daran, dass er glaubte, tot zu sein. Dann erinnerte sie sich an etwas von neulich abends, etwas, das sie bis jetzt vergessen hatte. Das Blatt Papier. Als sie Mum tröstete, hatte Archie genau hier in der Küche ein Blatt Papier auf den Boden gleiten lassen. Und als sie wieder hingesehen hatte, war es weg. Zu dem Zeitpunkt hatte sie es nicht wirklich erfasst, aber nach vergangener Nacht war ihr plötzlich klar geworden: Es musste noch eine andere Erdbestattung gegeben haben im fraglichen Zeitraum.

Sie schob ihren Stuhl zurück und ging zur Tür.

»Mum?«, rief Hannah hinter ihr her, als sie die Treppe hinunterging, weiter zur Rezeption, wo Indy hinter dem Schreibtisch saß.

»Ist Archie da?«

Indy schüttelte den Kopf. »Er ist zu einer Abholung ins Western General.«

Jenny ging weiter zum Einbalsamierungsraum. Leer. Sie ging durch in die Werkstatt, wo Archie die Särge zimmerte: niemand da. Sie ging zu seinem Schreibtisch, Werkzeuge und Holzreste, Stoffbahnen für das Sargfutter. Sie betrachtete das Durcheinander, die Regale mit Unterlagen. Sie sah Archies Jacke an einem Haken und ging die Taschen durch, nur Zigaretten, ein Feuerzeug, Minzbonbons. Sie zog die erste Schublade des Schreibtischs auf, durchwühlte den Kram darin, keine Unterlagen, dann die nächste Schublade darunter. Ihr Blick fiel wieder auf die Regale, Ordner mit Rechnungen und Quittungen, Belege aus vielen Jahren, die durchgegangen werden mussten. Es konnte überall sein.

Sie drehte sich um und ließ den Blick über die Werkstatt wandern. Stand da, dachte nach. Auf den Werkbänken lagen drei Särge in unterschiedlichen Phasen der Vollendung. Der ihr am nächsten war noch ziemlich rudimentär, nur vier Seiten, bislang noch kein Boden. Der Zweite war vollständig, hatte aber noch kein Futter. Der Dritte hatte eine Auskleidung, bestehend aus einem seidigen weißen Gewebe. Sie starrte ein paar Sekunden darauf, ließ die Hand über das Material gleiten, vom Kopfende bis runter zu den Füßen. Dann strich sie mit den Händen über die Seiten. Am Kopfende fühlte es sich anders an. Kein raues Holz darunter, sondern etwas Glatteres. Papier.

Sie zog an dem Material, riss Krampen aus dem Holz, zerriss den dünnen Stoff, bis sie das Darunter freigelegt hatte. Sie erkannte das vergilbende linierte Papier, als sie es herauszog und auseinanderfaltete.

Ailsa Montgomery, beigesetzt auf dem Piershill Cemetery.

Das Datum auf dem Blatt Papier war der Tag nach Barbara Worths Beerdigung.