Siebzehn
Mit meinem Minilohnjob und meinen nebenberuflichen Bemühungen mit dem Haar anderer Leute kam ich finanziell ganz gut zurecht. Ich war mit Dingen wie zum Beispiel meiner Telefonrechnung im Rückstand, sodass das Telefon schließlich abgestellt wurde, aber ich besaß ja noch mein Prepaid-Handy. Außerdem bezahlte ich die Stromrechnung und die Fernsehgebühren – derlei Dinge eben. Und auch die Miete war bezahlt, obwohl ich den Tag fürchtete, an dem das Sozialamt herausfinden würde, dass Jinn nicht mehr in unserem Haus wohnte. Ich hätte aufs Amt gehen und es beichten sollen, um andere Arrangements zu treffen, aber ich hatte Angst davor, die bestehenden Arrangements zu ändern.
Außerdem hätte ich unbedingt schöne Blumen für Lara kaufen sollen. Man bekommt ja schon für 1,99 Pfund einen Strauß bei Tesco. Aber ich dachte, Lara würde lieber etwas aus ihrem Garten wollen (keine Gänseblümchen, sie waren längst verblüht, und zudem sinken sie in sich zusammen, wenn man sie pflückt). Also pflückte ich Löwenmäulchen und hielt sie mit einem Gummiband zusammen. Auf dem Weg zum Friedhof schaute ich beim Letzten Gemütlichen Crack-Haus vorbei.
Jinn war wieder ganz die Alte. Als sie mir die Tür öffnete, sah sie recht fröhlich aus, wenn auch etwas misstrauisch.
»Willst du mitkommen, um Lara zu besuchen?«, fragte ich.
Sie zögerte, blickte auf das Handy in ihrer Hand, das aufblinkte, weil gerade eine SMS reinkam.
»Ich kann nicht.«
»Oh«, erwiderte ich.
»Arbeit.«
»Oh«, wiederholte ich.
»Es ist nicht, was du denkst.«
Ich wusste inzwischen ganz genau, wann Jinn log, sonst hätte ich ja wohl als Schwester nicht viel getaugt.
»Macht es ihm … macht es Nathan …«
Sie schloss schnell die Tür hinter sich. »Hör zu. Er verlangt nicht, dass ich arbeite. Er verlangt nicht, dass ich es tue.«
»Macht es ihm etwas aus?«
»Natürlich macht es ihm etwas aus. Doch es würde ihm noch mehr ausmachen, wenn ich kein Geld hätte. Er hat so seine Probleme.«
Das war mir nichts Neues. »Verstehe. Willst du jetzt mit mir kommen zum Grab?«
»Nein. Möchte ich eigentlich nicht.« Sie mied meinen Blick.
Blitzartig erkannte ich, dass sie glaubte, Lara enttäuscht zu haben. Sie wollte nicht mit unserer Mutter konfrontiert werden, weil sie versagt hatte und deswegen Schuldgefühle empfand. Und im Übrigen wollte sie ja arbeiten.
»Ich habe Malteser-Schokokugeln.«
Ein Hauch von Verzweiflung.
Sie bedachte mich mit einem mitleidigen Blick.
»Ruby, ich stehe eigentlich nicht mehr auf Malteser.«
Als ich allein an Laras Grab saß, war ich so wütend auf Jinn, wie ich es noch nie gewesen war. Schuldgefühle waren eigentlich mein Gebiet; Jinns Job war es, mich zu trösten und mich zu lieben, ob ich es verdiente oder nicht. Das erinnerte mich an das eine Mal, als wir Laras Grab besucht hatten und Jinn in Tränen ausgebrochen war, weil sie so erschöpft war von der Arbeit (der anständigen!) und der Sorge um mich und weil sie Lara vermisste. Ich erinnere mich, wie sie meine tröstende Hand beiseiteschlug und mich anschrie: »Ruby, ich liebe dich, aber das kann nicht alles sein, was ich tue.«
Ich verstand nicht, warum nicht. Es schien mir eine edle Aufgabe zu sein.
Ich versuchte, Jinn zu sein. Ich wollte mehr wie sie sein, ehrlich. Einmal versuchte ich sogar, in ihre Rolle zu schlüpfen, ein sentimentales und völlig sinnloses Unterfangen. Ich fand ein Starenjunges. Jetzt weiß ich natürlich, dass man sie lassen muss, wo sie sind, wie Robbenbabys. Stare und Robben besaufen sich nicht und laufen vor Vauxhall Astras, also besteht eine solide Chance, dass die Mutter zu ihrem Baby zurückkehrt und sich um das Kleine kümmert.
Da ich aber nur Lara als Vorbild hatte, dachte ich, der Mutter sei vermutlich etwas zugestoßen. Also rettete ich dieses rührend hässliche Geschöpf und nahm es mit in die Küche, wo ich ihm ein Nest aus einer Schuhschachtel bastelte und es mit einem Werbeblättchen auspolsterte. Ich fütterte das Kleine mit Brot und Cornflakes in Milch. Ich taufte das Vogelbaby Ozzy, auch wenn ich bis heute nicht weiß, welches Geschlecht der Vogel hatte, und ich kümmerte mich stolz um ihn. Ich sah mich selbst als die Saba Douglas-Hamilton der schottischen Vorstädte, die wieder einheimische Spezies in der Wildnis einführte. Ich ermunterte Ozzy, auf seinen kleinen Beinen herumzulaufen. Schließlich kam die Zeit, als ich der Meinung war, ich sollte ihn mit anderen zusammenbringen. (Die ganze Episode dauerte übrigens nur ungefähr 48 Stunden. Ich besaß wenig Geduld.) Als sich eine Schar ausgewachsener Stare auf einem Baum niederließ und die Vögel sich wie Fischweiber ankeiften, ließ ich den kleinen Ozzy hinaus auf die Wiese, wo er sich unbeholfen bewegte. Die Schar der Stare stürzte vom Baum herunter und pickte den kleinen Kerl tot.
Ich sprach nie über diesen Vorfall. Ich schämte mich. Stare sind eben Stare, so wie Skorpione Skorpione sind, ich konnte es ihnen nicht übel nehmen. Der Tod des hässlichen kleinen Ozzy war allein meine Schuld.
Als ich zum Friedhof kam, entdeckte ich Stare und Möwen, die um ein weggeworfenes Sandwich kämpften, das sie aus dem Müll gefischt hatten. Ozzy und sein tragisches Schicksal heilten mich von meiner Sentimentalität Vögeln gegenüber. Wenn jene Stare und Möwen in der Lage gewesen wären, ein paar Gräber zu plündern, hätten sie’s getan; sie hätten die Leichen aus den Gräbern gezerrt und sich darüber hergemacht. Sie hätten von der armen Lara nur noch die Knochen übrig gelassen.
Ich entfernte die welken Petunien aus dem Marmeladenglas (was überfällig war) und versuchte, meine Löwenmäulchen kunstvoll zu arrangieren. Einige Gräber wurden nie mit Blumen geschmückt; sie sahen trostlos, leer und vereinsamt aus. Einige waren praktisch überladen mit Nelken und Zellophan und breiten grellen Bändern. Ich war mir sicher, dass Laras Geschmack irgendwo dazwischen lag. Sie war nicht gerade wild auf den 1,99-Pfund-Strauß von Tesco, auch wenn ich ihr irgendwann einen solchen bringen sollte zur Abwechslung.
»Ich weiß nicht, was ich mit Jinn anstellen soll«, sagte ich.
Keine Antwort.
Ich kam mir vor wie eine Idiotin. Ich schaffte es nicht einmal, den Mund zu öffnen und mit den Lebenden zu reden, also verstehe ich nicht, warum ich es mit den Toten versuchte. Der Wind fuhr durch eine dürre Birke und ein paar verwelkte Blätter fielen herunter. Ich fröstelte. Wenn man so laut vor einem Grab spricht, ist es, als wenn man etwas zerstöre. Ich hatte das Gefühl, dass all die Toten unter der Erde sich bis zu meinem Kommen lebhaft unterhalten hatten. Dann tauchte ich auf und unterbrach eine interessante Unterhaltung. Ich hatte das Gefühl, dass sie alle verstummt waren und jetzt lauschten und warteten, was ich als Nächstes sagen würde.
Ich dachte an Alex Jerrold und überlegte, ob er sich dessen bewusst war, dass er jetzt hier liegen könnte, doch er hatte es vermasselt und sich gerettet, war ins sichere Netz gegangen wie eine Fliege, auch wenn er keine Flügel hatte.
Ich stand unvermittelt auf, blickte über die Grabsteine auf das Industriegebiet und die Umgehungsstraße. Ich hörte Autolärm und das plötzliche Hupen eines Lastwagens, dort draußen, wo ich nicht dem leisen Rascheln der Birke oder dem Gemurmel der Toten würde lauschen müssen.
Ich griff nach meiner Tasche und ging mit meinen Malteser irgendwo anders hin.