Eins
»Niemand hat ihn geschubst«, sagte Jinn. »Es ist allein seine Schuld. Dieser Armleuchter.«
Selbst gemessen am Standard meiner großen Schwester, war diese Erklärung allzu einfach, aber ich sagte nichts.
Mir war überhaupt nicht danach, viel zu sagen – egal, worum es ging. Der Alex-Jerrold-Vorfall hatte die Richtigkeit dieser Taktik nur bestätigt. Öffne den Mund – ich weiß, das ist kein schönes Bild – und du öffnest eine Dose mit Würmern. Halt den Mund, und die Wahrscheinlichkeit, dass du irgendeinen Wichser dazu bringst, sich von einem Dach zu stürzen, wird geringer.
Aber die Sache mit Alex Jerrold ist die, dass er vielleicht sowieso gesprungen wäre.
Die Sache mit mir ist die, dass ich es nie wissen werde.
Weil ich ihn nämlich nie fragen werde. Ich könnte ihn fragen, denn selbst das Springen vom Dach hat er nicht richtig hingekriegt. Er liegt im Haus seiner Eltern wie eine kaputte Puppe und wartet darauf, dass ich ihn frage. Aber mir würde seine Antwort nicht gefallen.
Ich wollte nicht über Alex Jerrold und seinen stümperhaften Selbstmordversuch reden, und ich weiß nicht, warum Jinn davon anfing, ausgerechnet an einem Tag wie diesem. Wir beobachteten die Flut, die flussaufwärts strömte, aber es gab keine freien Bänke im Dot Cumming Memorial Park, sodass wir auf dem Rücken im Gras lagen. Es machte uns nichts aus, denn das Gras war trocken, und die schwarz gestrichenen Bänke sahen in der Hitze beinahe klebrig aus. Auf einer von ihnen, direkt rechts von uns, hatte sich das geblümte Hinterteil einer Frau so breitgemacht, dass man meinte, es habe zu schmelzen begonnen. Die Chancen standen gut, dass sie an der Bank festkleben und nie wieder aufstehen würde. So dick war sie. So heiß war es.
Jinn hatte uns Eis gekauft und eine eisgekühlte Flasche Cidre, die schon lauwarm zu werden begann. In meiner Eistüte steckte ein Schokoladenriegel. Ich wollte ihn eigentlich nicht, konnte ihn aber schlecht in den Fluss werfen, da Jinn es doch gesehen hätte und extra Geld dafür ausgegeben hatte, um mich glücklich zu machen. Sie hatte das spitze Ende der Eistüte abgebissen, so wie sie es immer tat, und schaufelte damit Eis von oben ab. Ich beobachtete, wie sie die Mini-Eistüte ganz in den Mund steckte und sie mit geschlossenen Augen knirschend zerkaute. Ich liebte es, ihr dabei zuzusehen; es war das Beste am Eisessen. Das machte mich glücklich, nicht der Schokoladenriegel. Jinn hatte vergessen, dass ich kein kleines Kind mehr war. Irgendwie vergaß sie auch immer, dass ich zu alt für Eis war. Was super war.
Ein Kampfjet vom Fliegerhorst donnerte über unsere Köpfe hinweg. Ein zweiter folgte ihm wenige Sekunden später. Doch der ohrenbetäubende Lärm wurde schnell schwächer, sodass ich keine Entschuldigung hatte, den Mund zu halten. Jinn sagte nichts mehr, weil sie wusste, dass ich irgendwann etwas würde sagen müssen. Ich wollte sie nicht enttäuschen und sagte schließlich: »Nicht wirklich.«
»Nicht was, Rubes?«
»Nicht sein Fehler.« Mir klebte die Zunge am Gaumen fest. Das lag an der Hitze. Ich leckte an meinem Eis. Gott, war es heiß. »Ein paar Leute haben …«
»Gebrüllt, er soll springen?« Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich. Na und? Sie haben es nicht ernst gemeint.«
»Wie willst du das wissen?«
»Schließlich«, sagte sie noch einmal, »hat ihn keiner geschubst.«
Ich hatte schon einen ganz trockenen Mund vom vielen Reden. »Er hat nicht mehr klar gedacht.«
»Wie willst du das wissen?« Jinn legte den Kopf schief. »Du warst nicht in seinem Kopf.«
Womit klar ist, wie viel du weißt, wollte ich sagen. »Warum haben sie gesagt, er soll springen, wenn sie es nicht ernst gemeint haben?«
»Keine Ahnung. Haben sich da irgendwie reingesteigert? Waren aufgeregt? Wollten jemanden beeindrucken?«
Ich sah sie missbilligend an, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Jinn hatte mich nie über Alex ausgefragt. Ich denke, sie respektierte meine Privatsphäre oder so. Wartete darauf, dass ich darüber reden wollte. Wenn sie darauf wartete, würde sie an Langeweile sterben.
Sie saugte den Rest des geschmolzenen Eises durch das Loch unten in der Eistüte, warf die Eistüte in Richtung Fluss und ließ sich mit einem glücklichen Seufzer zurückfallen. Eine Möwe fing das Stück Eistüte, bevor es ins Wasser fiel. Das erinnerte mich an Alex Jerrold, aber das tat zurzeit alles. Nichts machte einen Sturzflug durch den blauen Raum, um Alex aufzufangen; keine weißen Flügel durchschnitten die tödliche Leere. Alex landete. Die Erinnerung fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Ich fuhr hoch. »Wollen wir was anderes machen?«
»Was zum Beispiel?« Jinn öffnete ein Auge.
»Strand?«
»Kannst du denn nicht einfach mal still dasitzen?«, beklagte sie sich.
Nein, ganz bestimmt nicht. Außerdem: Wenn es nach Jinn ging, würden wir unsern Hintern von Juli bis September nicht von der Stelle bewegen. Wir würden einfach im Gras liegen, sie würde Geschichten erzählen und ich ihr zuhören. Jinn liebte den Sommer. Im Sommer passiert nichts Schlimmes, sagte sie.
Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Lara starb im Winter, weil es dunkel war. Und in diesem letzten Winter sprang Alex Jerrold von einem Dach und brach sich zwei Wirbel, einen Oberschenkelknochen und beide Hüften. Aber daran waren nicht die Lichtverhältnisse schuld. Alle konnten gut sehen.
Ich wollte jetzt unbedingt zum Strand, doch Jinn alberte eine Weile lang herum, weigerte sich, aufzustehen und machte sich ganz schwer, als ich versuchte, sie hochzuziehen. Als mein Lachanfall endlich vorüber war, schaffte ich es, sie hochzuhieven, und wir schlenderten zum Fluss, Jinn mit der Cidreflasche in der Hand, die sie hin und her schwang. Bei Breakness war der Fluss breit und flach und floss in einer ausgedehnten Schleife, die den Strand von der Stadt trennte. Die hübsche Hauptstraße wurde auf der einen Seite von Geschäften, auf der anderen vom Dot Cumming Park gesäumt. In den VisitScotland-Broschüren sah es so aus, als fände man sich dann direkt auf dem Strand wieder, doch im wirklichen Leben kamen zuerst die große Schleife und die Flussmündung. Erst jenseits des Flusses befanden sich die Halbinsel mit Dünen und der flache weiße Strand und das Meer.
Ja, wir mussten arbeiten für unseren Strandsommer in Breakness. Und das mussten auch die Touristen, was sicherlich der Grund dafür war, dass sie nicht mehr kamen. Das und Billigflüge nach St. Lucia natürlich. In Breakness fand man einen Parkplatz in der vollgestopften High Street, packte seinen Grill und seinen Windschutz und seinen Swingball aus und torkelte dann entweder zu der wackligen Brücke oder zog die Schuhe aus und watete hinüber. Wenn man nicht von hier kam, war das Leben im Grunde genommen zu kurz.
Zu dieser Tageszeit reichte das Wasser aber nur bis an die Waden, sodass Jinn und ich hindurchwateten. Da die Flut landeinwärts drängte, war die Strömung zum Meer hin nicht allzu stark. Doch die beiden Strömungen kabbelten sich und die Oberfläche war aufgewühlt von heftigen kleinen Wellen. Meine Füße versanken im Sand. Er war so weich, dass man fast das Gefühl hatte, dahinzugleiten; keine harten Steine, die Halt boten. Und verglichen mit dem kalten Griff des Wassers an meinen Knöcheln, fühlte sich der Sand zwischen meinen Zehen warm an. Ich liebte dieses Gefühl.
»Sieh dich vor dem Treibsand vor«, sagte Jinn.
Okay, ich liebte dieses Gefühl bis zu einem gewissen Punkt. Ich schubste sie, verärgert, dass sie den Zauber gebrochen hatte, und sie stolperte und kicherte.
»Oh, Rubes, hier gibt es keinen Treibsand. Das weißt du doch genau.«
»Ich weiß«, log ich. Dennoch hastete ich durch den Fluss und aus ihm hinaus und bespritzte meine hochgekrempelten Jeans. Was wusste sie schon? Treibsand gab es vor allem in Flussmündungen. Er konnte plötzlich auftreten, da war ich mir ziemlich sicher.
Keine von uns war in der Stimmung, weit zu gehen, sodass wir uns, sobald wir durch den Sand hinaufgekraxelt waren, hinsetzten, um übers Meer zu schauen und es uns in der Wanderdüne bequem zu machen. Jinn nahm einen großen durstigen Schluck Cidre, bevor sie mir die Flasche reichte. Ich hielt sie mir an die Lippen, doch das Zeugs war warm, und ich war noch nie scharf auf den Geschmack gewesen. Zufrieden nahm Jinn die Flasche wieder entgegen.
»Ich sollte dich sowieso nicht dazu ermutigen. Du bist noch minderjährig.«
Eis und Cidre hatten mich schläfrig gemacht. Das Sonnenlicht war eine unbarmherzige weiße Glut, das Glitzern und Rauschen der Wellen hypnotisierend. Im Wasser waren Schwimmer und Bodyboarder, am Ufer Kinder, ausgezehrt von der blendenden Helle. Unter einem gestreiften Windschutz hörte jemand Radio. Herrgott noch mal, wozu brauchten die bei diesem Wetter einen Windschutz? Ein Drachen hing schlaff am Ende der Schnur und weigerte sich, bei dieser Windstille höher aufzusteigen. Er schwebte eine Weile in der Luft und machte dann einen Sturzflug zu Boden.
Ich wünschte, Jinn müsste am Nachmittag nicht zurück zur Arbeit. Ich wünschte, sie ginge noch zur Schule und wir könnten die ganzen Sommerferien zusammen verbringen, so wie früher. Dumm gelaufen, keine Frage, aber am meisten ärgerte ich mich über das schlechte Timing. Wenn Lara sich einen anderen Zeitpunkt zum Sterben ausgesucht hätte, hätte Jinn vielleicht zur Uni gehen können, und dann hätte sie auch Ferien, zur selben Zeit wie ich, jedenfalls ungefähr.
»Nee«, sagte Jinn immer. »Ich würde in den Ferien arbeiten müssen. Das tun Studenten nämlich.«
Womit sie recht hatte. Und sowieso fühlte ich mich irgendwie schlecht, wenn ich daran dachte, welche möglichen positiven Folgen Laras dämlicher Tod hatte.
Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass ich sie vermisste. Sie war exzentrisch und unmöglich und absolut die unfähigste Mutter, die ich mir vorstellen konnte, aber sie war da, es machte Spaß, mit ihr zusammen zu sein, und sie machte eindeutig den besten heißen Kakao auf der Welt: so einen mit Marshmallows und einer so dicken Schicht Sahne, dass man kaum an den Kakao darunter rankam. Und die Sahne kommt ganz kalt aus dem Kühlschrank, sodass es fast ein Schock ist, wie heiß der Kakao darunter ist. Und das ist wirklich der absolut beste heiße Kakao, auch wenn sie nie gewollt hätte, dass ich das sage, denn Lara nahm Leute, die Wörter wie »absolut« und »wirklich« überbeanspruchten, gern auf die Schippe. Ich überbeanspruchte überhaupt keine Wörter, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das so toll fand.
Hey, sie konnte nicht beides haben.
Eigentlich ist der Name meiner Mutter Lorraine. Der Name gefiel ihr nicht (»Mum« aber auch nicht), also bestand sie darauf, Lara genannt zu werden (zu Ehren von Lara Croft, nicht dieser russischen Braut in Doktor Schiwago). Wenn sie sich mit jemandem gestritten hatte und der Betroffene sie aufziehen wollte, nannte er sie wieder Lorraine. Das machte sie wahnsinnig, also schnitt sie den Übeltäter, wenn sie ihm auf der Straße begegnete, und der Streit wuchs sich zu einer kleinen Fehde aus, bis bei beiden der Ärger verraucht war und So-und-so sie wieder Lara nannte.
Mir gefiel der neue Name meiner Mutter, und ich war ein bisschen eifersüchtig, dass sie ihn nicht für mich aufgehoben hatte. Stattdessen hatte sie mich nach einem ihrer Lieblings-Country-und-Western-Songs benannt. Es hätte schlimmer kommen können: Wenn ich ein Junge gewesen wäre, hätte ich Elvis geheißen, und ich bin mir nicht sicher, ob Elvis Carmichael eine so gute Kombi wäre.
Jinn hieß in Wirklichkeit Jacintha und sie hasste den Namen. Jacintha war eine Figur in einer von Laras Lieblingssoaps: irgend so eine märtyrerhafte Ärztin, die sich hoffnungslos in einen Arzt verknallt hatte. Jacintha der Fußabtreter verzehrte sich noch immer vor Sehnsucht nach diesem Mann, als ich mit ungefähr sieben anfing, Medics zu gucken: So lange hatten die Drehbuchautoren die Sache in die Länge gezogen. Vor ein paar Jahren fiel Jacintha der Fußabtreter schließlich unter einen Bus und starb in den Armen des am Boden zerstörten dummen Typen, was wirklich eine Erleichterung war. Als sie elf war, schwor Jinn mir beim Licht einer LED-Mini-Taschenlampe, dass sie nie Jacinthas Beispiel folgen würde und ab sofort ihren Namen änderte. Wir besiegelten den Pakt mit Blut von unseren Daumen. Lara nahm uns diesen Akt der Rebellion nicht übel, denn selbst sie hatte inzwischen genug von Jacintha dem Fußabtreter. Sie fand es nicht einmal schlimm, dass wir blutige Daumenabdrücke auf den Bettlaken hinterlassen hatten, aber Haushaltsfragen kümmerten Lara sowieso nie.
Lorraine wurde also Lara und Jacintha wurde Jinn. Ich war die Einzige in der Familie, die ihren Namen nicht veränderte. Ruby Intacta.
Ich hatte die Augen geschlossen, um mich vor dem grellen Flirren des Meeres zu schützen, aber ich schlief nicht, sodass ich es sofort merkte, als sich ein Schatten vor die Sonne schob. Mit dem Flimmern vor meinen Augenlidern verschwand auch die Wärme des Tages und mich überlief ein Schauer, wie ein Flüstern. Ich wollte eigentlich nicht die Augen öffnen, war aber zu neugierig, um es nicht zu tun. Ich rieb mir die Gänsehaut von den Armen, blinzelte und setzte mich auf.
Ich war diejenige, die sich in seinem Schatten befand, aber er sah nicht mich an. Es war meine Luft, aus der er die Wärme gesaugt hatte, nicht Jinns, aber es spielte ohnehin keine Rolle, ob ich da war oder nicht. Jinn, die noch im Sonnenlicht lag, hielt schützend die Hand vor die Augen und lächelte ihn an.
Als meine Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, warum. Ich konnte nicht viel von seinem Gesicht sehen, doch mit fünfzehn wusste ich sofort, wann ich ein nettes Profil vor mir hatte.
»Das Zeug ist Mist.«
»Ja. Schrecklich. Möchtest du was?« Jinn schwenkte die Flasche.
Sie und der Junge unterhielten sich, als sei ich mitten in eine Unterhaltung hineingeplatzt, also hatte ich vielleicht doch geschlafen. Als er sich in den Sand neben Jinn plumpsen ließ, drehte ich mich, um sein Gesicht besser sehen zu können. Nicht umwerfend schön und ein bisschen zu dünn, doch seine Augen funkelten auf diese Du-weißt-dass-du-willst-Art, und er hatte schöne Zähne und ein breites, gewinnendes Lächeln – das aber nur Jinn galt.
»Hi, Jinn.«
»Hi, Nathan. Lange nicht gesehen.«
Oh. Okay. Doch nicht mitten in einer Unterhaltung. Oder vielleicht hatte die Unterhaltung ja ein paar Jahre lang auf Eis gelegen. Ich kniff die Augen zusammen, um mir den Jungen genauer anzusehen. Oh ja, tatsächlich. Nathan Baird, der Unverwechselbare. Ich dachte, er sei für immer weggegangen. Doch vermutlich tat Nathan Baird nichts für immer.
»Ist das deine kleine Schwester?« Als hätte er mich gerade erst bemerkt.
»Ja.« Jinn legte den Arm um mich.
»Ruby Red. Deine Haare gefallen mir.«
Ich hatte sein Lächeln erwidert, bevor ich merkte, was ich tat, und musste jetzt ganz schnell ein finsteres Gesicht aufsetzen, so als hätte ich in Vorbereitung auf einen tödlichen Blick eine Art Krampf gehabt. Ich konnte jedoch nicht verhindern, dass meine Hand unwillkürlich nach meinem Igelschnitt griff und daran herumzupfte. Ruby Red war die Farbe, die auf der Flasche stand; deswegen hatte ich sie gewählt – weil mein Name draufstand. Ich fragte mich, ob Nathan das wusste. Es würde mich nicht überraschen.
Meine Haare waren von einem dunklen, lebhaften, unnatürlichen Rot, zu dramatisch für meine blasse Haut. Ich mochte sie so. Die ganze Sache hatte mir Spaß gemacht. Meine Haare waren verheddert und kurz, es gab also reichlich Farbe, und ich ging achtlos damit um und die Farbe war wie Blut über mein Gesicht getropft. Ich sah aus, als entstammte ich einem Stephen-King-Film, und das hielt ein paar Tage lang an, denn die dunklen, scharlachroten Spuren hatten Flecken hinterlassen, so als stecke eine unsichtbare Axt in meinem Schädel. Die Blutspuren waren natürlich längst verblasst, aber ich hatte mir die Haare vor Kurzem wieder gefärbt. Ich hatte all die seltsamen Blicke wirklich aufregend gefunden.
Ich wollte nicht mit Nathan über meine Haare reden, also ignorierte ich ihn. Er verstand den Wink und ignorierte mich ebenfalls. Leider ging er nicht. Es war heiß und sandig, und ich wäre gern losgegangen und hätte mir die Füße im Wasser gekühlt, aber ich mochte Nathan Baird nicht, hatte ihn nie gemocht. Es war so offensichtlich, dass er mit Jinn allein sein wollte, da musste ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen.
Ich legte mich wieder auf den Rücken und schloss die Augen, doch vor lauter Ärger war mir noch wärmer. Und ich hatte Durst. Es war dumm von Jinn, warmen Cidre zu kaufen, den ich in meinem Alter eigentlich nicht trinken durfte. Dennoch griff ich nach der Flasche, die halb vergraben im Sand lag, und nahm einen Schluck. Wie erwartet verspürte ich sofort einen pochenden Schmerz im Hinterkopf.
Scheiß drauf, ich musste los und im Wasser planschen.
Keiner von beiden nahm Notiz davon, als ich aufstand und mir den Sand vom Rücken schüttelte. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, zu kichern und einander im Spaß zu boxen. Jungen machten aus Jinn zweifellos eine völlige Idiotin. Allen voran Nathan Baird: Er hatte schon immer diese Wirkung auf sie. Ich hätte gedacht, seine zweijährige Abwesenheit hätte ihr die Augen geöffnet. Ich rollte die Augen und stolzierte davon – nicht leicht in trockenem Sand – in Richtung Ufer.
Das flache Wasser war nicht kalt, nur angenehm kühl. Ich stand da, ließ die Wellen über meine Füße und Knöchel rollen und sank Millimeter um Millimeter tiefer im Sand ein. Es machte einen Heidenspaß. Selbst das Pochen im Kopf war verschwunden. Ich warf einen Blick zurück auf Jinn und Nathan, aber sie beobachteten mich nicht. Ich sah noch mal hin und kniff die Augen zusammen.
Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, aber sie küssten sich nicht. Er hatte ihr etwas gegeben und sie untersuchten es beide. Als er den Kopf zurückzog, griff sie sich in den Nacken und fummelte mit etwas herum, bis Nathan ihre Hand beiseiteschob und selbst damit herumfummelte. Dieser Windhund!
Ich wollte durch den Sand zurückrennen und fragen, was es war. Vor zehn Jahren hätte ich das tun können. Aber vor zehn Jahren hätte sie mich natürlich nicht allein ans Ufer gehen lassen.
Ein ohrenbetäubender Lärm ließ mein rechtes Trommelfell vibrieren. Direkt neben mir kreischte ein plumpes kleines Mädchen, weil ihr idiotischer älterer Bruder und seine blöden Kumpel sie nass spritzten. Bevor ich das Mädchen oder die Jungs ertränken konnte, bekam der Bruder Mitleid mit ihr, packte ihre kleinen Finger und zog sie zurück zu ihrer Mutter.
Ich war sauer und taub, aber das dauerte nicht lange, weil ich von einer so lebhaften taktilen Erinnerung überwältigt wurde, dass ich auf meine Hand starren musste, um mich zu beruhigen.
Nein, alles war in Ordnung. Ich war nach zwei Schlucken Cidre nicht durch das Kontinuum von Raum und Zeit gefallen. Was ich sah, war die Hand einer Fünfzehnjährigen, die Fingernägel türkis lackiert. Einen Moment lang hatte es sich jedoch so angefühlt wie eine winzige Hand, die in einer größeren lag.
Die Erinnerung an den Vorfall war so körperlich, dass sie mir den Atem nahm. Vielleicht, weil es meine allererste Erinnerung war. Ein Meer genau wie dieses, in allen Einzelheiten: die Farbe, Schaumkronen auf kleinen Wellen, über die man leicht springen konnte. Ich erinnerte mich an den grün gestreiften Ball, der aufs Meer hinaushüpfte, und daran, dass ich nach ihm schrie. Ich erinnerte mich an die Kälte der Wellen, die Angst vor dem Meer dort draußen, wo die Wellen sich nicht brachen, und meine Trauer um den verlorenen Ball.
Und ich erinnerte mich an Jinns warme Hand, die meine Hand umschloss. Ich hatte keine Erinnerung an ihr neun Jahre altes Gesicht, nur an meine Hand in ihrer, als wir zusammen über die Wellen sprangen. Jinn lachte, sodass ich aufhörte zu weinen. Wir kriegen ihn wieder, sagte sie. Nur noch ein Stückchen. Hab keine Angst.
Ganz in der Nähe war eine Gruppe Jungs am Wellenreiten mit Bodyboards, aber das interessierte mich nicht. Ich brauchte all meine Konzentration, um über die Wellen zu springen. Es war ein sehr ernstes Spiel geworden und ich biss mir auf die Zungenspitze. Wir würden den Ball zurückbekommen, den grün-weiß gestreiften Ball, aber ich musste jede Welle überspringen, so wie man nie auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen trat. Jinn half mir jetzt, weil wir tiefer ins Wasser gegangen waren, das mir jetzt bis zu meiner dicken kleinen Taille reichte. Sie lachte, als sie mich hoch über jede Welle hob. Ich schrie nicht und kicherte nicht, weil die Sache so todernst war, denn wenn ich auf eine Welle trat, konnte etwas Schreckliches passieren.
Und dann passierte es. Einer der Jungen mit den Bodyboards stieß mit Jinn zusammen und meine Hand glitt aus ihrer.
Es war ein so abrupter, so entsetzlicher Verlust. Ohne ihre Hand fühlte sich meine an, als würde sie im Raum dahintreiben. Ich kippte um, als eine größere Welle anrollte, über mich hinwegspülte und mich hochhob. Ich wusste nicht, wo oben und unten war, und ich wusste nicht, wo das Ufer war, was Fels und Sand und Meer voneinander unterschied. Ich wusste nur, dass Jinns Hand nicht mehr da war, aber ich hatte keine Angst um mich, sondern um Jinn.
Mein Mund und meine Nasenlöcher füllten sich mit Wasser, aber wir waren nicht so weit entfernt vom Ufer; es war nur, dass ich so klein war und so schreckliche Angst hatte. Als Jinn und der Junge mich gleichzeitig packten, schrie ich aus Angst um sie. Ich schrie und schrie aus Angst um Jinn, bis ihr Lachen und ihre kitzelnden Finger mein Schreien in Kichern verwandelten.
Das Gefühl, wie ihre Hand meine losließ, vergaß ich nie. Ich stellte es mir immer wieder vor. Ich sah es nie, aber ich spürte es, oder besser gesagt, ich spürte es nicht. Die Leere in meinen Fingern und den Verlust, und Jinn, die von mir weghüpfte wie ein grün-weiß gestreifter Ball.