Zehn

Der kräftige Typ am Ladentisch des Mini-Markts wirkte nervös. Er hatte noch seinen Motor laufen – ich konnte es durch die offene Tür hören –, und er hatte sich nicht mal die Zeit genommen, nach einem Korb zu greifen. Also balancierte er sein Sandwich und seinen Sixpack Bier und seinen Geldbeutel auf seinen kräftigen Armen, während er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, von einem Fuß auf den anderen trat und zum hinteren Ladenraum spähte, als ob er damit jemanden herbeizaubern könnte.

»Das ist lächerlich«, sagte er in den Raum hinein oder zu mir. »Lächerlich«, und schickte noch ein missbilligendes Schnalzen hinterher.

Ich zuckte die Achseln, lächelte und brummelte, als ich an ihm vorbeiging. Ich machte mir keine Sorgen wegen des kräftigen Kerls und seines Benzinverbrauchs, doch wenn Bertha hereinkäme und entdeckte, dass Jinn sich verdrückt hatte, wäre sie nicht gerade begeistert. Es war nicht mehr so wie im letzten Sommer. Jinn hatte bei Bertha weitgehend verspielt, zum Teil einfach deswegen, weil sie in Nathan verliebt war.

Ich steckte den Kopf in Berthas winziges Büro, doch Jinn war weit und breit nicht zu sehen. Um fair zu sein: Vielleicht hatte sie schnell aufs Klo gemusst. Doch inzwischen konnte die Ladenkasse ausgeraubt sein, und es war ziemlich unverantwortlich von ihr, einfach abzuhauen, wenn niemand sie vertrat. Es sei denn, sie hatte selbst die Ladenkasse ausgeraubt. Inzwischen würde ich ihr alles zutrauen.

Oh, Ruby, sei nicht so gemein.

Ich blickte mich um, doch der kräftige Typ war verschwunden. Auch das Sandwich und das Sixpack und er hatte kein Geld auf die Theke gelegt. Ich konnte es ihm nicht unbedingt übel nehmen, doch ich war sauer auf Jinn.

Ich ging wieder nach hinten. Die schmuddelige Toilette befand sich am Ende des engen Gangs, um eine Ecke herum, wo die Mäntel hingen. Ich wollte kräftig gegen die Tür hämmern und Jinn Angst einjagen, doch sie war gar nicht auf der Toilette. Sie stand neben den Jacken, halb versteckt. Sie hielt eine Jacke auf dem Arm und wühlte in den Taschen.

»Jinn!«

Ich legte die Hand auf den Mund. Sie zuckte zusammen wie ein erschrecktes Kaninchen, hätte fast die Jacke fallen lassen. Ich sah, wie sie schnell etwas in ihre Tasche steckte.

»Was tust du denn da?«

»Nichts«, zischte sie.

Ich starrte auf die Jacke. Es war eindeutig die von George, ich erkannte sie. »Was tust du da?«, wiederholte ich.

»Nichts«, murmelte sie erneut.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und diesmal fiel auch ihr nichts ein. Ich dachte, sie würde mich mit einem Wortschwall volldröhnen, doch sie musste erkannt haben, dass sie dieses Mal zu weit gegangen war, denn sie sah geisterhaft bleich aus, und ihre Hände zitterten, als sie die Jacke wieder aufhängte.

»Wenn du Geld genommen hast …« Ich hatte Angst um sie.

Auf ihren Wangen bildeten sich zwei rote Flecke. »Natürlich habe ich das nicht«, blaffte sie. »Sein Geldbeutel ist nicht da. Er muss ihn mitgenommen haben. Sie sind wohl zum Lunch in den Pub gegangen.«

Ich wandte mich um, kehrte in den Laden zurück und wollte mich bei allen wartenden Kunden lautstark entschuldigen. Doch Jinn folgte mir. Sie zog ihren Stuhl hervor, hockte sich darauf und blickte lächelnd auf zu einer Mutter mit einem Kind auf dem Arm.

»Wie süß sie doch in diesem Alter sind«, bemerkte Jinn.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu trollen. Ich war viel zu wütend, um zu warten und ein Sandwich zu kaufen. Also musste ich mich mit einem Müsliriegel aus dem Zeitschriftenladen an der Ecke zufriedengeben. Ich beschloss, ihn mit hoch zu den Klippen zu nehmen, denn ich musste jetzt unbedingt nachdenken.

Nördlich von Breakness, hinter dem Hafen, dem Autohaus und dem Golfplatz, ging der lange glitzernde Strand plötzlich in Dünen und Felsen über und führte dann hinauf zu den Sandsteinklippen. Bei schönem Wetter war es ein herrlicher Spaziergang. Schon öfters hatte ich Delfine gesehen und mehr Robben, als man erschlagen konnte. Ich versuchte, mich nicht davon abschrecken zu lassen, dass letztes Jahr die Asche eines ertrunkenen Teenagers dort aus einem Plastikbehälter ins Meer gekippt worden war, draußen zwischen den Schären, vom Boot des Hafenmeisters aus. Nicht dass man ihn jetzt sehen konnte, einen Ascheteppich auf gelbbraunem Wasser.

Wo würde seine Familie ihr Picknick abhalten?, überlegte ich. Nun, vielleicht würde sie eine Bank aufstellen, eine mit einem kleinen Schild. Er war nicht der Einzige gewesen; es schien ein beliebter Trend zu sein. Es war ein hübscher Platz mit Blick aufs Meer und die Schären und die weit entfernten Hügel auf der anderen Seite der Förde. Auf dem Wasser wechselten Licht und Schatten. Der Himmel war größer, als die Vorstellungskraft reichte. Man konnte durch diesen Himmel fallen und niemals auf dem Boden auftreffen.

Der Klippenweg war steil und eng, und ich presste meinen iPod fest ans Ohr, weil mich die tauchenden Möwen nervös machten. Sobald ich mein eigenes Auto hatte, würde ich den leichten Weg zu den Klippen nehmen, würde um den Militärflugplatz und die Hangars herumfahren und hinauf zu der Fläche, wo man parken und beobachten konnte, wie die Düsenflugzeuge den Himmel durchschnitten. Ein paar Kilometer vom Strand entfernt, war dies nicht gerade der beliebteste Platz, doch an diesem strahlend schönen Sonntag gab es fast schon Andrang. Ich entdeckte zwei Geländewagen, einen dunkelblauen Yaris und einen leuchtend gelben Sportwagen, der glänzte wie ein Spielzeug.

Ich zog meinen iPod heraus und stopfte ihn in die Jeanstasche. Ich entdeckte auch Berthas kleinen Renault Clio (es überraschte mich immer wieder von Neuem, wie sie sich da hineinquetschte). Ein paar Schritte weiter entdeckte ich sie und den Aufblasbaren George eng aneinandergeschmiegt auf meiner Lieblingsbank, wie sie den leuchtenden Horizont betrachteten. Er hatte den Arm auf die Rückenlehne gelegt und sie schmiegte sich an ihn. Ich gab einen kleinen Seufzer von mir. Ich setzte mich und beschloss, sie nicht zu stören. Sie sahen so zufrieden aus, es schien, als sei die Welt in diesem Moment noch in Ordnung.

Doch dann ging alles den Bach runter.

»Total romantisch, das hier.«

Ich erstarrte, zog mich in mich selbst zurück und presste die Lippen aufeinander. Doch Nathan ließ sich dadurch nicht abschrecken. Er setzte sich neben mich, lehnte sich gegen die Böschung, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Unterhalb der Böschung hatten uns Bertha und George, versunken in ihre kleine Bankwelt, nicht einmal bemerkt.

Sie waren zu beneiden. Mein Tag war jedoch ruiniert. Nathan hatte wieder eine Wolke vor die Sonne geschoben, auch wenn das Meer immer noch in Sonnenlicht getaucht war.

»Können wir nicht irgendwie klarkommen? Ich werde deine Schwester auf keinen Fall aufgeben.« Er setzte sich aufrecht, stützte die Ellbogen auf die Knie und wandte mir das Gesicht zu. Er grinste, aber dieses Grinsen unterschied sich von seinem üblichen; es wirkte unsicher, etwas nervös. Er schien irgendwie Angst vor mir zu haben. Ich musterte sein Gesicht, das weniger attraktiv war als früher. Oder vielleicht einfach schmaler und blasser.

»Ruby Red, bitte. Freunde? Zumindest nach außen hin? Es würde sie glücklich machen.«

»Was weißt du schon, was sie glücklich macht.«

Er antwortete nicht sofort, sondern zählte erst an seinen langen Fingern ab. »Acht Wörter. Werde ich je mehr von dir hören? Aber immerhin ist es ein Anfang.« Er lächelte.

Ich würde mich nicht einwickeln lassen, nein, ganz bestimmt nicht. »Du machst sie nicht glücklich.«

»Doch, tu ich. Sollte ich verdammt noch mal auch. Sie macht mich nämlich glücklich.«

Ich konnte nicht mehr in seine Augen sehen, das Einzige an ihm, das noch immer wirklich schön war, auch wenn sie tief eingesunken waren. Ich wandte mich ab, um aufs Meer zu blicken.

»Ich liebe Jinn«, sagte er. »Ich schwöre bei Gott, dass ich sie liebe.«

Ich schwieg immer noch. Nicht weil ich bewusst gemein war, sondern weil ich zum ersten Mal darüber nachdachte. Aber ich dachte wohl zu lange darüber nach.

»Kannst du es nicht einfach akzeptieren? Kannst du nicht einfach so tun, als würdest du mich mögen?« Er fluchte leise: »Verdammt, Ruby, du verdienst sie nicht.«

So, nun reichte es. »Verpiss dich, Nathan.«

»Rubes, wir müssen darüber reden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nun, ich muss es.« Er grinste nicht mehr, sondern fing an, ärgerlich zu werden.

Ich rappelte mich hoch. Nathan befand sich zwischen mir und dem Parkplatz. Also schlug ich den anderen Weg ein, ging den windigen Klippenweg hinauf, Eissturmvögel zogen ihre Bahnen am Himmel unter mir. Hier oben war der Wind heftiger, wirbelte den trockenen Kiesweg auf und blies mir Sand in die Augen, doch ich zog den Kopf ein, verschränkte die Arme und ging mit großen Schritten weiter. Da mir der Wind um die Ohren peitschte und die Sonne mich blendete, hatte ich fast vergessen, dass er hinter mir herkletterte.

»Ruby, hör doch!«

Er griff nach meinem Arm und zerrte daran. Ich geriet ins Wanken, rutschte und schlitterte gegen die Felskante.

Ich schrie auf, wenn auch nicht laut, weil ich zu sehr in Panik geriet wegen des Abgrunds rechts von mir. Doch ich war nicht wirklich aus dem Gleichgewicht und drängte mich enger an den Hang. Nathan war einen Schritt zurückgewichen. Sein Blick verriet Überraschung, vielleicht auch leichte Schuldgefühle. Doch als ich mich wieder gefangen hatte, packte er erneut meinen Arm.

»Hey, lass mich …«

Zu Ende reden? Du kannst mich mal. Boshaft wirbelte ich mit den Schuhen den Kies und den Sand auf dem Weg auf. Der Wind peitschte ihm alles ins Gesicht. Er stieß einen kleinen überraschten Schrei aus und hielt sich die Hände vor die Augen.

»Au! Was soll das?« Er nahm die Hände weg, blinzelte, doch seine Augen tränten, waren immer noch voller Sand. Also bedeckte er sie erneut. »Aua.«

Er hüpfte und tanzte herum und jammerte über die Schmerzen in seinen Augen.

Ich sah den Abhang hinab.

Ich hätte ihn mühelos hinunterstoßen können. Er hatte das Gleichgewicht verloren, war nur noch mit seinen schmerzenden Augen beschäftigt. Ehrlich gesagt hätte ich es mit einer Hand tun können.

»Ich geh jetzt heim«, sagte ich und schob mich an ihm vorbei auf sicheres Terrain. Er beruhigte sich jetzt, blinzelte und ging weiter. »Au, au! Verdammt, au!«

Erneut bot sich die Gelegenheit, ihn hinunterzustoßen, aber natürlich tat ich es nicht.

Doch seither habe ich es in meinen Tagträumen getan, viele Male. Was bedeutet es, fragte ich mich: dass ich mir wünschte, ich hätte anders gehandelt? Ich hätte all dem ein Ende setzen können, wenn ich ihn hinuntergestoßen hätte.

Wenn nur …

Als ich Nathan Baird das letzte Mal bei uns sah, tanzte er Tango. Immerhin tat er das ganz passabel, drängte seine schmalen Hüften in einer Weise gegen Jinns, dass ich errötete. Sie ließ die Finger über seinen Rücken gleiten und sie blickten sich tief in die Augen.

Eine Schlange, die eine Maus verzaubert, ging es mir durch den Kopf. Sie waren ganz ineinander versunken, wie hypnotisiert. Die Maus hat viel Macht über die Schlange, genau das dachte ich, als ich durch die halb geöffnete Tür schaute. Die Schlange kann nicht ohne die Maus leben. Wenn die Maus das nur wüsste. Wenn die Maus es nur wüsste, aber auch etwas daran ändern könnte.

Jinn kicherte nicht, aber sie lächelte, als er ihr Gesicht zu seinem hinzog. Ich bin sicher, es war kein richtiger Tango, aber was soll ich sagen? Es war so die Stimmung. Sie hatten Sex in voller Montur. Ich wagte kaum zu atmen, doch sie hätten mich sowieso nicht gehört. Der alte Griesgram von nebenan würde sich bald melden und über die laute Musik beklagen. Mary Coughlan sang Nobody’s Business; ein leidenschaftlicher irischer tangoartiger Song. Nathan Baird schien meine Schwester mit Blicken zu verschlingen, aber es wäre für ihn aufs Gleiche hinausgelaufen, wenn sie ihn stattdessen verschlungen hätte. Sie konnten sich gegenseitig zerstören, gegenseitig den Flammen preisgeben, und keiner von beiden würde sich etwas daraus machen. Er ließ den Finger unter die Kette mit dem Bernsteinanhänger und dem toten Moskito gleiten und zog Jinn so eng an sich, dass ich dachte, sie würden miteinander verschmelzen.

Ich erinnere mich an diesen Tango und wünsche mir, er wäre geblieben.