Einundzwanzig

Ich wusste nicht, wo sie sich in den letzten Wochen herumgetrieben hatte, aber sie konnte nicht weit weg gewesen sein. Glassford gehört zu diesen Städten, die nicht riesig sind, aber groß genug, um sich darin zu verirren. Und klein genug, um wieder aufzutauchen. Zwei Tage später traf ich Jinn auf dem Tesco-Parkplatz.

Ich freute mich riesig, sie zu sehen, auch wenn sie furchtbar aussah. Und ich war froh, dass sie jetzt in einem größeren Laden klaute, und total erleichtert, dass sie sich vom Mini-Markt fernhielt. Ich war auch heilfroh darüber, dass sie sich genauso schämte wie ich. Jinn hing nicht mehr so viel in Breakness herum, sondern hielt sich überwiegend in Glassford auf. Das beunruhigte mich nicht so sehr und bewahrte mich vor unangenehmen Situationen wie jener am Fluss. Das Leben ohne Jinn wurde ein normales Leben, ein leichteres. Um mich zu beruhigen, ging ich manchmal zum Dunedin-Haus, doch auch wenn es dort dunkel und totenstill war, wusste ich, dass es ihr gut ging; Jinn ging es immer gut. Irgendwie ging es ihr gut.

Bessere Ausbeute in Glassford, sagte ich mir: wechselnde Freier, etwas mehr Anonymität. Ich vermute, sie arbeitete auch in Breakness. Doch wenn sie einen Freier beim Pub am Jachthafen aufgabelte, würde sie in sein Auto steigen (denn ich wusste, dass sie in diesem Punkt gelogen hatte), und sie würden aufs Land fahren, und dann würde er sie in Glassford absetzen.

Selbst diese Vorstellung brachte mich nicht mehr allzu sehr aus der Fassung. Ich hatte mich dermaßen an die Vorstellung von Jinns »Job« gewöhnt – Jinx’ Job –, dass ich immun gegen die Angst war. Ich wusste ja, dass es nicht für immer sein würde. Was ich Bertha berichtet hatte, war nicht unbedingt eine Lüge. Es war eine Art Prophezeiung, eine Vorhersage, Wunschdenken.

Ich lud sie zu einem Kaffee ein. Der Anonymität wegen wären wir besser zu Starbucks in Glassford oder ins Tesco-Café gegangen, doch wir fuhren mit dem Bus nach Hause – meinem Zuhause – und suchten das Mermaid Café in Breakness auf. Es war einst Laras Lieblingscafé gewesen, und jetzt das von Jinn.

Wir schwiegen, bis die mürrische Kellnerin uns den Kaffee gebracht hatte. Ich hatte auch Toast bestellt. Sie servierte uns warmes versengtes Brot, garniert mit einer winzigen Plastikportion Flora. Ich hatte es für Jinn bestellt, doch sie machte keine Anstalten, es zu essen. Sie befühlte es mit dem Daumen. Es war schwammig. Sie rümpfte die Nase und wischte sich den Finger am Papiertischtuch ab.

»Willst du?«, fragte ich.

»Bin nicht hungrig.« Sie lächelte, ein eher verzweifeltes Lächeln.

Das Mermaid Café war genauso bizarr, wie es klang, aber nicht so hübsch. Die Spanplatten-Meerjungfrau vor dem Café war so grotesk, dass sie einige potenzielle Gäste abschreckte, noch bevor sie den Toast gekostet hatten. Sie sah eher wie eine Seehexe aus: wie eine Menschenfresserin mit leuchtenden Augen und viel zu roten Lippen. Sie besaß keine Augenbrauen und ihre Stirn war unförmig. Der inkompetente Künstler hatte dies mit knallblonden Locken zu übertünchen versucht.

Doch das Lokal selbst wurde von den Einheimischen gern wegen seiner moderaten Preise besucht und von Touristen wegen seines besonderen Charakters. Es war vollgestopft mit allen möglichen Kinkerlitzchen und Fotos, viel zu vielen Staubfängern. Bilderrahmen, Holzschnitzereien und Muscheln waren auf kleinen Regalen aufgereiht. Die Wände und die Decke waren mit alten Netzen und Tauen ausstaffiert und darin eingelassen waren dick mit Staub bedeckt Glasbojen, Treibholz und alte Flaschen. Einige hatten Schiffe im Inneren. Jeder Zentimeter der Wand war mit malerischen einfarbigen Postkarten und dilettantischen Gemälden bedeckt. Es roch hier seltsam. Es roch nach all den Jahren, die in diesem Krimskrams, den Fotos und den Postkarten eingefangen waren. Ich glaube, es war der Geruch der sepiafarbenen Personen, die griesgrämig dreinblickten. Es war der Geruch ihres armseligen Sepia-Daseins.

Obwohl es draußen sonnig war, herrschte im Inneren Dämmerlicht, was eine klare Sicht erschwerte, doch ich sah genug. Jinn sah furchtbar aus. Außerdem schien sie von einer Staubschicht bedeckt zu sein, so als habe man sie seit Langem nicht mehr abgestaubt. Sie war so zart und zerbrechlich. Mich fröstelte.

»Ruby, ich bin total abgebrannt.« Jinn lächelte in der staubigen Luft. Sie lächelte eine Touristin aus den Dreißigerjahren an, die stocksteif im altmodischen Badeanzug am reglosen Meer posierte, als habe sie mehr mit den Toten gemeinsam als mit mir.

Ein Sonnenstrahl stahl sich herein, doch er brachte ihr Haar nicht zum Leuchten; er ließ lediglich die wirbelnden Staubpartikel aufleuchten und warf einen beigen Schatten über ihr Gesicht.

»Bist du wirklich abgebrannt?« Ich schluckte und zögerte. »Ich dachte, du seist okay.«

»Na ja …«, erwiderte sie. »Weißt du«, fuhr sie fort.

»Im Augenblick ist alles etwas schwierig«, erklärte sie. »Wir warten auf Geld, aber es verzögert sich, verstehst du? Ich brauche etwas Geld, damit ich über die Runden komme.«

»Damit du über die Runden kommst?«, wiederholte ich.

»Bis wir alles geregelt haben. Bis wir diese Typen auszahlen können. Dann ist es wieder gut.«

»Bis ihr alles geregelt habt?« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Du und Nathan?«

Ich konnte es damit nicht gut sein lassen. Hätte ich doch nur, aber ich öffnete bereits den Mund, um weiterzureden.

Verstehst du jetzt, was passiert? Verstehst du es jetzt? Ich öffnete den Mund und sprach das eine Wort aus, das ich nie hätte sagen sollen, das Wort, das ich liebend gern zurücknehmen würde. Ich öffnete die Lippen und setzte meine Zunge in Bewegung.

»Jinx«, sagte ich.

Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, oder fast; ihr entschlossenes Lächeln hatte sich ein wenig verändert. »Ruby, du solltest mich nicht so nennen. Tu’s nicht. Niemand nennt mich so. Niemand außer IHNEN, okay?«

»Okay«, bekräftigte ich.

»Das ist nicht mein Name. Tom nennt mich nicht so und du solltest es auch nicht tun …«

»Du bist immer noch …?«

»Ich habe ihn ein paarmal gesehen. Ich mag ihn. Nicht wie Nathan«, fügte sie herausfordernd hinzu, »aber ich mag ihn, also will ich …«

Kein Geld von ihm. Es hing wie ein Staubnetz in der Luft.

Jinn strich mit dem Finger über den angestoßenen Rand ihrer Tasse, bei der sich innen braune Teespuren abgesetzt hatten, und zwar ringförmig wie bei einem Baum. Sie schenkte sich Tee nach, um die Spuren zu bedecken, und dann bediente sie mich.

Soll ich die Mutter spielen?

Oh ja, bitte, Jinn, ja.

Ich beobachtete, wie sie Tee eingoss. Die Kanne tropfte und hinterließ einen breiten braunen Fleck auf dem Tischtuch. Alles hier war sepiafarben.

»Jinx heißt sie, nicht ich.«

Ich tauchte meinen Teelöffel in meine Teetasse, aber da ich weder Milch noch Zucker nahm, gab es nichts zu rühren. Am liebsten hätte ich gesagt: Jinn, lös dich von ihr oder Werd erwachsen und Fang ein neues Leben ohne Jinx an. Kehr in dein altes Leben zurück.

Aber ich hatte bereits genug gesagt und Schuldgefühle lähmten meine Zunge. Ich hätte all diese Dinge sagen sollen, doch ich tat es nicht. Vielleicht wäre dann alles anders gelaufen. Aber ich tat es nicht, und deswegen ist es so wie mit Alex: Ich werde es nie wissen. Ich werde nie wissen, was geschehen wäre.

Ich habe nichts zu Alex gesagt. Ich habe ihm nicht zugerufen: Hör auf damit oder Ich hab es nicht so gemeint oder Willst du etwa zum Film? Ich rief auch nicht auf nette, freundliche Art: Werd erwachsen, Alex! Ich habe nur gesagt, als Letztes gesagt: Verpiss dich.

Ich hatte meine Lektion nicht gelernt, denn ich sagte auch zu Jinn nicht das Richtige. Alles, was ich zu ihr sagte, alles, was sie hörte, war Jinx. Ich sagte nicht die Worte, die wichtig gewesen wären. Es ist genau wie bei Alex: Ich werde nie erfahren, was geschehen wäre.

Ich nahm meinen Geldbeutel heraus und gab ihr Geld. Sie zerknüllte es in der Hand; ihre Augen leuchteten vor Dankbarkeit und Zuneigung. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Wenn wir die Typen ausbezahlt haben, höre ich auf. Ich liebe dich.«

Ich versuchte, es zu sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Stattdessen sagte ich: »Jinn, ruf mich an. Wenn du mehr brauchst, wenn du mich brauchst.«

Als ich aufstand und auf die Tür zusteuerte, wandte ich mich unwillkürlich noch einmal nach ihr um. Der Sonnenstrahl war durch den staubigen Raum gewandert, und ihr Kopf war etwas abgewandt, als sie das Geld in ihrer Tasche verstaute. Die Staubpartikel schienen in ihrem Haar einen Tanz zu vollführen und verwandelten es wie früher in Silber, wie ein Molotow-Mädchen, ganz Lebenslust, Sonne und Strand. Sie spürte meinen Blick, wandte den Kopf und lächelte; die Staubpartikel in ihrem Haar wirkten wie Sternenstaub. Sie war in diesem Moment sehr schön.

Ich bemühte mich nach Kräften, diese Sternenstaub-Elfenkönigin in Erinnerung zu behalten, die lächelte, als ob sie sich gerade daran erinnert hätte, dass sie mich liebte. Manchmal lasse ich die Erinnerung aufleben und erneut die silbernen Partikel in meinem Kopf tanzen, denn ich habe Jinn nicht mehr lebend gesehen.