Chance und Risiko

Fast jeder Bürger in Deutschland, der etwas Geld übrig hat, kommt früher oder später auf die Idee, Aktien zu kaufen. Egal ob Anwalt oder Postbote, egal ob Abitur oder Hauptschule, egal aus welchem Beweggrund ein Produkt gekauft wird – fast jedes Geschäft läuft nach einem bestimmten Schema ab. Einige bekommen ihre Tipps aus Fachzeitschriften, die anderen bekommen es von einem Freund, der vorgibt, Insider zu sein. Nehmen wir einmal eine Person als Beispiel, die ich Klaus nenne. Klaus ist Lehrer und unterrichtet auf einer höheren Handelsschule VWL. Als Klaus bei Beginn der Finanzkriese im Jahr 2008 einige Aktien analysiert, fällt ihm auf, dass das Solarunternehmen Mustersolar fast 80 Prozent seines Börsenwertes verloren hat und ein extrem niedriges KGV aufweist (KGV = Kursgewinnverhältnis). Rasch entschließt er sich, vor Anstieg der Märkte eine große Stückzahl ins Depot zu legen, denn er hatte lange und viel gespart. Die Mustersolar-Aktie hat zu diesem Zeitpunkt einen Börsenwert von einem Euro pro Aktie. Klaus kauft 20.000 Stück. Wenige Tage später notiert die Aktie bei 1,03 Euro. Klaus ist außer sich vor Freude. Er hofft, dass seine Aktie weiter steigt, doch einige Tage später gibt es einen Kursrücksetzer und die Aktie hat nur noch einen Wert von 0,97 Euro. Klaus nimmt diese Situation gelassen, denn er ist im festen Glauben, dass seine Aktie wieder steigen wird. Als Klaus eine Woche später sein Depot überprüft, stellt er erschrocken fest, dass die Mustersolar-Aktie nur noch 79 Cent wert ist. Eins weiß Klaus genau, wenn er jetzt verkauft, macht er 21 Prozent Verlust. Das kann er nicht hinnehmen. Er hat schließlich VWL studiert und ist um einiges schlauer als seine Mitmenschen. Klaus entschließt sich, aus dieser Situation Kapital zu schlagen und kauft noch mal weitere 20.000 Stück, denn so hat er einen günstigeren Einstiegskurs und wenn die Aktie jetzt steigt, klingelt es richtig in der Kasse. Schockiert stellt Klaus wenige Tage später fest, dass der Kurs nun bei 61 Cent steht. Verkaufen kommt nun erst recht nicht in Frage, denn es steht einfach zu viel Geld auf dem Spiel. Klaus entscheidet sich, einfach zu warten, und wenn die Aktie wieder bei einem Euro steht, verkauft er einfach. Doch es kommt so, wie es kommen muss. Die Aktie gibt noch einmal um 20 Cent nach. Klaus ist den Tränen nah. Er hat nun die Hälfte seines Vermögens verloren, wenn er verkauft. Er fragt seinen besten Freund Peter um Rat, der die gleiche Aktie im Depot hat. Peter versichert Klaus, dass er keine Angst haben und einfach warten solle, bis sich der Kurs wieder erholt. Klaus schaut dem Spektakel weiter zu, kann aber nicht verhindern, dass der Kurs der Mustersolar acht Wochen nach seinem ersten Kauf bei 19 Cent steht. Mit Tränen in den Augen fährt Klaus seinen Rechner hoch, loggt sich bei seinem Broker ein und verkauft alle Anteile, damit ihm wenigstens noch ein kleiner Teil von seinem Vermögen bleibt.

Was hat Klaus falsch gemacht, fragen sich hier bestimmt einige. Fast alles! Ohne auf mein eigenes Handelssystem einzugehen, gibt es hier eine grundlegende Sache, die nicht nur Klaus falsch gemacht hat, sondern fast jeder Kleinanleger falsch macht. Bevor man einen Trade eingeht, muss man für sich definieren, wie viel Verlust man in Kauf nimmt und wie viel man im Gegenzug verdienen will. An der Börse wird man nicht für das Hoffen, sondern nur für das Entscheiden bezahlt. Die meisten Trader sind risikoavers, wenn es um Gewinne geht, und risikofreudig, wenn die Position im Verlust ist. Eigentlich seltsam, oder? Die Ursache für dieses Verhalten, ist recht einfach zu erklären.

Alle Trader haben das Verlangen nach Wohlbefinden. In dem Moment, in dem er verkauft, realisiert er seine Verluste. Genau an diesem Punkt trennt sich die Spreu vom Weizen. Diejenigen, die nicht verkaufen und hoffen, werden von ihren Emotionen gesteuert. Man kann jedes Fachbuch gelesen haben, auf allen noch so informativen Seminaren gewesen sein sowie die erfolgreichsten Handelssysteme kennen und am Ende dennoch zu den Verlierenden gehören, wenn man nicht die Disziplin hat, sein erlerntes Wissen konsequent und ohne emotionale Beeinträchtigung anzuwenden.