Acht
Ich kannte Marley Ryan nicht wirklich; hatte sie nur einmal getroffen. Ich wusste über sie nur, dass Marley nicht ihr richtiger Name war – in Wirklichkeit hieß sie Roberta; wie kam es nur, dass all diese Menschen ihren eigentlichen Namen nicht behielten? – und dass sie meine Kette hatte. Sie hat sie nicht geklaut; Jinn hatte sie ihr gegeben. Nicht dass sie wertvoll gewesen wäre, doch ich war verstimmt, weil sie mir etwas bedeutete.
Ich bitte um Nachsicht!
Es lag allein daran, dass Jinn so verantwortungsbewusst war, so effizient. Sie hatte Laras wenige Bücher durchgesehen und dieses schöne gebundene Buch gefunden, das Lara vermutlich nie aufgeschlagen hatte. Doch als Jinn es tat, stellte sich heraus, dass es der Mutter von einer von Laras ehemaligen Lehrerinnen gehörte. Deswegen konnten wir es natürlich nicht einfach in den Oxfam-Laden bringen. Jinn musste mich in den 13. Stock eines Hochhauses in Glassford schicken, damit ich es der Lehrerin, die die Mutter einer Lehrerin war, die jemanden unterrichtet hatte, der lernunwillig gewesen war, zurückgeben konnte.
Wie auch immer, ich machte mich auf den Weg in den 13. Stock (was keine Kleinigkeit war, da der Aufzug natürlich außer Betrieb war). Die gute Alte schlurfte also mit ihrem Rollator zur Tür und lud mich ein, reinzukommen (sie war vorgewarnt worden, also wusste sie, dass ich sie nicht ausrauben würde). Ich gab ihr das Buch zurück und sie freute sich darüber. Wegen Lara tat es ihr sehr leid, und sie war viel zu höflich, um zu fragen, ob sie je das Buch gelesen hatte. Sie bot mir Tee an und schenkte mir ein Taschenbuch, was ich nicht ablehnen konnte. Wir unterhielten uns, nur dass das Reden nicht unbedingt mein Ding ist, also übernahm sie es allein.
Obwohl sie ja schon ein Fossil war, war sie unglaublich interessant und intelligent. Ich mochte sie. Und sie muss mich toll gefunden haben, so wie ich nickte und lächelte und interessiert zu sein schien (was ich war!). Sie bot mir ein anderes Buch zum Ausleihen an und ich hätte es fast angenommen. Doch ich kannte mich offenbar nur zu gut, denn ich lehnte ab, vielleicht ein andermal, wenn ich keine Prüfungen machen muss, und sie dachte wohl, dass dies ein guter Grund sei.
Statt des Buchs gab sie mir andere Dinge, bevor ich ging: ein halbes Päckchen Starburst und einen kleinen Anhänger. Der war nichts wert; sie hatte ihn sicherlich kostenlos aus einer Zeitschrift. Sie sagte, sie sei zu alt dafür, zu mir würde er besser passen. Er war aus billigem Metall: eine kleine Katze mit Buckel und roten funkelnden Augen. »Ruby«, sagte sie, »so heißt du doch, stimmt’s? Die Katze passt zu dir, mit ihren rubinroten Augen. Sie ist wie geschaffen für dich.«
Der Anhänger gefiel mir nicht besonders, doch ich fand es zu unhöflich, ihn abzulehnen. Zudem war es sehr nett von ihr und ich wollte sie nicht kränken. Und sie sagte: »Komm wieder vorbei. Es war nett, mit dir zu plaudern.«
Kaum war ich wieder unten, hatte ich den Anhänger bereits verloren. Keine Ahnung, wie ich das angestellt hatte. Nun, das stimmt nicht ganz. Ich muss ihn lange genug besessen haben, um ihn zu beschädigen. Als Jinn ihn festgeklemmt am Türpfosten des Bads fand, fehlte ein rubinrotes Auge, und eine Pfote war verdreht.
Ich hatte vor, die alte Lehrerin in dem Hochhaus wieder zu besuchen. Ich hatte es ernsthaft vor, zumindest damals. Ich sagte zu ihr: »Klar, ich komme gern«, und war davon überzeugt, die Wahrheit zu sagen. Denn ich mochte das alte Mädchen, und sie aufzumuntern, gab mir ein gutes Gefühl.
Doch ich besuchte sie nie wieder. Das Leben kommt dazwischen. Das Leben, das Einkaufen, das Flirten mit Foley und das Fernsehen. Ich ging nie wieder hin, und jetzt ist es zu spät: Vielleicht ist sie tot, und ich habe Angst, es herauszufinden. Ich werde sie nie mehr besuchen. Ich werde nie erfahren, wie gut wir miteinander klargekommen wären oder was vielleicht passiert wäre. Das ist der Grund, weshalb ich den verdammten Aslan immer gehasst habe und sein Niemand weiß, was geschehen wäre. Warum nicht? Warum wurde daraus eine so große Sache gemacht? Was sollte das Ganze?
Damals erschien es mir nicht so wichtig, und ich hatte keine Ahnung, wie schlecht ich mich später fühlen würde. Aber es gibt keine Wiedergutmachung. Wenn man etwas getan hat, kann man es nicht wieder ungeschehen machen. Es scheint keine große Sache zu sein, doch es ist das Unmöglichste, was man sich vorstellen kann: nur fünf Minuten die Zeit zurückzudrehen, um die Dinge zu ändern. Einfach das nicht zu tun, was man getan hat. Selbst Doctor Who kann das nicht. Wenn sich herausstellen sollte, dass das alte Mädchen tot ist, würde ich mich noch elender fühlen; falls sie noch lebte, würde ich mich schämen, und was noch schlimmer wäre: Ich wäre ihr verpflichtet. Ich wäre ihr verpflichtet und zweifellos dazu verdammt, denselben Fehler zu wiederholen. Am besten war es, ich blieb in meiner unsozialen Vorhölle und zog den Kopf ein.
Jinn war selbstverständlich besser als Aslan; Jinn wusste, was geschehen wäre, und sagte es mir auch. Ich wäre ein besserer Mensch geworden, genau. Sie war böse mit mir, weil ich die alte Lehrerin nicht mehr besucht hatte, sie war böse, dass ich nicht auf den Anhänger geachtet hatte, und sie wurde noch wütender, als ich murmelte, dass er nichts wert gewesen sei. Ich starrte auf den Fernseher, während sie die Zange holte, die billige metallene Hinterpfote der Katze wieder zurechtbog und die verknotete Kette entwirrte. Sie zischte mir zu, ich solle meinen Arsch hochkriegen.
Als sie den Katzenanhänger repariert hatte, erklärte ich ihr, dass ich ihn immer noch nicht wollte. Sie sagte, das sei prima, denn sie habe nicht vor, ihn mir zurückzugeben, sie wolle ihn behalten. Der Himmel weiß, weshalb. Es lag sicher nicht daran, dass sie ihn für sich selbst wollte, warum hätte sie ihn sonst Marley geschenkt?
Es war derselbe Abend, an dem ich mich erbrach, weil ich zu viel getrunken hatte, das erste und bisher einzige Mal in meinem Leben. Ich geriet in diesen Zustand, weil ich keine Ahnung hatte. Es war ein Unfall, es war eines der Dinge, von denen ich annahm, dass sie mir nicht passieren könnten. (Ich tat es auch, weil ich so verletzt und so sauer war. Deshalb erinnere ich mich auch daran, dass es derselbe Abend war, an dem sie den blöden Anhänger verschenkte).
Ich war gerade 14 geworden, und Jinn und ich gingen zu einer Party am Hafen, in die Wohnung von irgendjemandes Schwester – ich weiß nicht einmal, wessen. Jinn trug die Katze, hatte die Kette mehrmals ums Handgelenk geschlungen. Ich erinnere mich, dass ich richtig froh war, weil sie zu ihr passte und sie die Kette besser behandelte als ich, froh war, dass sie im Vergleich zu mir ein solch moralisches Vorbild war. Ich hatte die vage Vorstellung, dass ich dadurch ungeschoren davonkommen würde.
Bis dahin war ich Roberta Ryan noch nie begegnet. Ich erinnere mich, wie sie bei der Party auftauchte, zusammen mit einer Meute anrüchiger Jungs der Glassford Academy. Man konnte sie nicht übersehen, denn sie fiel ins Auge. Sie trug Dreadlocks, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte – vermutlich war das der Grund, weshalb sie sich Marley nannte; mit Labradoren hatte es jedenfalls nichts zu tun. Eine der Locken hatte sich gelöst und stand seitlich ab. Sie trug weite Kakihosen und eine Kampfjacke, ein leuchtend rotes T-Shirt und ein Nasenpiercing. Doch erstaunlicherweise fiel einem all dies nicht als Erstes ins Auge, denn sie hatte das lieblichste Gesicht, das man sich vorstellen konnte. Sie sah aus wie ein Engel.
Sie kam mit diesem wiegenden Gang herein, der sofort verriet, dass sie Angst hatte. Sie schäkerte mit ein paar Jungs herum und kippte wie ein Cowboy ein Glas Punsch nach dem anderen, mied es aber, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Doch sie musterte die Leute, wenn diese nicht zu ihr hersahen, als ob sie sich davon überzeugen wollte, dass sie sich nicht zum Narren machte, es richtig machte.
Sie muss die mütterliche Ader meiner Schwester angesprochen haben, denn nach fünf Minuten ging Jinn zu ihr, und sie verstanden sich auf Anhieb. Ich hielt mich zurück, tauchte meine Lippen in einen Plastikbecher mit Punsch, studierte die Partygäste und hoffte, dass niemand ein Gespräch mit mir anfangen wollte. Gerne wäre ich ebenfalls zu dem Mädchen mit den Dreadlocks rübergegangen und hätte mit ihr geredet, aber das war eine absurde Idee. Ich! Ich sollte mich einer Fremden vorstellen? Undenkbar!
Jinn und das Mädchen kicherten nicht pausenlos und tauschten keine netten Belanglosigkeiten aus, so wie man es vielleicht erwarten würde. Fast eine Stunde lang unterhielten sie sich über ein ernstes Thema. Ich schnappte Gesprächsfetzen auf, nickte hin und wieder und übte für das Erwachsenenleben. Ein paarmal machte ich ein paar Tanzschritte, doch dann war es mir zu albern, mich gehemmt am Rande einer improvisierten Tanzfläche zu bewegen. Als es in der Wohnung unerträglich heiß wurde, ging ich hinunter auf die Straße, und beobachtete selbstvergessen, wie das Mondlicht die schaukelnden Yachten anstrahlte. Ich beobachtete, wie ungefähr hundert Meter weiter Kunden in Fu Lings Takeaway hineingingen und wieder herauskamen. Ich genoss die köstliche Nachtluft und lauschte dem Partylärm, der aus dem Fenster über mir drang. Schließlich ging ich zu dem Takeaway und schwatzte Mr Fu Ling eine Tüte öliger Fritten ab, während seine Frau nicht hinsah.
Das war meine Privatparty. Niemand störte mich, und ich liebte es, Menschen zu beobachten, und ich mochte die frische Nachtluft. Hinter mir stolperte ein Paar die Treppe herunter und torkelte um die Ecke. Sie stützte ihn. Sie suchten wohl einen ruhigen Platz, entweder um zu vögeln oder um zu brechen. Wenn ich ihn ansah, war die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den orangefarbenen Schimmer am Himmel und die Sterne, die über den Schären zu sehen waren. Ich lauschte dem Plätschern der Wellen im Hafen und dem metallischen Geklingel der Masten, das sich mit dem dumpfen Geräusch der Musik vereinigte. Ich schloss die Augen und verschlang die letzte Fritte, spürte die Nachtluft auf meiner Haut und überlegte, dass ich wieder hinaufgehen sollte.
Auf halbem Weg stieß ich auf Jinn und das Mädchen mit den Dreadlocks, die auf dem Treppenabsatz saßen.
Das Mädchen hatte wohl geweint, aber jetzt nicht mehr. Jinn hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Das Mädchen schob die widerspenstige Locke hinters Ohr, schniefte und kicherte.
Sie trug auch meine Kette.
Vermutlich waren Tausende von den verdammten Dingern verkauft worden. Doch nein, selbst im trüben Treppenlicht erkannte ich die verstümmelte Pfote und das Zyklopenauge. Und Jinns Handgelenk war ohne Schmuck.
Als ich wortlos an ihnen vorbeiging, bedachte mich meine Schwester mit einem ihrer Spezialblicke. Doch sie ging mir nicht sofort hinterher. Ich hatte Zeit, mich an den Partygästen vorbeizuquetschen, zur Punschschüssel, und schnell einen Plastikbecher hinunterzukippen.
Doch nun stand Jinn neben mir. »Was ist los?«
»Warum trägt sie meine Kette?«
Wir schrien beide, aber nur zum Teil deshalb, weil die Musik so laut war.
»Sie gehört dir nicht. Du hast sie nicht gewollt.«
»Ich hab sie dir gegeben!«
»Nein, hast du nicht, ich hab sie genommen, weil du sie nicht gewollt hast.«
Wer hätte gedacht, dass wir uns wegen einer billigen Kette, die keine von uns beiden gewollt hatte, anschreien würden? Doch ich war außer mir, weil sie sie verschenkt hatte, einfach verschenkt.
Sie griff nach meinem Arm und drängte mich zum ruhigeren Schlafzimmer, wo mehrere Paare knutschten. Ein Paar ging sogar etwas weiter, und mindestens ein Junge war bewusstlos. Es war einfacher, hier zwischen den menschlichen Wracks zu reden.
»Marley geht’s sauschlecht. Ich hab sie ihr geschenkt, um sie aufzuheitern.«
»Marley? Sie ist nach einem Hund benannt?«
»Sei nicht albern! Sie hatte Streit mit ihrer Mum und ihrem Dad und danach mit ihrem Freund.«
»Das überrascht mich nicht, wenn man so aussieht.«
»Ruby, sie sieht richtig süß aus, und du weißt das. Sie wollte abhauen und im Freien schlafen. Ich hab ihr versprochen, wenn sie es nicht tun würde, bekäme sie die Katze. Meine wertvolle juwelenbesetzte Katze. Es war Spaß, verstehst du?«
»Ja, ich hab euch kichern gesehen. Du hast also meine Kette aus Spaß verschenkt?«
»Na und? DU HAST SIE JA NICHT GEWOLLT!«
Da stürmte ich hinaus und betrank mich.
Ich hatte eine großartige Zeit. Die Kombination, zuerst glücklich zu sein und dann wahnsinnig wütend: Genau das brachte es, denke ich. Ich redete tatsächlich, redete sehr viel. Ich hatte den Engel Alkohol entdeckt und das war gut. Er war meine Rettung, lehrte mich zu sprechen und nicht nur das: Er lehrte mich, Witze zu reißen. Gott, wie war ich lustig. Ich war so unvorstellbar witzig (wenn ich mich nur an einige meiner Sprüche erinnern könnte!). Ich redete ungeniert, und die Zunge klebte nicht am Gaumen fest, sie war geschmeidig und schnell wie eine Kobra. Gedanken perlten in meinem Gehirn und machten nicht ihre üblichen Umwege, sie übersprangen die Hürden und sprudelten ungeniert heraus. Ich brachte die Menschen zum Lachen, auf eine gute Weise. Sie waren etwas verblüfft, und einige von ihnen machten sich auch über mich lustig, aber das machte mir nichts aus. Das war mein neues Ich und ich würde nie mehr zu meinem alten Ich zurückkehren. Ich musste nur dafür sorgen, dass mein Punschlevel immer konstant blieb.
Ich hatte also eine gute Zeit, kippte einen Punsch nach dem anderen hinunter, fühlte mich weder seltsam noch schlecht, sondern einfach nur high, high, high.
Dann geschah es. Etwas wie ein Fingernagel kratzte hinten in meinem Hals und ich zögerte. Es kratzte erneut. Ich stand auf, das Zimmer mit mir. Erstaunlich. Das Zimmer stand auf und wirbelte wie eine wankende Wall of Death um mich herum. Ich hatte es gerade so bis zum Klo geschafft, als der Vulkan Mount St. Ruby auch schon ausbrach.
Wie ein Gläubiger kniete ich vor der Toilettenschüssel, krallte mich an ihren kalten weißen Rand und reiherte und reiherte. Keine Chance, es bis unten zu schaffen, wie der Junge von vorhin. Ich erinnerte mich nur verschwommen daran, wie ich zum Klo gerannt war, wie ich alles durch einen Nebel von Erbrochenem in der Farbe des Punsches gesehen hatte. Ich vermute also, dass ich ein ganz schönes Chaos angerichtet hatte. Der Punsch bestand aus mehreren Varianten Molotow, aus Wodka, Rum und Apfelsaft. Ich glaube, von da an verlor die Molotow-Regenbogenfarbpracht ihren Reiz für mich.
Irgendjemand muss Jinn gerufen haben, denn sie kniete neben mir, gab beruhigende Geräusche von sich und strich mir über den Rücken. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie solle damit aufhören, denn die sanfte Handbewegung verstärkte noch meinen Brechreiz, und ich wollte doch, dass es aufhörte. Doch ich konnte nicht mehr sprechen, und Magenkrämpfe hin oder her, es war sehr beruhigend, Jinn bei mir zu haben. Trotz des Nebels in meinem Gehirn erkannte ich irgendwie, dass ich die Sache am nächsten Morgen bitter bereuen würde – ja, ich würde die eigentliche Bedeutung einer am Gaumen klebenden Zunge erfahren, aber das wäre nicht das Schlimmste –, und ich brauchte Jinn, damit sie mir sagte, es sei in Ordnung, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, würde mich bald besser fühlen, und niemand sei böse. Ich brauchte sie hier, damit sie das arme Geschöpf abwimmelte, das an die Tür bummerte und dringend hereinwollte, bevor ihre Blase explodierte.
Man könnte also annehmen, dass ich drei Monate später, als Alex Jerrold genau dasselbe erlebte, mehr Mitgefühl zeigen würde.
Ich weiß nicht einmal, warum Alex zur nächsten Party eingeladen wurde, die in einem hübschen alten Haus in einer guten Wohngegend stattfand. Die Eltern des Mädchens, das die Party gab, waren für acht Tage verreist und hatten ihre Tochter vertrauensvoll allein gelassen. Ich vermute, Alex sollte eine Art Hofnarr spielen. Entweder das, oder die Hausherrin schwärmte für Tom und nahm an, sie würde Schleimpunkte bei ihm sammeln, weil sie Alex ebenfalls eingeladen hatte.
Wie ich bereits erwähnt habe, war Tom Jerrold ungefähr dreihundert Prozent cooler als Alex. Er war schon fürsorglich, aber natürlich waren seiner Fürsorglichkeit Grenzen gesetzt – sowohl um seiner selbst als auch um Alex’ willen. Er konnte ihn ja nicht die ganze Zeit über beobachten. So fand Alex, betrunken wie eine Haubitze, eine Nische in der Ecke bei der CD-Sammlung und den Verstärkern. Niemand kümmerte sich mehr um ihn, bis aus den Verstärkern (die riesig, teuer, hochempfindlich und laut waren) plötzlich laute Orchestermusik drang.
Es war Wagner. Die Walküre. Alle Köpfe schnellten herum, und die Blicke richteten sich erstaunt auf Alex Jerrold, der inmitten eines kleinen Haufens durchwühlter CDs stand und einen auf Christusfigur machte – die Augen geschlossen und die Arme weit ausgebreitet. Und er sang auf Kauderwelsch-Deutsch, einen Ausdruck besoffener Ekstase in seinem verkorksten Gesicht.
Wie konnte er hoffen, damit durchzukommen? Vielleicht tat er es nicht. Es sorgte mehr für erstaunte Heiterkeit als Wut, doch er musste so oder so dafür büßen. Man packte ihn und schleppte ihn die Treppe hoch. Dann ließ man ihn an den Fußgelenken über das obere Treppengeländer baumeln. Er ertrug es, stillschweigend und würdevoll wie ein Märtyrer auf einem Gemälde, sein Gesichtsausdruck drückte schmerzliche Verärgerung aus wie ein auf den Kopf gestellter heiliger Sebastian.
Es war jedoch auch nicht der beste Einfall, den die Täter je gehabt hatten. Einen besoffenen Partygast an den Knöcheln hochzuhalten, konnte nur zu einem Ergebnis führen. Es verteilte sich über den gesamten Treppenläufer der Mutter unserer Gastgeberin, und da alles von oben herunterplatschte, breitete es sich richtig schön aus.
Die Gastgeberin war nicht betrunken genug, um nicht hysterisch zu reagieren. Damals und später gab man vor allem Alex die Schuld – was ich ziemlich unfair fand, aber schließlich hatte er es herausgefordert.
Jinn beseitigte schließlich das Chaos. Sie wischte Alex’ Erbrochenes auf und säuberte Alex ebenfalls. Sie schalt die Täter aus, die vor Lachen brüllten, schleppte Alex zum nächsten Bad und vergewisserte sich, dass er seinen Magen entleert hatte. Sie rieb seinen Rücken und gab beruhigende Laute von sich, wie sie es bei mir gemacht hatte.
Ein Muttertier, das war Jinn. Wer weiß, wo sie das herhatte.
Tom kam nach einer Weile zu ihr, beobachtete schweigend seinen Bruder beim Brechen. Er reichte Jinn eine Flasche Wein, als sie die Chance hatte, einen Schluck zu trinken. Sie leisteten sich gegenseitig Gesellschaft, bis Alex sich zusammengerollt hatte und sofort einschlief. Am Mundwinkel waren noch kleine Reste von Erbrochenem. Ungefähr eine Stunde später entdeckte ich sie, wie sie gemütlich auf dem Sofa kuschelten.
Dieses Mal, dachte ich. Dieses Mal!
Doch wieder wurde nichts daraus. Als Jinn und Tom am Montag darauf wieder in der Schule waren, waren sie nach wie vor nur Freunde, und sie stand gelegentlich in der Gunst von Nathan Baird. Er spielte mit Jinn, wie er mit allen Mädchen spielte, er flirtete und verteilte Komplimente, prahlte und gab an und küsste sie manchmal, wenn er Lust dazu hatte.
Doch damals brauchte er sie nicht. Heute meine ich allerdings, dass er sie vielleicht doch brauchte und sie mehr mochte, als er zugeben wollte. Doch sein Ruf war ihm wichtiger. Jinn verzehrte sich weiterhin nach ihm und er ermutigte sie nach wie vor und aus Tom und Jinn wurde nichts.
Auf jeden Fall damals nicht.