Vier
Tja, kleine Städte. Komisch, wie man sich plötzlich wünscht, jemandem in die Arme zu laufen, es aber doch nicht kann. Statt zu versuchen, Foley auszuweichen, sehnte ich mich jetzt nach ihm, doch nach diesem Mal im Streichelzoo sah ich ihn tagelang nicht. Dafür gab ich Mallory die Schuld. Das war besser, als sich die Alternative vorzustellen, die sich Tag für Tag in meine Gedanken einschlich: dass ich ihn missverstanden hatte, dass er sich in Wirklichkeit an diesem Tag mit mir gelangweilt und mich hatte loswerden wollen. Dennoch ging ich in Gedanken immer wieder jeden Augenblick durch, und ich konnte nicht vergessen, wie sein Körper, selbst nachdem der gruselige Pfau weg war, weiter an meinen gepresst blieb.
Ich klammerte mich an diese Erinnerung, versuchte, meine Nerven in den Griff zu bekommen, und spazierte hinüber zu seinem Haus. Ich hatte keine Chance, es wie einen Zufall aussehen zu lassen, denn das Haus der Foleys lag am Ende eines ausgefahrenen Weges, der nirgendwo anders hinführte. Es war ein Bungalow im Stil der 70er-Jahre mit einer Fassade aus Fake-Mauerwerk, aber sauber und gepflegt. Wenn man jedoch näher kam, konnte man sehen, dass die Türen mit tiefen Kratzspuren versehen waren, so als hätten sich die Bewohner gegen Werwölfe verbarrikadiert. Ich zögerte, eine Hand am Gartentor, jetzt sehr nervös und nicht sonderlich bereit, über das Minenfeld von Hundescheiße zu laufen.
Aus dem Augenwinkel sah ich Mallory, eine Hand auf dem Nacken eines riesigen Deutschen Schäferhundes, in der anderen eine Bürste. Sie betrachtete mich mit kritischem Blick. Es lag ein köstlicher Duft in der Luft: Roastbeef und Zwiebeln.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, um eine Sechsjährige anzusprechen. »Ist das dein Abendessen, das da beinahe fertig ist?«
»Nein, es ist das von Apache und Mojave.« Sie sprach es komisch aus, mit Betonung auf der ersten Silbe.
Ich fragte nicht, wen sie da bürstete. Für mich sahen sie gleich aus. »Ist Foley da?«
Der kritische Blick wurde hinterhältig. Nach einer nachdenklichen Pause fragte sie: »Cameron?«
»Ja.« Ich merkte, dass ich rot wurde. Ich hatte vergessen, dass seine Familie natürlich seinen Vornamen benutzen würde. Für mich und alle anderen in der Schule war er immer Foley gewesen, außer für die Lehrer.
Mallory musterte mich noch immer von Kopf bis Fuß. »Wie viel ist es wert? Au!«
Foley, der gerade aufgetaucht war, gab ihr eins hinter die Ohren. »Hallo, Ruby.«
»Wenn ich erwachsen bin, verklage ich dich«, sagte Mallory.
»Wenn du erwachsen wirst, dann deswegen, weil ich ein Scheißheiliger bin«, erwiderte Foley.
Mallory deutete mit dem Kopf auf mich. »Kommt sie rein oder nicht?«
»Nein, ich gehe mit ihr weg.«
»Ich komme mit.«
»Kommst du nicht.«
»Doch. Du kannst mich nicht hierlassen. Apache und Mojave haben noch nicht ihr Essen gehabt.«
»Was? Denkst du, sie werden dich auffressen?«
Mallory schenkte ihrem Bruder ein zittriges, süßes Lächeln. »Werden sie das nicht?«
»Du würdest ihnen die Kehle verstopfen.« Er rollte die Augen und warf mir einen verzweifelten Blick zu, doch er wurde langsam weich. »Du hast auch noch nicht zu Abend gegessen, Mal.«
»Es gibt nur gefrorene Pizza und da ist keine Pfeffersalami drauf. Du kannst mir an der Pommesbude eine bessere kaufen.«
Verwirrt roch ich wieder den Bratenduft.
»Apache und Mojave haben nächste Woche eine Show«, erklärte mir Mallory mit einer Stimme, als würde sie mit einem Vollidioten sprechen. Gerade als sie es sagte, ging die Tür des Bungalows auf, und der verführerische Duft wehte direkt zu uns herüber.
»Mallory! Hast du Moh-jave?«
Der Deutsche Schäferhund erhob sich, streckte sich und tapste dann, ohne Hunger zu haben, hinüber zu Mrs Foley.
»Ich mache die Pizza warm, Kinder«, rief sie. »Dauert zehn Minuten.«
Foley sah Mallory an, die mitleiderregend wimmerte. Er rollte die Augen.
»Nicht nötig, Ma«, rief er. »Wir gehen weg.«
Ich weiß nicht, warum wir im Sommer auf dem Eis herumhängen wollten. Ich weiß nicht, warum irgendjemand das tat, doch auf der Eisbahn war es immer voll. Vermutlich liegt es daran, dass man Schlittschuh fahren kann, ohne eine lange Unterhaltung führen zu müssen. Auf der Eisbahn kannst du eine Pizza kriegen, ohne in der Pommesbude anstehen zu müssen, während der Geruch von Fett in deine Kleidung dringt. Und vor allem ist ein kleines Mädchen stundenlang auf der Eisbahn beschäftigt, ohne dass du dich eigentlich mit ihr – na ja: beschäftigen musst. Mallory sah sich nicht nach ihrem Bruder und mir um, sie sauste einfach davon, klein, clever und unsterblich.
Ärgerlicherweise war ihr Bruder fast so großspurig wie sie. Er gibt an, dachte ich, als er dreimal um die Bahn raste, um sich aufzuwärmen, einen Schlenker machte, den Rückwärtsgang einlegte und dabei elegant den schwankenden Anfängern auswich. Als er das dritte Mal an mir vorbeikam, kam er anmutig gleitend und Eis aufwirbelnd zum Stehen.
»Miss Torvill«, sagte ich.
Er lächelte.
Er hatte seine eigenen Schlittschuhe und musste nicht wie wir anderen die klobigen Plastik-Schlittschuhe tragen, die man auf der Eisbahn ausleihen konnte und die nur sehr vage die Form eines menschlichen Fußes hatten. Ich konnte nicht länger als eine halbe Stunde in ihnen fahren. Foley konnte ewig fahren. Manchmal hätte ich diesen Jungen hassen können.
Dennoch erwiderte ich sein Lächeln.
Seine Haare waren ein paar Zentimeter gewachsen, seit ich bei den Prüfungen im Juni hinter ihm gesessen hatte. Das gefiel mir, obwohl sie ein bisschen unordentlich aussahen und seine dunklen Augen halb verdeckten. Er reichte mir eine Hand.
»Ich fall schon nicht hin«, sagte ich.
»Hab ich auch gar nicht behauptet.«
Gott, das war wirklich preisverdächtig. Ich könnte Miss Tollpatsch im Tollpatsch-Wettbewerb in Tollpatsch-County, Ungeschickthausen sein. Der Junge will deine Scheißhand halten, Ruby. Nun mach schon.
Ich will nicht den Eindruck vermitteln, dass noch nie ein Junge meine Hand gehalten hat. Es war nur so, dass Cameron Foley noch nie meine Hand gehalten hatte. Und wie ich vielleicht schon erwähnt habe, fiel mir in der Gegenwart von Jungen nie was Vernünftiges ein, also konzentrierte ich mich so auf die Berührung unserer Hände, dass meine eigene zu schwitzen anfing. Das machte mich natürlich nur noch befangener und sprachloser: Es war ein solcher Teufelskreis, dass meine Hand einfach aufgrund der Gesetze von Reibung und Haftung und wie immer der physikalische Begriff für verschwitzte Handflächen auch lauten mag aus seiner Hand gleiten würde.
Dieses Phänomen schien im Fall Foley kein Problem darzustellen. Meine Hand fühlte sich vollkommen wohl in seiner, so angenehm wie das Schweigen zwischen uns. Unsere Finger waren ineinander verschlungen, und solange er nicht viel schneller fuhr, schaffte ich vielleicht mehrere Runden, ohne auf den Hintern zu fallen. Ich hoffte es, denn ich war mir nicht sicher, ob ich meine Hand aus seiner befreien könnte, um meinen Fall zu stoppen. Sie schien zu sehr in seiner eingeschlossen.
Ich hing bereits zu sehr an ihm.
Wieder kam er auf diese selbstbewusste Weise gleitend und Eis aufwirbelnd zum Stehen, und indem er die Richtung änderte, fing er mich auf und legte seine Arme um mich. Klar, dass ich dann meine auch um ihn legte. Wir lehnten uns gegen die ramponierte Absperrung und beobachteten die anderen Schlittschuhläufer. In der Mitte des Eises war ein Mädchen, das sich drehte und tanzte und herumwirbelte. Ich sah ihr voller Neid zu, als sie den Fuß ihres hinter dem Kopf angewinkelten Beins fasste und Pirouetten drehte.
»Hey«, sagte Foley und nickte.
Ich riss mich von der Eistänzerin los, um zu sehen, wohin er schaute.
Tja, das war eine Überraschung: Jinn wankte mit Nathan Baird aufs Eis. Normalerweise ging Jinn nur im Winter zur Eisbahn, und dann nur, wenn sie dazu gezwungen wurde. Sie ging mit mir hin, weil ich darauf bestand, doch sie selbst kriegte das Schlittschuhlaufen nicht hin. Ich nahm keinen Unterricht. Ich übte einfach, nicht hinzufallen, und nach und nach wurde ich besser. Jinn versuchte es nicht einmal. Sie war damit zufrieden, auf den Metallstühlen zu sitzen, die fast so bequem waren wie die Schlittschuhe, und mir dabei zuzusehen, wie ich auf dem Eis meine Runden drehte, im Freistil, aber mehr oder weniger sicher auf den Füßen.
Jinn mochte es nicht, wenn ihr kalt wurde, und egal wie aktiv und eingemummt man war, die Kälte stieg vom Eis hoch wie unsichtbarer Nebel. Also saß sie da und zitterte, beobachtete mich und lächelte mir zu. Ich sagte ihr, dass ihr wärmer wäre, wenn sie Schlittschuh laufen würde, aber natürlich antwortete Jinn, dass ihr Hintern, falls sie falle – was mit Sicherheit passieren würde –, am Eis festfrieren würde.
Aber jetzt war sie hier, mit Nathan Baird, und tat ihr Möglichstes, um sich auf den klobigen Schlittschuhen, von denen man Warzen bekam, aufrecht zu halten. Sie konnte kaum in ihnen gehen, geschweige denn fahren, sodass sie fast atemlos vor Lachen war.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass Nathan Baird auch kichern konnte. Jinn fiel auf den Arsch, sobald sie die verbeulte Absperrung losließ. Nathan versuchte, ihr aufzuhelfen, nur um sich auf unelegante Weise zu ihr zu gesellen. Sie versuchten, aufzustehen, hielten sich dabei an den Armen fest, konnten sich aber vor Lachen kaum halten und fielen wieder hin.
»Soll ich hin und ihnen helfen?«, flüsterte Foley mir ins Ohr.
Ich schüttelte den Kopf, wobei mein Ohr kurz und aufreizend seine Lippen berührte. Es gefiel mir, ihn hier so nah bei mir zu haben.
Und es war komisch, aber ich wollte nicht, dass er ihnen half. Er würde ihnen nur in die Quere kommen. Ich wollte, dass Jinn und Nathan Baird für immer herumalberten.
Ich konnte nicht einmal mehr die Eistänzerin beobachten, ich sah nur noch Jinn. Sie trug kein sexy Eislaufkleid oder ein glitzerndes Haarband, aber sie hatte dieses Glitzersteinfunkeln, das von innen heraus kam, und ihr kreischendes Lachen war klirrend wie Eiskristalle. In ihrem hellen Haar glitzerte Eis, dort wo sie flach auf dem Rücken gelegen hatte, von einem Lachanfall geschüttelt, würdelos, aber wunderschön.
Im Vergleich zu ihr sah Nathan, der auch lachte, fürchterlich aus. Fürchterlich. Das passte gar nicht zu ihm. Doch wie elend und verkatert er auch aussehen mochte, er lachte und war glücklich. Man konnte es einfach sehen: unglaublich glücklich. Innere Glitzersteine. Er musste sie sich von Jinn eingefangen haben. Wie Warzen.