Zwei

Wenn Jinn und ich Wechselbälger waren, wie ich manchmal vermutete (keine von uns schien Laras genetischen Code zu haben), dann waren wir Wechselbälger aus unterschiedlichen Eiern. Entweder das oder genau demselben Ei, und ich bekam all das ab, was nicht zu Jinn gehörte.

Es war nicht nur der Altersunterschied. Jinn war schlagfertig und unglaublich intelligent. Jinn redete unentwegt und war wie eine Glucke. Es spielte eigentlich keine Rolle, dass Lara schusselig und ein bisschen exzentrisch war (und um ehrlich zu sein, ein bisschen nuttig), denn so weit meine Erinnerung zurückreicht, hat Jinn sich um all meine Bedürfnisse gekümmert. Genau genommen hat sie sich um jede meiner Launen gekümmert, bis zu dem Punkt, dass sie sie vorausahnte, sie herausforderte, für mich sprach. Ich brauchte nie zu sprechen, und ich wusste, dass ich nie irgendetwas so gut sagen könnte wie sie, also machte ich mir keine Gedanken. Ich nahm es ihr nicht übel. Ich war stolz, dass die geistreiche, kecke Jinn für mich sprach. Dadurch wurde ich fürs Sprechen verdorben.

Jinn hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht: eines, das sich veränderte, wenn sie lächelte, aber nicht zu stark. Sie hatte dieselbe blasse Haut wie ich, doch ihr blondes Haar hatte genau den richtigen Grad an Widerspenstigkeit. Meine Haare waren mausgrau und absolut unauffällig. Deswegen habe ich sie, sobald ich den Mut dazu hatte, gefärbt. Als Erstes färbte ich sie orangerot (»Zimtbraun« stand auf der Schachtel). Ich dachte, ich würde nie den richtigen Farbton hinkriegen, bis ich eines Tages, so als würden die Follikelgötter mir eine Botschaft schicken, die Schachtel mit meinem Namen darauf sah. Ich liebte das dunkle, dramatische Burgunderrot. Ich fiel damit ein bisschen auf, denn ich habe eins von den Gesichtern, die die Leute sich nicht merken. Völlig normale Augen, unspezifische Wangenknochen, eine leicht zu vergessende Nase. Ohne Jinn an meiner Seite würde Nathan Baird nicht gewusst haben, wer ich bin.

Was für mich okay gewesen wäre.

Es gefiel mir nicht, wie nah Jinn und Nathan beieinander saßen, als ich zurück zur Düne trottete, doch als Jinn mich kommen sah, stand sie abrupt auf und klopfte sich den Sand von ihrer abgeschnittenen Jeans.

»Ich muss zur Arbeit.« Unnötigerweise schaute sie auf die Uhr.

Gut, dachte ich. Mir war warm, und ich hatte schon wieder Durst, und ich wollte was umsonst aus dem Mini-Markt, und überhaupt war es höchste Zeit, dass Jinn die Unterhaltung beendete.

»Ich geh mit«, sagte Nathan.

Mist, dachte ich.

Nathan konnte nicht gehen, selbst wenn man ihn dafür bezahlt hätte, er konnte nur stolzieren. Kein Wunder, denn ich sah, dass Jinn eine neue Halskette trug: einen Bernstein, der einen überrascht dreinblickenden Moskito umschloss. Sie hob immer wieder die Hand, um sie zu berühren. Der Bernstein war transparent und goldfarben, rein und makellos, größer als mein oberstes Daumengelenk. Die Kette war aus dicken Silbergliedern.

»Wo hast du die gestohlen?«, fragte ich.

Jinn schlug mir ziemlich fest auf den Arm. Nathan sagte: »Oh, es spricht«, und ignorierte mich dann.

Ich fiel zurück, mürrisch und eifersüchtig. Dieses Mal watete Jinn nicht durch den Fluss: zu würdelos in Gegenwart von Nathan Baird, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass sie auf Zeit spielte. Sie wählte stattdessen den langen Weg außen rum, über die wacklige Brücke. Tripp-trapp, tripp-trapp über die wacklige Brücke. Als ich deren Ende erreichte, schaute ich wie immer nach unten – nach dem Troll.

Kein Troll, aber die Dicke Bertha stand vor dem Mini-Markt und rauchte. Sie stand in einem kleinen Hexenkreis von Kippen, die Arme vor ihren massigen Brüsten verschränkt, wobei jedoch eine Hand in der Luft tanzte und mit der Zigarette herumwedelte, bevor sie einen weiteren tiefen Zug nahm. Neben ihr entlud der Mann von Molotow Mixers einen Laster. Eine Plastikkiste auf die andere; und jedes Mal ein Krachen, als würde ein Fenster zu Bruch gehen. Der Lärm hallte vom Asphalt und den spröden Wänden wider, doch die Dicke Bertha blieb ungerührt. Sie deutete mit ihrer Zigarette auf Jinn.

»Du bist früh dran, Schatz.« Aber sie lächelte nicht so, wie sie es sonst immer tat. Sie sah Nathan Baird streng an.

»Weil ich meinen Job so sehr liebe«, sagte Jinn. »Ich konnte es gar nicht erwarten herzukommen.«

Rums, eine weitere Kiste. Bertha rollte die Augen, klopfte ihre Zigarettenasche ab und unterdrückte ein Lächeln. »Lass Kim auf keinen Fall früher gehen. Du springst zu oft für sie ein. Sie muss ihre Schicht zu Ende machen.«

»Okay, alles klar.«

Bertha ignorierte Nathan völlig. Rums. »Hallo, Ruby. Wie geht’s?«

»Okay.«

Bertha machte ein Gesicht wie ein gelangweilter Bullmastiff und rollte wieder die Augen. Eines Tages würden Berthas Augen sich sicherlich lösen und wie Lottokugeln in ihrem Kopf herumklappern. »Du solltest deine böse Zunge zügeln, Ruby. Hältst du nie den Mund?«

Ich betrachtete verlegen den Verkehr. Rums.

»Sie macht eine Phase durch«, sagte Jinn und zerzauste mein burgunderrotes Haar, so als sei ich ein Kind. »Die Fünfzehnjährigen-Phase.« Ich schob sie weg, und sie lachte, warf Nathan eine Kusshand zu und ging in den Laden.

Bertha zog an ihrer Zigarette und guckte Nathan böse an, doch der grinste und zuckelte davon.

»Was hat Jinn mit dem zu schaffen?«

Ich zuckte die Schultern.

»Er ist ein übler Kerl.«

»Ich weiß.«

»Und deine Schwester weiß es auch, die dumme Kuh.« Bertha drückte das Ende ihrer halb gerauchten Zigarette aus und steckte sie vorsichtig zurück in die Schachtel, wobei sie die großen schwarzen Buchstaben studierte: Rauchen kann tödlich sein. »Was macht der denn wieder hier? Sie hätten ihn behalten sollen. Und den Schlüssel wegwerfen.«

Ich beobachtete, wie er davonstolzierte. Ich hätte gern gewusst, warum er im Gefängnis gewesen war und was er getan hatte. Ich fragte mich, ob es etwas sehr Schlimmes wie Mord oder etwas Romantisches wie das Ausrauben einer Bank war. Oder ein bisschen von beidem. Ich konnte mir das eine wie das andere vorstellen, und gegen meinen Willen fand ich, dass er gut dabei aussehen würde.

Was immer er getan hatte, er hatte es im Süden getan, wo er mit seinem Vater hingezogen war. Also hatte ich nie danach gefragt, weil es mich nicht interessierte, und jetzt war es zu spät zu fragen, ohne unmöglich schlecht informiert zu wirken. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, warum sie überhaupt in den Süden gezogen waren: Es hatte etwas mit einer unbedachten Betrügerei und einer Spielschuld zu tun, und damit, dass der alte Baird Zoff mit irgendeinem Typen in Glassford gehabt hatte. Niemand hatte geglaubt, dass sie je zurückkommen würden. Ich fragte mich, ob der alte Baird tot war, erstochen bei einer Schlägerei in einer Bar in Sheffield oder wo immer sie hingegangen waren. Nathans Mutter lebte noch (soweit er wusste), als er in Breakness wohnte, doch sie war abgehauen, als er zehn Jahre alt war. Sie konnte also inzwischen tot sein so wie unsere Mutter.

Noch zwei Kampfjets durchschnitten den Himmel. Es war ein so wunderschöner Tag, dass sie sich nonstop vergnügten. Als der Lärm nachließ, wischte sich der Molotow-Mann mit einem seiner nackten schweißigen Arme den Schweiß von der Stirn und steckte dann sein feuchtes Polohemd und seinen hervorstehenden Bauch wieder in den Hosenbund. Sein Gesicht war rosig vor Anstrengung, aber er hatte immer ein leicht rosiges Gesicht: weichwangig, dunkelhaarig und auf eine nachlässige Weise gut aussehend mit diesen langen wunderschönen Wimpern und den traurigen Augen, mit denen manche Männer gesegnet sind. Die Dicke Bertha sagte, er sehe aus wie George Clooney, was stark übertrieben war, aber wenn man George Clooney mit einer Fahrradpumpe aufblies, ließ sich vielleicht eine flüchtige Ähnlichkeit feststellen. Auf jeden Fall fand Bertha ihn unglaublich attraktiv.

Bertha war natürlich verheiratet mit einem blassen, ans Haus gefesselten Mann mit einer Invalidenrente und einem Sky-Abonnement, aber der Molotow-Mann war nur alle vierzehn Tage in der Gegend, und ich glaube nicht, dass ihr Flirt je zu etwas führte. Es war nichts dabei, zu gucken, meinte Bertha.

Und über Geschmack lässt sich nicht streiten, sage ich. Aber nur in Gedanken.

Sie holte ihre Zigarettenschachtel hervor und bot ihm eine an, wobei sie die halb gerauchte darin mit dem Daumen verdeckte. Er klemmte seine Zeitung unter den Arm und zündete erst ihre Zigarette, dann seine eigene an. Sie hatte sich für diesen Anlass eine neue genommen.

»Schrecklich mit diesem Mädchen«, sagte Bertha.

»Was?«

»Mit ihr.« Bertha tippte auf seine Zeitung, die sich aus seiner Achselhöhle löste. Ich legte den Kopf schief, als er die Zeitung in die Hand nahm, und sah ein halbes verschwommenes Gesicht, ein halbes strahlendes Lächeln, ein Auge, das rot im Blitzlicht einer Kamera leuchtete.

»Schrecklich«, sagte er. »Da denkt man …«

»Denkt man was?«, fragte Bertha.

Er zuckte die Schultern. »Du solltest vorsichtig sein, Bertha. Lieber nicht abends zu Fuß nach Hause gehen und so.«

»Als ob er ausgerechnet mich vergewaltigen und ermorden wollte!« Sie brüllte vor Lachen, schien dann aber zu der Ansicht zu gelangen, dass das unangebracht war. Sie presste die Lippen aufeinander und machte »hm«. »Mach dir keine Sorgen. So was Aufregendes passiert in Breakness nie.«

Er sah sie ernst an und berührte ihre Hand. »Trotzdem.«

»Kircaldy, das ist eine andere Welt. Oje, sieh doch mal, sie hatte ein Kind.« Bertha glättete die Zeitung und blätterte eine Seite weiter. »Zwei Jahre alt. Die arme Kleine.«

»Wo du abends das Geschäft abschließt und das Geld mitnimmst und so. Sei vorsichtig.«

»Das soll nur mal jemand versuchen.« Die Dicke Bertha ließ ihren Bizeps spielen. Irgendwo unter der Fettschicht zitterten Muskeln. »Er ist sowieso nicht hinter Geld her. Sie war eine vom Gewerbe. Wie die, die letztes Jahr in Cambuslang umgebracht wurde. Man tötet keine Prostituierten wegen Geld.«

»Nein«, sagte er und betrachtete stirnrunzelnd das Zeitungsfoto. »Jung. Sieh sie dir an.«

»Und ich bin eine alte Schrulle. Mädchen wie Ruby, die müssen vorsichtig sein.«

Ich zuckte die Achseln und erwiderte ihr Lächeln.

»Das stimmt«, sagte George der Molotow-Mann. »Sie hat recht, Ruby.«

Ich wollte nicht hier stehen, den Kopf schütteln und irgendetwas über eine tote Prostituierte murmeln, die zweihundert Meilen entfernt in einem Graben lag. Es deprimierte mich, vor allem weil meine moralische Werteskala im Augenblick schlecht funktionierte, und weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Das war ein weiterer guter Grund, nicht viel zu sagen. Worüber hätte ich auch reden sollen? Das Mädchen im Graben und ihr trauriges, schmutziges Ende taten mir leid, aber ich konnte nichts für sie tun, und ich hatte nicht das Recht, entrüstet zu sein. Was hatte sie denn auch erwartet? Solche Dinge passieren, wenn man so etwas tat.

Jinn trat aus dem Laden in die Helligkeit und wandte ihr Gesicht mit halb geschlossenen Augen der Sonne zu. Es gefiel mir nicht, wie ein Licht in ihrer Haut angegangen war, seit Nathan Baird seinen Schatten über den Tag geworfen hatte.

»Fünf Minuten.« Sie blinzelte Bertha zu und lächelte.

»Zehn. Lass Kim ein bisschen länger arbeiten. Sie ist gestern früher abgehauen, und sie denkt, ich weiß es nicht. Wollt ihr Mädchen einen Molotow?«

Ich zögerte. Ich wollte etwas trinken, doch ein Getränk von einer Farbe, wie sie in der Natur vorkam, wäre mir lieber gewesen.

»Ich hole sie«, sagte Jinn.

»Im Kühlschrank stehen kalte. Schreib’s auf, ja, Liebes?«

Das hieß nicht, dass wir dafür bezahlten, nur dass bei Bertha immer alles seine Ordnung haben musste. Die Dicke Bertha hielt viel davon, alles aufzuschreiben, aber sie war nicht geizig, wenn es um ein gelegentliches Getränk oder auch mal eine Tüte Chips ging.

Ich konnte mich sowieso nicht beklagen, da ich den Molotow umsonst bekam. Vielleicht schmeckte er besser mit Wodka, so wie Jinn ihn abends trank. Ich wünschte, Alkohol würde mir besser schmecken: Vielleicht nahm er dem Ganzen die chemische Süße. Molotows gab es eher in verschiedenen Farben als Geschmacksrichtungen, und sie waren praktisch alle radioaktiv: Last Mango, Blue Lagoon, Pink Flamingo und Mellow Yellow. Jinn hatte mir einen rosafarbenen gebracht, weil sie noch am wenigsten giftig aussahen, doch ein Flamingo in diesem Fuchsienton müsste abgeschossen werden. Ich kippte das Zeug hinunter und versuchte, nicht auf den Geschmack zu achten. Wenigstens war es nass und kalt. Andere Menschen mochten es. Wenn sie das nicht täten, würde der Aufblasbare George nicht so oft zu Bertha kommen.

Jinn schaute die ganze Zeit die Straße hinunter, in die Richtung, in die Nathan Baird verschwunden war, doch schließlich trank sie ihren Molotow und verschwand wieder im Laden. Ich hing dann nicht länger dort herum; mir war nicht nach Plaudern zumute. Ich ließ Bertha und George dort stehen – die Hintern gegen die warme Steinwand gelehnt, die Köpfe eng zusammen in das Boulevardblättchen gesteckt – und auf düstere Weise über den plötzlichen Tod schäkern.