Hannah sah aus dem Fenster auf die Bruntsfield Links. Wolken zogen schnell über den Himmel und warfen Flecken aus Licht und Schatten aufs Gras, in ständiger Veränderung wie ein Schwarm Fische. Sie dachte über Kollektivbewusstsein nach, wie Fische und Vögel sich auf eine Art in Gruppen bewegen, die nahelegt, dass sie Kenntnis über jeden einzelnen Verstand haben. Insekten ebenfalls. Vielleicht ist es bei den Menschen genauso, vielleicht bewegen wir uns in Mustern, welche die Absichten jedes anderen anerkennen, die ein Bewusstsein der Gedanken der anderen haben. Jüngste interdisziplinäre Experimente weisen auf ein kohärenteres Universum hin, Quantenbiologie, Psychologie, Biochemie. Kein Mann, keine Frau ist eine Insel, und all das.
Sie spürte, wie Schrödinger sich an ihrem Bein rieb. Sie kniete sich hin und streichelte ihn, kraulte ihn unter dem Kinn, und er stieß eine Infraschallvariante eines Schnurrens aus, das sie auf ihrer Hand spürte. Überall Signale und Kommunikation.
Sie richtete sich auf und ging zu den Whiteboards. Mels Name stand jetzt an oberster Stelle auf dem Beisetzungs-Board, nicht mehr auf dem Ermittlungs-Board. Sie dachte an die Namen, die mit Mel verbunden waren – Xander, Bradley, Peter. Sie waren miteinander verbunden gewesen, natürlich, nur eben nicht so, wie Hannah es sich vorgestellt hatte. Sie dachte an den Namen, der nicht auf der Tafel stand. Ihr Dad lag im Krankenhaus, sein Körper reparierte sich selbst, bezog seine Energie von einem Tropf und seiner Nahrung, flickte seine aufgerissene Haut, sein Fleisch, Blut durchspülte seinen Körper, seine Neuronen feuerten. Sie stellte sich vor, wie er vor einer Woche auf dem Gras gekniet hatte, Blut aus ihm herausgeströmt war, an einen verlorenen Jungen erinnerte, der um Vergebung betete oder vielleicht auch nur dafür, dass das Leben aufhören sollte. Dann dachte sie an Peter Longhorn, dessen Körper von einem anderen Bestattungsunternehmen beigesetzt oder eingeäschert worden war.
»Hey, du.«
Indy kam durch die Tür. Ein geteilter Blick, wie ein trauriges Lächeln, nur hundertmal stärker, die Last, jemanden zu lieben in einer Welt des Schmerzes.
»Hey.«
Indy streckte die Arme aus, und Hannah ging zu ihr, ließ sich halten wie ein Baby, während ihr Tränen in die Augen traten.
Lange Zeit sprach keine von ihnen ein Wort, da war nur Atmen und Tränen. Schließlich zog Hannah sich zurück und wischte einen Moment mit dem Ärmel über Augen und Wange, schniefte.
»Vic hat nach dir gefragt«, sagte Indy. Sie steckte eine Haarsträhne hinter Hannahs Ohr und ließ einen Moment die Hand auf ihrer Wange liegen.
Hannah ging zum Küchentisch. Auf dem Läufer waren immer noch Blutflecken, man benötigte eine Spezialreinigung, um das rauszubekommen, und die hatte bis nächste Woche keinen Termin frei. Das Blut gehörte sowohl ihrer Mum als auch ihrem Dad, ihre DNA vermischte sich wie damals, als Hannah gezeugt wurde oder wenn sie sich geküsst hatten oder miteinander gevögelt. Sie war die Kombination ihrer Leben, genau wie der Fleck auf diesem Teppich.
»Ich kann da nicht runter«, sagte sie.
Indy beobachtete sie, rührte sich aber nicht. »Sie wären nicht zu Skelfs gekommen, wenn sie ein Problem damit hätten.«
Hannah legte einen Finger auf den Tisch. »Vielleicht haben sie kein Problem damit, aber ich schon.«
»Du musst nachsichtig mit dir sein«, sagte Indy mit schmerzerfüllter Stimme.
»Muss ich?«, sagte Hannah. »Mein Dad hat meine Freundin umgebracht. Und sein eigenes Baby.«
»Genau. Dein Dad, nicht du.«
Hannah sah aus dem Fenster – mehr Wolken, die verzweifelt woanders hinkommen wollten. »Ich kann nichts dagegen tun, was ich empfinde.«
»Es wird eine Weile dauern«, sagte Indy. »Aber es wird besser werden.«
»Fühlt sich aber nicht so an.«
»Ich weiß.«
Indy spielte auf den Verlust ihrer eigenen Eltern an, und Hannah schämte sich wieder. Egoistisch zu sein, wenn andere so viel durchgemacht hatten, die Chengs unten, Indy mit ihren Eltern, Ehefrauen ohne Ehemänner, Kinder ohne Väter, Eltern ohne Töchter.
Sie atmete, ein und aus, während das Raunen der Menschen von unten herauftrieb, eine Tür sich öffnete und schloss, Gespräche in der Luft.
»Was ist mit Peter?«, fragte sie schließlich.
»Es war nicht deine Schuld«, sagte Indy. Sie zögerte, streckte eine Hand aus, ließ sie dann jedoch sinken.
Hannah sah sie schräg an. »Wir wissen beide, dass das nicht wahr ist.«
Indy verschränkte die Arme. »Peter hat seine eigenen Entscheidungen getroffen.«
Hannah rieb an einem unsichtbaren Fleck auf dem Tisch. »Ich habe ihn in die Enge getrieben.«
»Er hatte eine Affäre mit einer Studentin, die gestorben ist«, sagte Indy und hob die Stimme. »Es wäre herausgekommen.«
»Was ist mit seiner Tochter?« Hannah weinte wieder. Eine Träne landete auf dem Tisch direkt neben ihrem Finger, und sie wischte sie fort. »Dieses Kind wird ohne einen Dad aufwachsen.«
Schweigen für eine lange Zeit. Worte spielten keine Rolle, lediglich Schwingungen in der Luft, sich bewegende Moleküle, um Bedeutung von einem Gehirn zu einem Mund zu der Luft zu einem Ohr zu einem anderen Gehirn zu transportieren.
»Komm mit runter«, sagte Indy schließlich. »Für Mel.«
Hannah schaute auf und sah Traurigkeit und Besorgnis in Indys Augen, sie strahlte es aus wie Hitze von einer offenen Feuerstätte.
Sie wischte über ihre Wangen und nickte, ging an Indy vorbei, berührte dabei deren Unterarm, dann weiter hinunter, die Beine wacklig.
Am Ende der Treppe wäre sie beinahe gegen Xander gelaufen, der aus der Kapelle kam.
»Oh, hey«, sagte er und scharrte mit den Füßen.
»Hi.«
»Ich hatte gehofft, dich zu sehen«, sagte Xander. Er trug ein weißes Hemd, das er in seine Jeans gesteckt hatte. »Ich wollte mich entschuldigen. Du hast nur versucht zu helfen, und ich hab mich wie ein Arschloch aufgeführt.«
Hannah sah an ihm vorbei in den vollen Raum, sah das Ende des Sargs, wo Mels Füße auf dem weichen Innenfutter lagen.
»Ich war auch ein Arschloch«, sagte Hannah. »Sie fehlt uns beiden.«
Xander nickte. Er war der trauernde feste Freund, das war leicht zu vergessen. Jeder spielt die Hauptrolle in seiner eigenen Geschichte, muss ein eigenes Leben leben, voller Kummer und Freude, Langeweile und Aufregung, Leben und Tod.
»Okay«, sagte er und ging zur Toilette weiter.
Hannah betrat die Kapelle, zog an ihrem Rock, um ihn zu richten. Sie blieb stehen und beobachtete, wie Yu und Bolin gebeugt in der ersten Reihe saßen. Es schnürte ihr die Kehle zu, ihr Bauch war ein Stein. Vic sah sie und kam herüber, nahm ihren Arm und hielt ihn, ein mächtiger Griff, ein intensives Rasierwasser, sein Körper an ihrem.
»Danke«, sagte er. »Für alles.«
Sie wich zurück und schüttelte den Kopf, schaute sich wieder im Raum um. Es gab kein Entrinnen, sie war ein Teil davon, verbunden mit jedem hier, mit jedem auf dem Planeten, in Kummer ertrinkend, in Traurigkeit versinkend, auf der Suche nach einem Grund weiterzumachen.