Fünfundzwanzig
Foley sah mich nicht mehr an, sondern starrte auf meine rechte Schulter und strich mit einem Finger darüber, immer wieder. Ich verhakelte meine Zehen mit seinen. Ich strich ihm eine Haarsträhne hinters Ohr, doch sie war widerspenstig und löste sich wieder. Was mir als Vorwand diente, sein Ohr erneut zu berühren. Er zitterte leicht.
»Mir ist ein bisschen unwohl dabei, dich allein zu lassen«, sagte er.
Etwas unwohl? Das reichte nicht, bei Weitem nicht.
»Es ist kalt draußen«, bemerkte ich.
»Ich weiß, aber ich muss gehen.«
»Ist schon okay.«
»Wenn du allein bist? Sicher?«
Warum hatten die Leute das Bedürfnis, mir das immer unter die Nase zu reiben? Die Wahrheit war, dass ich von dem Gedanken an Jinn verfolgt wurde. Aber das wäre erträglich, wenn die Leute nicht immer wieder davon anfingen, ich solle keine Angst haben. Ich hatte ja schließlich keine Angst vor Jinn, das wäre ja idiotisch.
»Es ist nur – ich muss morgen früh Mallory zur Schule bringen.«
»Geht in Ordnung.«
»Mum und Dad wollen mal wieder zu einer Hundeausstellung, wie üblich frühmorgens. Wenn sie losfahren, schläft Mallory noch. Ich muss sie wecken.«
»Beruhige dich«, sagte ich. »Mir geht’s gut.«
Er löste sich von mir und der Bettdecke, ließ sich aus dem Bett rollen und suchte nach seinen Kleidern. Meine Zehen fühlten sich leer und kalt an. Ich war schon seit einer Ewigkeit in diesem Haus allein gewesen. Es war jetzt nicht anders, war es nicht. Jinn war zuvor nicht tot gewesen, das war alles. Ich schlängelte mich unter die Bettdecke, fand mein Top und meine Hose und zwängte mich hinein. Was nichts mit Sittsamkeit zu tun hatte. Ich fühlte mich weniger verletzlich; das war alles.
»Bist du wirklich okay?«
Ich zog die Decke vom Gesicht und öffnete die Augen. Er stand vor meinem Bett, wieder unbeholfen.
War ich es? Ja, ich war okay. Der Kummer hatte sich in meine Brust und meinen Magen verlagert, aber es war ein diffuser Schmerz, nichts, worüber ich weinen konnte.
Seufzend kletterte ich aus dem Bett und küsste Foley brüsk. Dann änderte ich meine Meinung. Ich zog ihn wieder an mich und küsste ihn langsam.
»Ich muss jetzt wirklich gehen.« Er klang, als habe er tiefe Schuldgefühle. Oh Gott.
»Verpiss dich.« Ich schob ihn sanft zur Tür. »Tschüss.«
Als Foley die Tür öffnete, strömte ein Schwall kalte Nachtluft herein. Foley zögerte, wandte sich nach mir um. Ich lehnte an der Tür, um sie zu schließen. Ich lächelte in sein schuldbewusstes Gesicht. Ich verließ ja nicht ihn, sondern er mich, und er sollte ruhig dafür büßen, überlegte ich heiter.
Als die Tür schließlich ins Schloss fiel, wurde ich erneut von Stille und Leere umgeben. Der Schmerz in meinem Körper hatte sich in einem Moment zusammengeballt und gleichzeitig jede Pore erfüllt. Meine Haut war wie elektrisiert und ich konnte die Augen nicht schließen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte weinen, als ob ich es mir wünschte zu weinen, doch es war noch immer nicht möglich. Etwas in mir verlangte danach, herausgelassen zu werden, doch ich konnte nichts tun, um es freizulassen. Und trotzdem war ich innerlich ausgebrannt, verletzlich und der Nacht ausgesetzt. Weinen? Schlafen? Das kann nicht dein Ernst sein.
Das Haus war ein Vakuum. Natürlich war Jinn nicht da: Kein Geist huschte hier herum, kaum mein eigener. Das war ein noch erschreckenderer Gedanke, als ob ich mich verflüchtigen könnte, ohne dass mich ihr Geist hier festhielte; also machte ich mich auf die Suche nach ihr.
Seit ihrem Tod hatte ich in ihrem Zimmer nichts mehr angerührt. Natürlich war ich davor häufig dort gewesen, hatte mir ihr Zeugs geliehen und gelegentlich auch meine Sachen bei ihr untergebracht. Doch ansonsten hatte ich es im Prinzip so gelassen, wie es war, denn ich hoffte ja immer, dass sie zurückkommen würde.
Ich verspürte jetzt das Verlangen, die Türen ihrer Kleiderschränke zu öffnen und in ihren Kleidern zu wühlen, mein Gesicht in ihrem alten Garten-T-Shirt zu vergraben, das mit Strass besetzt war, wie alle T-Shirts von Jinn. Sie war jetzt schon lange weg und von diesem T-Shirt am längsten getrennt, doch es roch immer noch nach ihr – nach Jinn, Erde und Unkraut. Ich zog ihre Schubladen auf, durchwühlte ihre Sachen: Lippenstifte, Kämme und kaputte Ohrringe, halb leere Parfumflaschen, die die Farbe von Urin angenommen hatten, und Reste von Bonbonpapier. Außerdem fand ich Unterwäsche, zerknüllte Strumpfhosen, Sportsocken und Hosen. Ich fühlte mich wie eine Grabschänderin.
Hochrot vor Scham, schob ich die Schublade zu, rieb dann auf meinen Fingerabdrücken auf dem Melamin herum, als ob die Polizei dies später überprüfen würde. War wohl das schlechte Gewissen.
Ich konnte mich gar nicht von ihrem Zimmer trennen. Hier drin fühlte sich meine Haut weniger verletzlich an. Da waren ihre Schmuckschatulle, ihre alte Haarbürste, in der noch glänzende Haare steckten. Der Schuhkarton auf dem Fenstersims, den sie mit einem alten zerschnittenen T-Shirt überzogen hatte. Wie hatte sie je die Zeit gefunden, so etwas zu basteln? Ich erkannte den Stoff: Es war ein rotes Seiden-T-Shirt von Lara. Noch nie zuvor hatte ich in den Karton reingeschaut, aber jetzt war meine Neugier nicht zu bremsen.
Ich griff danach, setzte mich im Schneidersitz auf Jinns Bett, den Karton auf dem Schoß. Auf der einen Seite, der dem Fenster zugewandten, hatte sich die rote Seide im Sonnenlicht blassrosa verfärbt. Als ich den mit einem Band verschlossenen und paillettenbesetzten Deckel öffnete, war ich fast auf die Seuchen der gesamten Menschheit gefasst. Doch diese waren bereits freigelassen, liefen frei herum und die Hoffnung war mit ihnen gegangen.
Verdammt noch mal, ich hatte wieder Halluzinationen.
Ich gemahnte mich, dass es kein Leben mehr gab, in das ich eindringen konnte, alles war tot und vorbei. Trotzdem zitterten meine Finger, als ich die Gegenstände in dem Karton berührte.
Muscheln und Kieselsteine. Ich kann mich noch genau erinnern, wie Jinn sie gesammelt hatte, und sie hatten mir damals genauso viel bedeutet wie ihr. Jetzt erkannte ich ihre gesprenkelten Formen kaum mehr. Nichts entfachte die geringste Nostalgie in mir. Die Spuren von Sand, die an ihnen klebten, waren knochentrocken, und sie strömten auch nicht mehr den Geruch nach Meer aus.
Ich nahm eine nach der anderen heraus und bildete auf dem Bett eine hübsche Reihe, dann griff ich nochmals in den Karton. Noch mehr Stofffetzen. Kleine Reste von einem Schal von Lara. Ein alter Haargummi, den ich benutzte, als mein Haar noch mausgrau und lang war und ich noch Zöpfe trug. Ich rieb mir die juckende Nase mit der Faust. Da war noch ein Päckchen, das mit silberblauem Band umwickelt war, hübsch verpackt, doch im Inneren war etwas Hartes: vielleicht noch ein Strandkiesel. Als ich es auspackte, fiel mir der Bernstein in die Hand, und die dicke Silberkette glitt mir durch die Finger.
Oh.
Ich erinnerte mich, als Jinn an jenem Tag nach Hause kam. An die unheimliche Stille, als sie sich in ihrem Zimmer zu schaffen machte und mein Angebot, einen Tee zu trinken, ablehnte. Ich will nur schnell ein paar Dinge holen. Du hast doch nicht in meinen Sachen herumgewühlt, Ruby, oder? Gut. Also lass es bleiben.
Sie ließ die Kette an jenem Tag zurück, denn es war weniger wahrscheinlich, dass sie sie verkaufte, wenn sie sie nicht in Händen hielt. Ich rieb den Bernstein mit dem Daumen, spürte den warmen Stein. Sie hatte ihn nicht verkauft, sondern in ihrem Zimmer zurückgelassen. In meiner nichts ahnenden Obhut. Und sie schloss die Tür ihres Zimmers und warf mir einen warnenden Blick zu.
Wühl nicht in meinen Sachen herum.
Ich starrte auf den Bernstein in meinem Schoß. Ich überlegte, ob es schwieriger gewesen wäre, sie mit dieser Kette zu erwürgen, ob sie vielleicht eine größere Chance gehabt hätte, wenn sie nicht dieses Lederband gewählt hätte.
Vermutlich nicht.
Als Letztes lag ein Viereck zusammengefalteten Stoffs in dem Karton. Fast hätte ich nicht hineingeschaut, weil ich annahm, dass er nur als Unterlage für den Bernstein diente. Doch als ich ihn auseinanderfaltete, kam eine dünne billige Kette zum Vorschein, die sorgfältig im Kreis gewunden war, damit sie sich nicht verknotete. An dieser Kette hing eine winzige Katze, die mir mit einem rubinroten Auge zublinzelte.
Ich bettete sie in die Handfläche und berührte sie mit der Fingerspitze. Ich konnte nicht atmen. Schuld- und Reuegefühle kamen wie eine große Woge über mich. Marley hatte die Kette zurückgegeben, und Jinn hatte es mir nicht gesagt, weil sie über mein Verhalten verärgert war. Oder vielleicht hatte Jinn sie auch zurückverlangt. Vielleicht hatte sie den richtigen Moment abgewartet, um sie mir zurückzugeben, wollte warten, bis zwischen uns wieder alles okay wäre oder bis ihr Ärger verflogen war. An jenem Tag war es noch nicht so weit gewesen. Blinzelnd ließ ich die Kette aus meiner Handfläche gleiten; sie fiel mit einem leisen Klick auf die Muscheln und Kieselsteine.
Ich dachte an die alte Dame, die in ihrem Hochhaus darauf wartete, dass ich sie erneut besuchte, und aus dem Fenster auf Glassford blickte. Seufzend erkannte sie, dass ich nicht zurückkehren würde, und stützte sich auf ihren Rollator, um sich noch eine Tasse Tee zu machen. Heftig verscheuchte ich das Bild.
Ich legte den Bernstein wieder auf den Boden des Kartons und wand die Kette darum. Der Moskito sah nicht länger unglücklich aus. Er steckte einfach fest. War einfach tot. Ich legte das blaue Band darauf und dann den übrigen Krimskrams und am Schluss den kleinen Katzenanhänger. Doch ich änderte meine Meinung, griff mit dem Finger danach und nahm ihn wieder heraus.
Der Verschluss war eine Plage, billig und steif, doch schließlich gelang es mir, ihn im Nacken zu verschließen. Die Zyklopenkatze hing zusammen mit Foleys Silberkatze an meinem Hals, etwas tiefer, weil die billige Kette einfach etwas länger war. Sie passten irgendwie zusammen.
Ich schloss die Tür zu Jinns Zimmer und dem Karton und ging hin und her. Ich ging in dem kleinen Haus von Zimmer zu Zimmer und starrte aus jedem Fenster hinaus. Ich kehrte zum Bett zurück, das ich mit Foley geteilt hatte, aber ich konnte nicht schlafen. Mein Blut war noch immer elektrisiert. Ich stand wieder auf und spazierte im Haus herum. Ich versuchte, mich aufs Sofa zu legen und auf das Standby-Licht des Fernsehers zu starren, auf die DVD-Zeitschaltuhr, die immer noch 01:20:16 zeigte.
Und dann bin ich wohl doch eingeschlafen, schlief aber nicht fest. Ich war halb wach, starrte auf das kleine rote Licht und die Zeitangabe. Ich hörte, wie draußen die Autos vorbeifuhren. Aus der Ferne hörte man das Gegröle der Nachtschwärmer, die aus dem Pub herauskamen. Ich hörte, wie es an die Tür klopfte, dringlich. Das Klopfen wurde kräftiger und ich dachte, Foley. Und weil ich noch im Halbschlaf war, verwirrt und voller Schuldgefühle und Sehnsucht, rollte ich vom Sofa, stolperte zur Tür und öffnete sie.
Ich glaube, Nathan Baird war genauso schockiert wie ich. Das war der Moment, da ich meine Chance bekam. In der kühlen Nachtluft und im matten Schimmer der Sicherheitsleuchte des Nachbarn sah ich die hageren Knochen eines Gesichts. Fahle Haut, blaue, tief liegende Augen. Ich roch Schweiß, Alkohol und Crack und – ganz unerwartet – Angst.
Ich unterdrückte einen Schrei. Ich versuchte, die Tür zuzuschlagen, doch es ging nicht. Er hatte den Fuß dazwischengestellt, seine Finger umklammerten die Türkante und er rief etwas. Ich stemmte mich dagegen. Vermutlich war er durch seinen Lebensstil geschwächt, denn ich gewann den Kampf, und seine Anstrengung wirkte seltsam kläglich. Ich schubste ihn, trat ihm auf den Fuß, verpasste seinen Fingern einen Kopfstoß und prallte mit der Schläfe gegen die Türkante. Er protestierte, wimmerte. Ich biss ihn in die Finger und er zog sie zurück, ich trampelte ihm erneut auf dem Fuß herum, so kräftig wie möglich, bis der Fuß zurückschnellte und die Tür endlich ins Schloss fiel.
Ich verriegelte sie.
Dann trat ich einen Schritt zurück.
Er trommelte erneut mit den Fäusten gegen die Tür. »Ruby!«
Ich trat noch einen Schritt zurück.
»Ruby!«
»Was?« Warum redete ich mit ihm?
»Bitte, Ruby. Bitte, öffne die Tür.«
»Nein.«
»Ruby!«
Ich presste die Lippen zusammen, damit mein Herz nicht entfloh. Jetzt wo meine Kehle blockiert war, versuchte es, sich hämmernd durch meinen Brustkasten zu bohren.
Er atmete schnell, verzweifelt und viel zu laut. Oder vielleicht war es mein Atem.
»Ruby, ich will nur schnell etwas holen. Bitte.«
Ich antwortete nicht.
»Etwas von ihr. Diese … Kette, erinnerst du dich? Ich will sie zurück. Bitte.«
»Warum?«
»Weil sie ihr gehörte und ich sie haben möchte, Ruby. Ich möchte sie wirklich haben.«
Um sie zu verkaufen? Oder um sie als Souvenir zu behalten? »Geh weg.«
»Ruby, lass mich rein.«
Kleines Schwein, kleines Schwein. »Nein.«
Die Tür erzitterte unter seiner Faust. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich wollte der Tür den Rücken kehren, aber vielleicht kam dann seine Faust hindurch. Wie in Shining.
Endlich hörte das Hämmern auf. Stille, nur mein Atem war zu hören. Und seiner. Ich kauerte mich an die Wand, konnte aber meine Augen nicht von dieser Tür wenden.
»Ruby, tut mir leid. Ich wollte nur …«
»Nein.«
»Bitte, mach auf. Bitte.«
»Nein.«
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will nur … ich vermisse sie einfach. Ruby.«
»Geh weg.«
»Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Zu spät, Junge, viel zu spät. Was tat ich denn da? Warum saß ich hier? Mein Handy. Mein Handy. Ich saß hier in Unterhosen und einem T-Shirt und hatte nicht einmal mein Handy bei mir.
Ich warf einen Blick zum Wohnzimmer, doch dass ich den Blick von der Tür abwandte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, ließ mich vor Angst erstarren. Mein Handy steckte zwischen den Sofakissen.
Ich konnte aufstehen. Ich konnte rennen und es in ein paar Sekunden in der Hand halten.
Doch ich stand nicht auf.
Es würde mich umbringen. Er würde in der Zeit, in der ich mein Handy holte, nicht durch die Tür kommen.
Es könnte mich vielleicht umbringen.
Ich konnte doch den Blick fünf Sekunden lang von dieser Tür abwenden, verdammt noch mal.
Nein. Konnte ich nicht.
Ich presste mich noch enger an die Wand, hätte am liebsten über meine Feigheit geheult. Ich konnte der Tür nicht den Rücken kehren. Was wäre, wenn das Handy verloren gegangen war? Wenn es hinter das Sofa gefallen war? Was, wenn ich alle Kissen vom Sofa fegen musste? Wie lange würde das dauern?
»Ruby, ich brauche einen Ort, wo ich bleiben kann. Bitte.«
Oh, als ob …
»Es ist kalt. Nur für eine Nacht. Ich hole mir ihre Kette und zisch morgen früh wieder ab. Bitte. Tut mir leid, Ruby. Mir tut alles leid. Es tut mir leid, dass ich mich nicht um sie gekümmert habe. Ich habe sie geliebt und du weißt es. Bitte, Ruby. Es tut mir leid, aber lass mich bitte rein.«
Er machte wohl Scherze, oder?
»Ruby! Ruby!« Seine Schreie verwandelten sich in ärgerliches Schluchzen.
Ich wollte nicht, dass seine Stimme ruhiger wurde. Ich wollte, dass der Griesgrämige Alte Saftsack von nebenan ihn hörte, herauskäme, um zu schauen, was hier los war. Er sollte die Bullen rufen.
Keine Chance. Ein Frösteln durchlief mich von Kopf bis Fuß.
Bitte, dachte ich. Bitte, lass es Morgen werden. Meine Haut, mein Herz, mein Inneres, alles war so kalt.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Drei Uhr? Noch fünf Stunden bis zum Morgen. G.A.S. stand vielleicht schon in vier Stunden auf. Nathan konnte die Tür aufbrechen und ich konnte in vier Stunden tot sein.
»Ruby, es ist hier draußen so kalt. Bitte. Ich brauche einen Platz zum Schlafen.«
Ich legte die Hände über die Ohren.
»Ruby? Mir ist kalt.«
Ihr auch.
Seine Stimme klang jetzt viel ruhiger. Er hatte sich wohl hingekauert, die Arme um den Leib geschlungen, eng an die Tür gepresst, denn ich spürte seine Stimme fast in meinem Ohr.
»Ruby. Warum lässt du mich nicht ins Haus?«
Sonst blase ich und puste ich …
»Ruby. Es ist kalt. Mir ist so kalt.«
Äußerst behutsam legte ich den Kopf an die Tür. Unsere Köpfe müssen sich fast berührt haben. Wenn er erneut gegen die Tür hämmerte, kam ich vielleicht vor Angst um, aber er tat es nicht. Er wimmerte. Ich starrte angestrengt auf das bemalte Sperrholz, wünschte mir, ich könnte hindurchsehen, war froh, dass ich es nicht konnte.
»Ruby, tut mir leid.«
Ich legte den Kopf schief. Seine Stimme war ein mitleiderregendes Gemurmel.
»Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich mich nicht um sie gekümmert habe. Bitte, lass mich ins Haus. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Mir ist so kalt. Bitte.«
»Nein«, erwiderte ich, dieses Mal recht sanft. Meine Lippen waren schließlich fast an seinem Ohr. Und ich beschloss, nicht mehr mit ihm zu reden.
»Kalt, Ruby.«
»Bitte, Ruby.«
»Lass mich rein. Ruby?«
Die Bitten kamen seltener, doch ich hörte sie noch immer. Ich hörte sie wie in einem Traum, und vielleicht waren sie ein Traum, denn die Erschöpfung überwältigte mich jetzt, erstickte sogar die Angst. Ich schlief ein und wachte wieder auf, dort in der Diele, an die Tür gepresst, nah genug für Nathan, um mich umzubringen.
Nur dass da die Tür noch zwischen uns war.
»Oh, Ruby. Öffne die Tür, Ruby.«
Ich denke, das war das letzte Mal. Ich hörte keine weiteren Bitten, es sei denn, ich hörte sie im Traum. Als ich wieder erwachte, lag ich zusammengerollt auf dem Boden, den Kopf gegen die Tür gepresst, und war bis auf die Knochen durchgefroren.
Ich zitterte wie Espenlaub. Ich vergaß Nathan kurzfristig und krabbelte zu meinem Schlafzimmer, wo ich Jeans, einen dünnen Pullover und einen dicken Pullover und Wollsocken zusammensuchte. Selbst als ich damit fertig war und mich an ihn erinnerte, hatte ich keine Angst, denn ich wusste, dass er gegangen sein musste. Die Tür war nicht geöffnet worden. Und durch die dünnen Vorhänge stahl sich ein vages Winterlicht. Der Tod kam nicht im Tageslicht. Er war gegangen.
Gerade als ich das dachte, hörte ich, wie sich die Nachtstromheizung einschaltete. Ich rollte mich in meinem Bett zusammen, umfasste unter der Bettdecke meine Knie und wartete darauf, dass sich das Haus schnell erwärmte, wie es immer der Fall war. Schließlich fröstelte ich nicht mehr, und nach einer Ewigkeit war mir warm genug, dass ich die Bettdecke abwarf und mich aufsetzte.
Ich holte mein Handy. Es steckte in dem Zwischenraum zwischen den Sitzkissen. Gestern Nacht hätte ich es mir schnappen und ganz schnell die Polizei rufen können. Ich Idiotin.
Wie auch immer. Es war alles in Ordnung. Nichts war passiert. Mir ging’s gut.
Ich hielt das Handy in der Hand. Ich sollte aber trotzdem jetzt die Polizei anrufen. Nathan Baird war zurückgekehrt. Er war wieder aufgetaucht und die Polizei würde ihn jetzt mühelos finden.
Ich starrte zur Tür. Nach dem gestrigen Abend sah sie so bedrohlich aus wie ein Grabstein.
Meine Hand zitterte, als ich sie ausstreckte und behutsam den Riegel löste. Genauso vorsichtig betätigte ich das Yale-Schloss, drehte den Griff um. Ich hielt die Luft an, als ich die Tür geräuschlos öffnete.
Nichts. Nicht einmal eine Einbeulung auf der ausgefransten Matte, nicht einmal der Geruch von Schweiß und Crack. Vielleicht war er nur ein Traum gewesen. Die Luft auf meinen Lippen und in meinen Nasenflügeln war bitterkalt, aber ich atmete tief ein und trat vor die Tür. Durch meine Socken drang die Kälte der Stufen und Gehwegplatten an meine Sohlen, doch ich ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Ich hielt das Handy in meinen zitternden Händen, aber ich hatte es fast vergessen. So gelangte ich zur Ecke des Hauses, wo der steinerne Wasserspeier vorwurfsvoll zu mir hochblickte. Fast hätte ich den Finger auf die Lippen gelegt. Ich stützte mich mit einer Hand auf die graue raue Mauer, als ich um die Ecke bog.
Auf den ersten Blick sah ich nichts. Lediglich aufgetürmte Reifen und eine alte Decke. Sie war nicht mehr mit Ziegelsteinen beschwert, sondern hüllte etwas ein. Ich überlegte, weshalb ich keine Angst hatte, trat näher und berührte die Decke. Sie war starr von Frost, der so schwer war wie Schnee, und an der Stelle, an der ich sie anhob, am starrsten. Nathan blickte mir entgegen, die Augen halb geschlossen, die Lippen blau. Sein strähniges Haar war mit Frost überzogen.
Ich schlug die gefrorene Decke zurück und legte sie ihm um den Hals. Dann setzte ich mich auf die Plastikbank und betrachtete ihn.
Hatte ich erwartet, dass er sich rührte, wie in einem schlechten Horrorfilm? Es sah aus, als schlafe er, vergraben unter der Decke, nur dass sein Atem nicht die kühle Luft trübte und sein Brustkorb sich nicht hob und senkte und seine Haut so ungeheuer wächsern war, so blau angelaufen. Die halb geschlossenen Augen blinzelten nicht und seine grauen Pupillen blickten in die Ferne.
Doch ich wollte mich nicht von ihm abwenden. Es war wie gestern Abend, doch ein bisschen anders. Als ich zögerte und fröstelte, dachte ich darüber nach, was die Leute sagten: Erfrieren ist gar nicht so schlimm. Wenn die Kälte tief genug eingedrungen ist, fühlt man sich warm, möchte nur noch schlafen.
Ich dachte auch über andere Dinge nach. Ich dachte an Fliegen in Bernstein, in einem Schuhkarton, zusammengehalten mit einem blauen Band, in einem sicheren Haus.
Ich dachte über Hunde nach, die nicht bellten. Ich konnte mich einen Moment lang nicht erinnern, warum dieser berühmte Hund ruhig gewesen war. Doch dann fiel mir die ganze Geschichte wieder ein, und ich erinnerte mich, warum der Hund in der Nacht nicht gebellt hatte.
Ich klappte mein Handy auf und scrollte die Adressliste herunter. Ich runzelte die Stirn und nagte an meiner Unterlippe. Einen Augenblick lang zögerte ich.
Doch dann rief ich Foley an, um ihm zu sagen, dass es mir gut ging und ich keine Angst hatte und dass Nathan Baird tot in meinem Garten lag.