Epilog
Er hatte mir ein Eis mit Schokoriegel gekauft. Als er mir die Tüte reichte, starrte ich sie an und rümpfte die Nase.
»Du hast Vanille gesagt.«
»Ja, ja.« Ich nahm den Riegel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und reichte ihn ihm. »Hier, den kannst du haben.«
Er nahm ihn, steckte ihn neben den Riegel in seiner eigenen Eistüte. Wir saßen auf der Mauer am Meer, den Dünen zugewandt, die Stadt in unserem Rücken. Die Welt beziehungsweise Breakness als kleiner Ausschnitt davon wirkte leuchtend hell. Seit Wochen gab es schon Regenstürme. Das Wasser ergoss sich sintflutartig aus einem schwarzen Himmel; war der Sturm dann vorbei und der Himmel wieder blau, war die Welt sommergrün und rein gewaschen und glänzte hell. Oben auf den Klippen würde es rutschig sein. Ich biss in mein Eis.
»Er ist heute aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie haben ihn sofort ins Gefängnis gebracht.«
Ich zögerte, nickte. »Gut.«
»Dann hör auf zu zittern. Bist du nicht froh?«
»Bist du froh?« Ich drehte den Kopf zur Seite, um Tom Jerrolds Gesicht zu studieren.
Der Aufblasbare George war nicht gefallen. Er landete direkt am Fuß der Klippe, war aber nicht gefallen, sondern gerutscht. Er wäre vielleicht gestorben, wenn er richtig durch den Raum gefallen wäre, doch das tat er nicht. Und das war mein Glück, denke ich – dass George nicht gefallen war. Ihm war sein Leben geblieben.
Aber ich hatte meines ebenfalls zurück. Man muss gerecht sein.
Ich hätte noch ein bisschen länger in dem Haus bleiben können, dem Haus, das Lara und Jinn und ich geteilt hatten, aber das wollte ich nicht. Es spukte zu sehr darin, wobei mich nicht so sehr die Geister störten, sondern die Traurigkeit. Als das Wohnungsamt mir eine neue Bleibe gab, eine Doppelhaushälfte mit einem Schlafzimmer, ließ ich die Windmühlen, die Sonnengesichter aus Plastik, die Windspiele und alle Pflanzen zurück, die seit dem letzten Sommer überlebt hatten. (Ich nahm aber den hässlichen Wasserspeier mit. Ich konnte ihn nicht zurücklassen. Er würde niemand anderen finden, der ihn so liebte, wie wir es getan hatten.)
Gelegentlich ging ich an unserem Haus vorbei – ich musste einen Umweg machen, es war keine Ecke, an der ich je zufällig vorbeikam –, und unser Gartenfirlefanz war immer noch da. Ein bisschen verblasst, nicht mehr so glänzend, aber die neuen Bewohner hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn loszuwerden. Da wünschte ich mir, ich hätte ihn selbst entsorgt.
Die Reifen und die alte Decke waren natürlich weg. Ich fragte nicht, was mit ihnen passiert war.
Mein neues Zuhause lag am Rand von Breakness. Nicht auf der Seeseite natürlich – die Häuser dort waren zu begehrt –, aber mit Blick auf flache Felder und die Schweinefarm und den Militärflugplatz mit den Hügeln und Glassford in der dunstigen Ferne. Ich konnte von Glück reden, so eine Aussicht zu haben.
Ich hatte Ziegen – das war das Lustige. Selbstverständlich nicht meine eigenen. An den Garten des Doppelhauses grenzte ein Stück Feld, zwischen einem Schweinestall und einem Cottage, das eher einem Schuppen glich. Dort wohnten ein paar Hippietypen mit barfüßigen Kindern, die eine kleine Töpferei betrieben und ein paar struppige Hühner hatten. Als ich sie das erste Mal nach den Ziegen rufen hörte, brachten mich ihre vornehm-sonoren Stimmen aus der Fassung. Vater Hippie war früher Börsenmakler, und die barfüßigen Bengel gingen, wie sich herausstellte, auf eine Privatschule.
Die Ziegen und ich genossen den Spaß. Ich ging immer zum Ende des Gartens und fütterte sie mit Resten – es stimmte, dass Ziegen alles fraßen: Toastkrusten, Tomatenpelle, den Rest von einem Cheeseburger, das Pappestück einer Toilettenrolle (Letzteres war ein Versehen). Sie hatten böse Augen und einen boshaften Charakter und die Geiß jagte der Hippie-Mutter immer eine Heidenangst ein und lockte sie in einen Hinterhalt zwischen dem Cottage und ihrem Gemüsebeet. Jinn hätte diese Ziegen geliebt. Sie hätte ihren Spaß gehabt.
Ich war glücklich in meinem neuen Zuhause und vermisste das alte nur gelegentlich. Deswegen machte ich einen Umweg, um es zu sehen: nur um mich von meiner Nostalgie zu kurieren. Das Haus schien jetzt nichts mehr mit mir zu tun zu haben, und auch nichts mit Jinn.
»Ich bin froh«, sagte Tom schließlich.
Er hatte lange darüber nachgedacht, es sehr ernst genommen. Ich musste mich anstrengen, um mich zu erinnern, wie die Frage gelautet hatte.
»Ich meine, ich bin nicht froh, dass er noch lebt, das ist mir völlig egal«, sagte er. »Aber es stimmt, was sie sagen. Es wäre zu einfach für ihn gewesen, wenn er gestorben wäre.«
»Er kriegt lebenslänglich«, gab ich zu bedenken. »Sie haben mir gesagt, er wird für immer da drin sein.«
»Ja. Bis jemand ihn heiraten will und eine Kampagne für ihn lostritt.«
»Du Zyniker«, sagte ich. »Das wird nie passieren.«
»Du hoffst, dass er für immer da drin bleibt? Musst du wohl.«
»Ja.«
»Ich frag mich, ob du dasselbe über mich gesagt hättest.«
Wer hat eigentlich die Eistüten erfunden? Sie schmecken nicht einmal. Trocken wie Zweige, sobald man das Eis gegessen hat. Ich warf den Rest von meiner in den Fluss. Dieses Mal trieb sie eine oder zwei Sekunden lang flussabwärts, bevor sich eine Möwe darauf stürzte.
»Tut mir leid, das«, sagte ich.
»Ja. Also, ich weiß nicht, wie du auf die Idee gekommen bist, du könntest einen Toyota über eine Klippe stoßen.«
Ich wusste nicht, ob er recht hatte, aber ich sagte noch einmal: »Tut mir leid. Ich dachte – ich dachte wirklich, du wärst es gewesen.«
»Warum? Warum hätte ich das tun sollen?«
»Ich weiß nicht. Weil ich mich dann nicht so schuldig fühlen würde? Ich weiß nicht.«
»Du fühlst dich schuldig, ja?«
Gott, die Farbe meines Gesichts muss sich in diesem Moment mit der meines Haars gebissen haben. »Hat er dir erzählt, was ich gesagt habe?«
»Oh ja.«
Tja, das hatte ich vermutet. Ich hatte es bis jetzt nur noch nicht mit Sicherheit gewusst.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid.«
»Ja.«
»Ich habe es nicht …« Ich leckte mir die Lippen, räusperte mich. Es sollte nicht nach einer Ausrede klingen. »Ich habe es nicht so gemeint, was ich zu Alex gesagt habe. Ich habe nicht gemeint … Ich sage nicht, dass ich nicht verantwortlich bin. Nur. Weißt du. Ich wollte, dass du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe.«
»Ich weiß.« Er sah mich beinahe an, lächelte beinahe. »Danke, dass du ihn besucht hast.«
Na ja, er brauchte mir nicht zu danken. Es war nicht so schrecklich gewesen. Alex hatte nicht blass auf einem viktorianischen Krankenbett gelegen. Er saß in einem hightechmäßigen Rollstuhl. Und die Atmosphäre war nicht gerade toll gewesen, doch wir hatten ein bisschen hilflos Konversation gemacht und dann im selben Moment beide »Tut mir leid« gesagt. Das hätte Alex fast ein Lachen entlockt.
»Das Buch gefällt ihm. Wann brauchst du es zurück?«
»Keine Eile. Ich hab’s mir von einer alten Dame im Oak Tree Court geliehen. Hab gesagt, ich würde es ihr nächsten Monat zurückbringen.« Was ich tun würde. Dieses Mal.
Jetzt da wir uns Alex von der Seele geredet hatten, war die Atmosphäre netter. Tom brach das Ende seiner Eistüte ab, schaufelte damit Eis ab und steckte sich die Mini-Eistüte ganz in den Mund. Ich spürte einen Schmerz in der Brust.
Ich hatte zum ersten Mal recht: Es gibt nichts, was man tun kann. Dinge bleiben getan und gesagt. Man kann sie nicht ungeschehen oder ungesagt machen. Niemand konnte für Alex’ verlorene Zukunft sühnen und niemand konnte für Jinn sühnen. Aber warum sollte ich diese Befriedigung auch haben? Es gab nichts, was ich jetzt tun könnte, um Alex am Springen zu hindern. Ich konnte nicht zurücknehmen, was ich damals gesagt hatte, aber ich durfte mich auch nicht darin suhlen. Wie Foley gesagt hatte: Du musst damit leben. Musst damit leben.
Tom stützte sich auf seine Ellbogen und sah zum Himmel hoch. »Ich war nicht für ihn da. Das ist kein tolles Gefühl, aber der kleine Scheißkerl ist aus freien Stücken gesprungen. Ich habe ihn nicht gestoßen, du hast ihn nicht gestoßen. Ich will nicht ewig wütend auf ihn sein, aber ich will mich nicht dafür entschuldigen müssen, was er getan hat. Nicht gegenüber meiner Mum oder meinem Dad oder irgendjemandem. Dafür, was er getan hat, er. Wir müssen alle einfach damit leben. Der egoistische kleine Mistkerl.«
»Ich wünschte, es wäre nicht passiert.«
»Ich auch.«
Er stand auf, lächelte mich an. »Bis dann mal wieder.«
Ich stand ebenfalls auf. Es fühlte sich irgendwie formell an, und das nicht nur, weil er einen Anzug und eine Krawatte trug. Ich dachte, ich sollte ihm die Hand schütteln, war mir aber nicht sicher, wie. Also sagte ich einfach nur: »Tschüss.«
Er winkte mir zu, als er wegging.
Ich beobachtete den Fluss, der schnell zum Meer hin floss, und die Kinder, die über die wacklige Brücke zum Strand liefen. Tripp-trapp, tripp-trapp. Als ich wieder auf die Uhr schaute, war es Zeit für meine Nachmittagsschicht.
Es verschlug mir den Atem, als ich die Dicke Bertha sah. Sie saß auf dem Ledersofa vor dem Salonfenster, neben sich ihre Handtasche, und las eine Klatschzeitschrift.
Clarissa sagte: »Bertha Turnbull ist da. Sie wollte zu dir. Hat keinen Termin.« Sie starrte mich böse an, so als sei dies meine Schuld. »So was wie Nein hat sie nicht akzeptiert.«
»Oh«, sagte ich.
»Vergiss nicht, dass du um zwei Mrs Bolland hast.«
Wie sollte ich? Die mit dem Gesicht, das Steine zum Erweichen bringen konnte.
Mir war übel, und ich wollte nicht hingehen und mit Bertha sprechen, doch Clarissa bedachte mich mit einem eisigen Blick. Das tat auch Mrs Bolland, den Kopf voller glitzernder Folien, die darauf wartete, dass ihr Haar ausgespült wurde.
Ich stand vor Bertha, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich seufzte sie und faltete die Zeitschrift wieder ordentlich zusammen.
»Du kommst nicht mehr zu mir, also dachte ich, ich komme hierher.«
»Nun«, sagte ich. »Ich … Kommst du bitte hier rüber?« Ich deutete auf einen Frisierstuhl.
Sie stand schnell auf und marschierte herüber. Sie setzte sich, zupfte an ihrem dünnen Pony herum, schaute dann hoch und begegnete im Spiegel meinem Blick. Sie lächelte verkrampft, wobei keine Zähne zu sehen waren. Dann fuchtelte sie mit der Zeitschrift rum und zeigte auf ein Foto.
»Rosa Strähnchen. Wie sie hier. Du hast es versprochen.«
Ich grinste. Konnte nicht anders. »Rosa Strähnchen.«
»Ja. Schaffst du es, dich lange genug mit mir zu unterhalten, um das hinzukriegen?«
»Ich kann nicht – ich hab im Moment eine andere Kundin. Und ich muss es bei dir zu Hause machen. Ich bin nicht qualifiziert …«
»Aber du kommst vorbei? Demnächst mal?«
»Natürlich komme ich.«
»Das wollte ich hören. Gut. Dann gehe ich jetzt.«
Ich schluckte schwer. »Es tut mir leid wegen …«
»Ich muss zurück zur Arbeit«, unterbrach sie mich scharf. »Oh, übrigens, er will mit dir sprechen.« Bertha deutete mit dem Kopf in Richtung Fenster.
Ich schloss ein Auge, griff nach einer Haarsträhne, um sie genau zu untersuchen. »Wer?«
Sie deutete mit dem Daumen hin. Ich musste hinsehen. Jenseits der Schaufensterauslage bonbonfarbener Tuben und Dosen voller Wachs und Shampoo und Pflegespülung, jenseits der beleuchteten Glasscheibe, jenseits des ungeduldigen Verkehrs, sah ich einen Jungen, der gegen die Wand des Surfladens gelehnt war. Er schaute nervös die Straße rauf und runter, schaute überallhin, nur nicht in Richtung Salon. Ein kleines Mädchen, zu Tode gelangweilt, trat ihm rhythmisch gegen das Schienbein.
»Oh«, sagte ich.
»Armer Foley. Er war wütend wegen der Sache mit dem Auto. Verärgert. Aber jetzt ist er drüber weg, weißt du. Jetzt denkt er, dass er dich im Stich gelassen hat.«
Das hatte er verdammt noch mal ja auch.
Andererseits hatte er in den Leerlauf geschaltet und geholfen, den Wagen zu schieben. Und ich hatte ihn wohl auch im Stich gelassen, einfach indem ich erwartete, dass er es tun würde.
»Ja«, seufzte ich. »Das denkt jeder manchmal.«
Genau in diesem Moment sah er zu mir hin. Ich hob den Kamm und winkte schüchtern. Ich versuchte, nicht zu breit zu lächeln, als er dann die Hand hob. Mallory zeigte mir den Stinkefinger.
»Ich kann mich mit ihm nach der Arbeit treffen«, sagte ich zu Bertha.
»Ich werd’s ihm sagen.« Sie stand auf.
»Kannst du Mrs Bolland jetzt die Haare ausspülen?« Clarissa wartete, bis Bertha gegangen war, aber sie klang verärgert.
Bei dem Gedanken, dass ich den Job brauchte, schluckte ich hart und vergaß Foley. Komisch, wie nervös ich war. Sie war nicht so übel, Mrs Bolland, wenn man einmal angefangen hatte. Man musste nur mit ihr plaudern. Sie aufwärmen. So tun, als sei sie einfach ein menschliches Wesen.
Jinn war nicht mehr da, um solche Dinge für mich zu tun, also war es Zeit, mit ihnen leben zu lernen. Selbst wenn es sich um Mrs Bolland handelte.
Ich befreite sie von den Folien und lächelte die alte Fledermaus im Spiegel an. Ihr Anblick konnte Steine erweichen, aber ich hatte Schlimmeres gesehen.
»Also, Mrs B«, sagte ich. »Haben Sie was Schönes vor in Ihrem Urlaub?«