Fünf

»Hey, Ruby Red«, sagte Nathan Baird.

Verdammt. Ich dachte ernsthaft darüber nach, meine Haarfarbe wieder zu ändern. Er stand in dem schmalen Gang des Mini-Markts, nahm träge Dosen und Packungen in die Hand, las die Zutatenlisten und versperrte den Weg. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem verblichenen Batman-Logo. Ich hatte mir keinen Korb genommen und die Arme voll mit einem Brot, einer Zwei-Literflasche teilentrahmter Milch und einem Sechserpack Cola. Ich stand herum und sah ihn finster an. Er wusste, dass ich noch da war, wich aber nicht von der Stelle.

Ich hatte keine Lust, mich an ihm vorbeizudrücken, denn ich wusste, dass er es mir schwermachen würde. Ich wich zurück und nahm den anderen Gang. Als ich zur Kasse kam, war Nathan schon dort. Er stützte sich darauf, nahm ein Päckchen Kaugummi, drehte es zwischen den Fingern und wartete darauf, dass die letzte Kundin in der Schlange ihre Kreditkartenquittung entgegennahm, damit er mit Jinn flirten konnte. Als sie sich nicht schnell genug bewegte, stieß er sie praktisch mit dem Ellbogen beiseite. Jinn machte ein böses Gesicht, aber nicht böse genug, als dass man es ihr hätte abnehmen können. Er beugte sich mit diesem breiten, zufriedenen Lächeln über den Ladentisch.

Das Lächeln war immer noch gut, aber ich fand, dass er zurzeit nicht so gut aussah. Seine Haut wirkte verschwitzt und das Weiß seiner Augen war nicht so weiß. Ich hoffte, Jinn würde aufhören, ihn zu mögen, jetzt wo er nicht mehr so sexy aussah, aber Nathan Baird war einer von diesen Typen, der, so heruntergekommen er auch sein mochte, immer noch gut aussah.

Draußen, im Sonnenlicht, war er längst nicht mehr das, was er einmal gewesen war, doch an einem so begrenzten Ort wie dem Mini-Markt strahlte er eine Präsenz aus, die dein Herz höher und deinen Magen Purzelbäume schlagen lässt. Eine Mischung aus unfreiwilliger magnetischer Anziehung und Angst. Charisma nannte Jinn es. Ich traute weder seinem Charisma noch ihm. Er war auch wegen irgendetwas nervös; seine Hände zitterten.

Ich mochte auch nicht, dass er immer bei uns zu Hause war.

Ich weiß nicht genau, wie es dazu kam. Ich weiß nur, dass ich eines Tages aus meinem Zimmer kam, weil ich in der Küche die Musik vom CD-Player hörte und dachte, Jinn habe mit dem Kochen angefangen. Da wollte ich ihr helfen, wie immer. Good Vibrations bedeutete in der Regel Tacos oder Pasta mit Chili: etwas Sommerliches und Scharfes.

Aber als ich zur Küche ging, sah Jinn mich nicht. Sie kochte auch nicht. Sie hatte lediglich den Holzlöffel in die Hand genommen, mit dem sie herumwedelte wie eine Lady mit einem Fächer. Nathan Baird tanzte mit ihr, tanzte diesen schillernden Boogie in meinem Haus, und sie schlang ihm die Arme um den Hals und klopfte mit dem Löffel im Takt der Musik leicht auf seinen knackigen Hintern.

Sie lachte.

Kalte Angst sickerte von meinem Brustbein hinab in meine Eingeweide. Ich dachte daran, was die Dicke Bertha gesagt hatte, dass Nathan Baird ein Nichtsnutz sei. Ich dachte daran, was er die ganze Zeit getan hatte, als er weg war; was ihn ins Gefängnis gebracht hatte, wonach ich aber nicht fragen wollte. Ich hoffte, er würde bald gehen, damit Jinn und ich wieder Jinn und ich sein könnten.

Er legte die Arme locker um Jinns Schultern und tanzte mit ihr in einem Halbkreis, sodass er mich direkt ansah. Es dauerte einige Sekunden, bis er lächelte, und es gefiel mir nicht, als er es tat. Er blinzelte mir langsam zu.

»Ich habe Hunger«, sagte ich.

Er nahm den Blick nicht von mir, aber ich sah, wie er die Augen noch weiter aufriss, als Jinn ihm mit dem Löffel auf den Hintern schlug.

»Die Kinder haben Hunger, Mr Baird.«

Dadurch von mir abgelenkt, wurde er menschlicher. Seine Augen verloren dieses Feindselige, sein Lächeln wurde weicher. Jinn hob seine Arme und ließ sie anmutig von ihrer Schulter gleiten.

»Och«, murmelte er ihr ins Ohr. Als sie aneinander vorbeigingen, sie zum Herd und er zur Tür, hob er die Hand, und Strähnen ihres Haars glitten durch seine Finger. Er sah mich wieder an.

»Ich helfe dir«, sagte ich zu Jinn.

»Nein, ich mach das schon. Geh und setz dich, bis es fertig ist.«

Widerstrebend ging ich hinüber ins Wohnzimmer. Hinter mir spürte ich Nathan wie ein großes Bündel Elektrizität. Ich setzte mich mitten aufs Sofa und breitete die Hände auf den Seiten aus. Ich glaubte nicht, dass er versuchen würde, sich neben mich zu setzen, aber das Risiko wollte ich nicht eingehen.

Er grinste mich amüsiert an, als könne er meine Gedanken lesen, ließ sich in den Drehstuhl neben dem Fernseher fallen und legte ein Bein über die Armlehne. Mit der rechten Hand warf er die Fernbedienung immer wieder in die Luft. Schließlich machte er den Fernseher an, ein Ton war jedoch nicht zu hören. Er tat nichts, um das zu ändern, sondern sah mich einfach weiterhin an.

»Ich mag deine Schwester«, sagte er.

Ich zuckte die Schultern und starrte auf den Fernseher, in dem gerade The Weakest Link lief, auf Münder, die sich schweigend öffneten und schlossen, das grimmige Lächeln von Anne Robinson, das spöttische Kräuseln ihrer Lippen. Nathans Zwilling.

»Ich mag deine Schwester«, sagte er noch einmal.

Getroffen fuhr ich ihn an: »Ich auch.«

»Bist du eifersüchtig?«, grinste er. »Ruby Red.«

Ich zog eine Grimasse, die, wie ich hoffte, Verachtung verriet.

»Du hast dich nicht verändert, seit ich in der Schule war.« Gähnend streckte er die Arme in die Luft. Ich wollte ihm die Fernbedienung wegschnappen, traute mich aber nicht. »Sprichst du immer noch nicht? Wissen die Lehrer, dass du da bist? Sie haben immer über dich geredet – ich habe sie gehört. Sie hatten Mitleid mit dir. Natürlich nicht genug, um etwas zu unternehmen, aber sie fanden dich total seltsam. Nur gut, dass du deine Schwester hattest, was? Ich weiß nicht, was du ohne Jinn tun würdest.«

Ich stand auf. »Ich geh ihr helfen.«

»Tom Jerrold ist auch wieder da.«

Da musste ich mich wieder hinsetzen, weil mir die Knie zitterten. Meine Kinnlade war so erschlafft wie meine Kniegelenke. Es war nicht gerade schön, dabei Nathans höhnischem Lachen ausgeliefert zu sein, aber ich wusste einen Moment lang nicht, wie ich meine entgleisten Gesichtszüge wieder unter Kontrolle bringen sollte. Schließlich schluckte ich. »Warum?«

»Arbeit. Er hat einen Job in Roscoe Geddes. Möchte in der Nähe seiner Familie sein, jetzt da sein Bruder nicht mehr im Krankenhaus ist.« Nathan beobachtete mich aus dem Augenwinkel, während er mit der Fernbedienung herumspielte. Plötzlich richtete er sie auf mich. »Klick! Hast die Kinnlade wieder zugeklappt.«

Hatte ich. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, zuckte ich wieder die Schultern.

»Das war Scheiße, was Alex, der kleine Wichser, da gemacht hat. Findest du nicht auch? Springt einfach vom Dach.«

»War nicht seine Schuld«, sagte ich.

»Klar war es das! Wer ist denn gesprungen? Mieser kleiner Penner. Hat’s nicht mal richtig hingekriegt. Gab es in Glassford kein Dach, das hoch genug war? Völlig durchgeknallt. Hatte er Drogen genommen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Echt nicht? Glaubst du nicht? Dann ist er ein noch verrückterer Penner. Muss jetzt noch ein erbärmlicherer Anblick sein, denkst du nicht? An einen Stuhl gefesselt.« Er lachte. »Wie hat er denn ausgesehen? Betrunken?«

»Er war einfach nur traurig«, sagte ich, bevor mir klar wurde, auf was ich mich da einließ.

»Im altmodischen Sinn«, sagte Nathan. »Oder, nein, beide Arten. Hatte er die Augen geschlossen?«

Ich schüttelte den Kopf, spürte, wie sich mein Rückgrat einrollte, und hoffte, ich wäre bald eine undurchdringliche Kugel wie eine Assel. Ich hätte einen Panzer gebrauchen können.

»Echt? Hatte er nicht? Hast du so genau hingesehen?«

»Nein«, murmelte ich.

Nathan zwinkerte mir zu. »Keiner ist perfekt, oder, Ruby Red? Brauchst dich nicht schlecht zu fühlen. Selbst wenn du grässlich zu ihm warst, dem armen Kleinen. Ich frage mich, ob Tom sich schlecht fühlt? Weißt du, wo er jetzt weg ist und so. Weggegangen ist wegen dem Job und so. Vielleicht hat Alex ihn ja auch völlig heruntergezogen.«

Bei Nathans Hetzerei hatte ich ganz vergessen, wie wir überhaupt auf das Thema Alex gekommen waren. Der Gedanke an Tom fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich stand halb auf und schaute voller Panik zur Küche hinüber. Ich hörte das Klappern von Töpfen, hörte das Klatschen von Jinns nackten Füßen auf dem Küchenboden und wie sie einen Song von Marvin Gaye mitsang.

»Er war in Edinburgh«, sagte ich. »Tom.«

»Ja. Stell dir vor, du ziehst aus Edinburgh weg und kommst hierher zurück! Wenn du nicht musst.«

»Warum bist du zurückgekommen?«

Er machte große Augen. »Dass du das fragst!« Er lachte, lachte noch einmal, als ob mein Mut ihn kitzeln würde.

Er antwortete mir jedoch nicht. Er drehte den Stuhl zum Fernseher hin, stellte den Ton an und wechselte das Programm. In den Sechs-Uhr-Nachrichten sprach eine weinerliche Frau auf einer Pressekonferenz. Ihr Mann hatte den Arm um sie gelegt und der Polizist neben ihr hatte ein professionell grimmiges Gesicht aufgesetzt. Ich erkannte sie: die Eltern des dritten Mädchens. Das war Monate her. Gab es irgendeine Entwicklung? Eine Festnahme?

Oh, nein, es ging um eine Rekonstruktion. Ein Mädchen, das von hinten aussah wie Mädchen Nr. 3 ging eine belaubte Straße entlang. Sie tat so, als ob die vielen Pressekameras nicht da wären, und schwang ihre weiße Pseudo-Pradatasche hin und her. Sie bog in eine Gasse ein – ein junges Paar kam aus dieser Gasse heraus, schaute sich nach ihr um und ging weiter in die entgegengesetzte Richtung. Mädchen Nr. 3 ging weiter, einem rekonstruierten Tod entgegen, und das war’s.

(Ich nenne sie Mädchen Nr. 3, aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Mädchen sterben die ganze Zeit. Ich habe sie nicht miteinander in Verbindung gebracht, warum sollte ich? Ich bin mir nicht sicher, ob sonst jemand es tat. Außer der offensichtlichen Person).

Ich legte eine Hand über ein Ohr, versuchte nur halb, nicht zuzuhören, als der Reporter die Geschichte ihres elenden Tods rekapitulierte – als ob wir es nicht schon hundert Mal gehört hätten, als ob wir nicht bereits alles wüssten, außer dem wichtigsten Punkt. Ich fragte mich, ob sie wohl je ihren Mörder finden würden, ob die Geschichte ihres Endes sich ändern und mutieren würde, wie ein Mythos, wie bei Stille Post.

Nathan schüttelte den Kopf, so als würde die Widerwärtigkeit der Welt ihn anekeln, so als hätte er das Ganze nicht gerade fasziniert beobachtet. Es ging jetzt um irgendetwas Politisches, also zappte er von einem Programm zum anderen, bis er Die Simpsons fand. Er fragte mich nicht, was ich sehen wollte. So als wäre es sein Fernseher! Das hätte mir eine Warnung sein sollen.

Er seufzte, als sie Marge und Lisa wegen der Werbung unterbrachen, und sagte es wieder, fast zu sich selbst.

»Ich mag deine Schwester wirklich.«

Er ging also nie. Das heißt, er ging nur, um seine Sachen zu holen. Nicht dass es ein richtiger Umzug gewesen wäre, aber mehr und mehr von seinen Sachen tauchten im Wohnzimmer und im Bad auf, und plötzlich blieb er nicht mehr nur noch jede dritte Nacht oder jede zweite Nacht: Er war die ganze verdammte Zeit da. So kommt man zu einem Familienmitglied, ohne überhaupt zu wissen, dass es passiert.

Er gab Jinn nichts für die Miete, was er mir gegenüber so begründete, dass er keinen extra Platz beanspruchte. Ich gab ihm nicht recht. Er nahm meinen Raum ein. Er nahm meinen Raum neben Jinn auf dem Sofa ein. Er verschärfte die Luft. Es war kein großes Haus, und es war genau richtig für uns beide gewesen, verfallen, aber gemütlich. Nathan Baird saugte den Spaß und den Sauerstoff aus unserem Zuhause und er nahm mehr als ein Nathan-Baird-großes Stück Raum ein. Ich hasste es, ihn morgens in der Küche anzutreffen, mit offenem Hemd, um seinen Brustkorb zu zeigen, oder einfach mit nacktem Oberkörper. Er interessierte sich nicht für mich, und er wusste, dass ich mich nicht für ihn interessierte: Er stellte sich zur Schau, um mich zu verspotten. Ich schlafe mit deiner Schwester, wollte er damit sagen. Werd fertig damit.

Es war nicht so, dass ich nicht sehen konnte, warum sie auf ihn stand. Ich kapierte, dass er diesen Charme besaß, den Charme des aalglatten, unartigen Jungen. Ich wünschte mir nur, Jinn würde es nicht sehen. Sie war schon immer verrückt nach ihm gewesen, selbst in der Schule. In der Schule hatte er sich nicht an nur ein Mädchen binden wollen, aber damals war er auf herkömmlichere Weise attraktiv gewesen. Jetzt schien es ihn glücklich zu machen, mit Jinn zusammen zu sein. Kein Wunder, wo sonst würde er kostenlos ein Dach über dem Kopf und in der Mikrowelle zubereitete Mahlzeiten bekommen? Denn sobald er eingezogen war, hatte sie keine Zeit mehr, Käsemakkaroni zu kochen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, Sex mit Nathan Baird zu haben.

»Was hast du für’n Problem mit mir, Ruby?«, fragte er mehr als einmal.

Mein Problem war, dass Jinn glücklich war. Mein Problem mit Nathan Baird war, dass er recht hatte. Ich war eifersüchtig. Wir waren keine Drei-Personen-Familie. Nicht wir drei.

Und er konnte Jinn nicht einmal in Ruhe lassen, wenn sie bei der Arbeit war. Er hing zu viel im Mini-Markt rum, was der Dicken Bertha missfiel. Und hier standen wir jetzt und kämpften schweigend und so verbissen um Jinns Arbeitsbereich, wie wir zu Hause darum kämpften, sie zu besitzen.

Ich lud meine Lebensmittel auf dem Ladentisch ab und durchbohrte ihn mit meinem Blick, doch er beachtete mich nicht. Er beugte sich vor und küsste Jinn auf die Nase, was sie zum Lachen brachte.

»Ich hole die für dich, Ruby.« Jinn sah mich nicht einmal an. Sie deutete nur mit den Fingern vage in meine Richtung, ganz konzentriert auf dieses dünne, harte, lächelnde Gesicht.

Ich beobachtete sie, unfähig, mich zu bewegen, zum Teil wegen des hartnäckigen Bedürfnisses, bemerkt zu werden, aber vor allem weil mich der Blick, den sie austauschten, faszinierte.

Ich mochte Foley – mochte ihn schon seit einer Ewigkeit –, hatte ihn aber bis jetzt noch nie so angesehen. Ich fragte mich, ob ich es jemals tun würde, fragte mich, ob er sich vortäuschen ließ, und während ich mich dies fragte, ging ich dazu über, Nathans Gesicht zu studieren. Wenn dieser Blick sich vortäuschen ließ, täuschte er ihn dann vor?

Es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden, es nämlich irgendwann bei Foley auszuprobieren. Ich knabberte an meiner Lippe und konzentrierte mich darauf, ihn mir einzuprägen. Die Intensität und die Exklusivität. Das Lächeln, das nicht ganz ein Lächeln war, das einen Anflug von Ernsthaftigkeit hatte. Ich hätte gern gewusst, ob dies das erste Mal war, dass sie einander so ansahen, und ob sie sich wirklich ehrlich liebten, denn das war der Eindruck, den ich bekam.

Es war nur, weil ich es so aus der Nähe beobachtete, nur weil ich Teil der Atmosphäre war und nie den Mund öffnete. Es war nur, weil Jinn so an mich gewöhnt war, dass ich auch ein extra Arm von ihr oder so etwas hätte sein können. Sie hatten vergessen, dass ich da war, und so sah ich, wie sie vier Päckchen Embassy Regal in seine wartenden Hände gleiten ließ.

Ich wollte es der Dicken Bertha erzählen, aber wie hätte ich das tun können? Bertha fuhr total auf Jinn ab, dachte, die Sonne scheine aus ihrem Arsch, und bildete sich schwer was darauf ein, dass sie sie hatte halten können, trotz der Verlockung, zu Tesco nach Glassford zu gehen, wo man den Angestellten Zusatzleistungen bot. Die Sache war die, dass auch Jinn total auf Bertha abfuhr. Deswegen wollte es mir nicht in den Kopf, dass sie diese Frau beklaute. Was mich am meisten quälte, womit ich am meisten zu kämpfen hatte, war die Tatsache, dass Nathan Baird nicht einmal rauchte.

Der Sommer in jenem Jahr war einfach sagenhaft. Der Sommer war Jinns Glücksjahreszeit, weswegen ihr der beste Sommer seit Jahren Glück hätte bringen sollen, mehr als seit Jahren. Vielleicht tat er das ja auch, wenn man bedenkt, dass sie sich in Nathan Baird verliebte, doch das ließ ich nicht gelten und die Dicke Bertha auch nicht.

Wie sich herausstellte, war die Dicke Bertha auch nicht dumm.

»Ich hab Nathan Baird Ladenverbot erteilt«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Er wird ihn nicht mehr betreten.«

Sie saß mit Foley und mir im Gras und machte früh Mittagspause, damit sie die Sonne genießen konnte. Mallory tobte mit einem kleinen Jungen herum, schubste ihn in Blumenbeete und wurde von ihm zurückgeschubst, wobei sie ausgelassen und verärgert zugleich kreischte. Es war höllisch, und Bertha hatte ihre Schuhe ausgezogen und tauchte ihre geschwollenen Knöchel in den kleinen Bach, der auf seinem Weg zum Fluss und zum Meer durch den Dot Cumming Park floss. Ich hörte vom Laden her das Geräusch von Kisten, die aufeinandergestapelt wurden. Molotows verkauften sich schnell bei diesem Wetter, sodass der Aufblasbare George wieder da war. Er war beinahe damit fertig, die leeren Kisten auf seinen Laster zu laden, sodass er sich bald zu uns gesellen würde – ein weiterer Grund dafür, weshalb Bertha so früh Mittagspause machte.

Foley legte sich zurück ins Gras. »Das hätten Sie schon eher tun sollen«, murmelte er.

»Danke für deinen Rat zur rechten Zeit«, sagte Bertha sauer. »Das ist mir auch klar.«

»Was hat er gemacht, Zeugs geklaut?«

»Und meine Mädchen abgelenkt.« Sie warf mir einen ernsten Blick zu. »Stimmt’s, Ruby?«

Sollte heißen, Jinn abgelenkt. Ich fragte mich, ob sie wusste, dass Ablenkung nicht das einzige Problem war. Ich konzentrierte mich einfach aufs Meer, auf das Spiel der Brise, die die Oberfläche des Wassers streichelte und sie erzittern ließ, so als würde man das Fell einer Katze in der falschen Richtung streicheln. Auf dem Meer muss es eine Ecke kühler sein, dachte ich. Ich dachte an meinen grün-weißen Ball und hätte gern gewusst, ob er es je bis Amerika geschafft hatte. Offensichtlich dachte ich über alles Mögliche nach, außer über eine Antwort für Bertha.

»Was für ’ne boshafte Zunge du doch hast.« Bertha zuckte die Schultern und zündete sich eine neue Zigarette an. Ich überlegte, was sie wohl mit den halb gerauchten machte, denn so sorgfältig sie die auch wegsteckte, sie schien sie nie wieder zu verwenden.

»Es passt gar nicht zu deiner Schwester, so dumm zu sein«, bemerkte Bertha.

Foley öffnete ein Auge und unsere Blicke trafen sich. Ich deutete ein Kopfschütteln an und beschwor ihn innerlich, nichts zu sagen. Bertha wusste wahrscheinlich nichts davon, dass Jinn für Nathan klaute. Sie meinte nur, dass sie dumm in der Auswahl ihrer Freunde war. Und wie hätten wir ihr da widersprechen sollen?

Glücklicherweise begriff Foley sofort, was ich meinte. Er fragte nicht.

»Fertig, George?«

Bis zu diesem Moment, in dem er sich neben Bertha niederließ, hatte ich nicht gewusst, dass der Aufblasbare George wirklich George hieß. Er verlor in ihrer Gegenwart seine Schüchternheit. Jetzt saß er ganz nah neben ihr und neigte sich auf eine Weise zu ihr hinüber, die deutlich machte, dass ihr Raum sein Raum war. Ich hätte erwartet, dass sie sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurückziehen würde, doch stattdessen neigte sie sich zu ihm hinüber. Jetzt berührten sich ihre Schultern, doch das schien ihnen nicht peinlich zu sein. Mit Sicherheit nicht so peinlich wie mir.

»Hallo, Ruby«, sagte George. Er ignorierte Foley. Seine rosigen Wangen waren in der Sonne noch rosiger als sonst.

»Ich wette, du hast viele gute Wörter im Kopf, Ruby«, sagte er.

»Ja«, sagte ich.

Bertha seufzte. »Sie behält sie gern für sich, unsere Ruby. Manchmal finde ich das ein bisschen unhöflich.«

Als sie aufstand und davonstolzierte, war ein grüner Fleck auf ihrem ausladenden Hinterteil zu sehen. Normalerweise hätte ich sie zurückgerufen und wir hätten darüber gekichert, doch diesmal schien dies nicht der richtige Moment zu sein.

»Das wird schon wieder mit ihr«, sagte der Aufblasbare George, der Streit hasste. »Sie ärgert sich ein bisschen über deine Schwester. Jinn wird schon über diesen Nichtsnutz Baird hinwegkommen, oder? Sie ist zu nett, um es nicht zu tun.«

Er war auch nett. Ich lächelte ihn an. Ich hoffte, dass er recht hatte, und es tat mir leid, dass Bertha wegen mir davongestapft war, gerade als er sich zu uns gesetzt hatte. Deswegen schenkte ich ihm ein wirklich aufrichtiges Lächeln.

»Sie sollte in dieser Molotow-Werbung zu sehen sein«, sagte er und nickte. »Deine Jinn. Das hab ich schon immer gedacht.«

Ich war stolz wie Oskar, dass er das sagte, ja, ich freute mich so darüber, als sei er der Marketingchef seiner Firma statt nur ein Auslieferungsfahrer. Die Molotow-Werbung war ganz Sonnenlicht und Lachen, Mädchen und Jungen, die vor Licht und Gesundheit glitzerten, die einander über den Sand jagten, in den Untiefen herumtollten, freundschaftlich die Arme umeinander legten und Molotow-Flaschen an ihre perfekten lachenden Lippen hielten. Sie wurden nie betrunken und übergaben sich hinter einer Sanddüne. Es hatte Beschwerden über diese Werbung gegeben: So ein fetter Typ hatte im »Holyrood«, unserem Parlament, gegen die Verherrlichung von Alkohol gewettert.

Aber die Werbespots wurden nicht verboten, denn der fette Typ verlor die Abstimmung und ertränkte anschließend seinen Kummer in der Parlamentsbar. Und die Molotow-Mädchen und -Jungen spielten weiter im ewigen Sonnenlicht, ihr goldenes Haar flatterte weiterhin in der Brise und ihre Haut leuchtete. Sie waren wie Engel, ungezogene Engel, und auch der Soundtrack war ziemlich cool. Jinn wäre ein perfektes Molotow-Strandgirl.

»Sie sollte was in der Art machen. Sie sollte zur Schauspielschule gehen. Oder Model werden oder so was.« Der Aufblasbare George stand auf und drückte seine Kippe im Gras aus. Er lächelte mich schüchtern an.

Es war deutlich, dass er unbedingt noch ein bisschen mit Bertha plaudern wollte, deswegen war es nicht nötig, etwas zu sagen. Ich erwiderte einfach nur sein Lächeln. Als er weg war, atmete Foley, der noch immer flach auf dem Rücken lag, erleichtert auf.

»Endlich Ruhe«, sagte er.

»Sei nicht gemein.«

»Er ist ein armer Kerl. Läuft ihr nach wie ein junger Hund.«

»Ich finde es süß«, sagte ich. Ich hatte eigentlich den Nathan-Blick ausprobieren wollen, aber jetzt war ich sauer auf Foley.

»Ja, schon gut.«

»Sie tun nichts Unrechtes.«

Er öffnete ein Auge und grinste mich an. »Glaubst du nicht, dass sie vögeln?«

Ich wurde rot. Schon allein der Gedanke! »Sei nicht albern.«

»Warum nicht? Bertha hat zu Hause diesen Idioten am Hals. Und ich glaube nicht mal, dass Mr Bertha so krank ist.«

Ich hatte denselben Verdacht, war aber nicht in der Stimmung, Foley zuzustimmen.

Foley drehte den Kopf zur Seite, um mich anzusehen. »Oh, tut mir echt leid. Komm her.« Er streckte einen Arm aus. Der Ärger über ihn lag im Widerstreit mit meinem Selbstmitleid und dem Bedürfnis nach einer Umarmung. Der Kampf dauerte, oh, viereinhalb Sekunden, und dann kuschelte ich mich in seinen Arm. Er sah mich nicht an, legte nur seinen Arm um meinen Nacken und starrte in den Himmel, sodass ich den Nathan-Blick noch immer nicht ausprobieren konnte. Ich änderte hierzu sowieso gerade meine Meinung. Ich glaubte inzwischen, dass er sich nicht vortäuschen ließ.

»Entspann dich doch mal ein bisschen.« Foleys Stimme klang leicht irritiert.

Oje, ja. Ich hatte all meine Muskeln völlig angespannt und ich knirschte mit den Zähnen. Auf einer der Bänke neben dem Wasser, vor sich eine Almosenschale, die den vorbeischlendernden Fußgängern im Weg war, saß eine Frau in einem schmutzigen geblümten Kleid, die wahllos Noten aus einem unwilligen Akkordeon herausquetschte. Mein Rückgrat war dieses Akkordeon, alle Wirbel fest zusammengedrückt. Als sie es wieder auseinanderzog, gab es ein schmerzliches Geheul von sich, und ich ließ meine Wirbelsäule erschlaffen.

»Ich möchte sowieso mal wissen, was Jinn sich dabei denkt«, sagte er.

»Keine Ahnung.«

»Du weißt aber, dass er in den Knast musste, weil er jemanden niedergestochen hat. Im Süden. Nathan Baird.«

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Foley musste es gespürt haben. »Das war der Grund? Was, tot?«

»Nein. Was aber nicht an mangelndem Willen lag. Er ist ein Scheißkerl. Schlägt ganz nach seinem Vater.«

»Wie ist er denn wieder rausgekommen?«

»Weiß nicht. Hat vermutlich seine Zeit abgesessen. Für Jinn ist das wohl okay.«

»Scheint so.« Ich schluckte. Das Ganze war für mich nicht einfach. »Ich schätze, sie weiß es. Sie ist jedenfalls glücklich.«

»Oh, ja«, sagte Foley voller Ironie. »Solange sie glücklich ist.«

»Es gibt glücklich und glücklich«, sagte ich.

Schließlich war Lara normalerweise ziemlich fröhlich gewesen, aber nicht auf gute Art. Ungut-glücklich ist, wenn dir das Leben und die Welt und deine Probleme völlig egal sind, weil du vergessen hast, dass sie da sind. Ungut-glücklich war Laras Verfassung, als sie vor diesen Vauxhall Astra lief. Ungut-glücklich war vermutlich auch der Fahrer, der viel zu viel Alkohol intus hatte, oder war er zu schnell gefahren?, doch dank der Verfassung meiner Mutter hielt sich meine Empörung in Grenzen.

Nun, Jinn war richtig-glücklich. Sie war nicht wie Lara, und Foley hatte kein Recht, dies zu unterstellen.

»Tut mir leid, dass ich das gesagt habe«, murmelte er. Schon wieder hatte er meine Gedanken gelesen.

»Kein Problem.« Sofortige Vergebung.

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ich sah ihn so intensiv an, dass ich spüren konnte, wie sich irgendwie der Nathan-Blick einschlich, ohne dass ich es beabsichtigt hatte.

Doch seine Augen waren geschlossen.