FRÜHER
Im Sommer, auf dem Höhepunkt der Reisesaison, ist Rom eine sehr lebhafte Stadt, und zwar bis in die kleinsten Winkel. Diese Espressobar bildete da keine Ausnahme. Klein und eng, mit nackten Steinmauern und einer Gewölbedecke, lag sie versteckt in der Altstadt, und im Inneren war es nur unwesentlich kühler als draußen. Dafür sorgte schon die riesige Kaffeemaschine, die alle paar Sekunden ihren dampfenden, heißen Drachenatem ausstieß. Die Ventilatoren an der Decke brachten lediglich ein wenig Bewegung in den feuchten Dunst, mehr nicht. Aber das machte mir nichts aus. Der schimmernde Glanz auf meiner Haut gefiel mir. Ich war schon seit ein paar Wochen in Italien und hatte mich bis zu einem gewissen Grad akklimatisiert. Es gefiel mir, dass ich jeden Tag in Shorts und Sandalen losziehen konnte. Es gefiel mir, die übergroße Sonnenbrille und den Hut mit der Schlabberkrempe zu tragen. Ich kam mir vor wie verkleidet, ja, fast wie ein anderer Mensch. Nicht mehr länger eine ahnungslose New Yorkerin, sondern eine Pseudo-Europäerin. Ich war jetzt schon so lange unterwegs, dass die meisten Menschen, denen ich begegnete, nicht einmal errieten, wo ich aufgewachsen war. Aber jetzt musste ich wieder zurück, denn ich war pleite. Auf dem Weg dahin war ich kultiviert, braun gebrannt und weltgewandt geworden, aber vor allem langweilte ich mich inzwischen zu Tode.
Im Verlauf meiner Reise war ich den Kinderschuhen endgültig entwachsen, war ich eine ruhelose Erwachsene geworden.
Und leichtsinnig. Aber ich hatte einen Plan.
Ich hatte schon so viele schlechte Entscheidungen getroffen, dass ich nicht einmal mehr erkennen konnte, wenn schon die nächste im Entstehen war.
Er betrat die Bar.
Sein Gang wirkte so mühelos, seine Schritte federnd und leicht. Die italienische Sonne hatte seine Haut gebräunt und sein blondes Haar noch heller gemacht. Nach einem Blick auf seine Schuhe wusste ich, dass er kein Einheimischer war. Kein Italiener würde bei dieser Hitze solche festen Schnürschuhe tragen.
Ich beobachtete ihn von meinem kleinen, runden Tisch in der Ecke aus. Die Entfernung war kaum der Rede wert, weil die Espressobar so winzig war. Es gab überhaupt nur einige wenige Tische, weil die meisten Gäste nur einen Espresso bestellten, ihn im Stehen an der Bar hinunterkippten und für gewöhnlich nach einer Minute wieder draußen waren. Der Edelstahltresen wurde von den Baristas alle paar Minuten sauber gewischt, sodass er immer glänzte.
Zu Anfang hatten solche Bars mich eher eingeschüchtert, weil sie so anders waren als die entspannten Cafés, die ich aus meiner Heimat kannte. Aber jetzt konnte ich mir keinen besseren Ort denken, um zu sitzen und Menschen zu beobachten. Auf meinem Tisch lagen meine Handtasche, mein Reiseführer, das Buch, das ich versuchte zu lesen, mein Reisetagebuch, mein Hut und meine Sonnenbrille. Nur mit Mühe hatten das Wasserglas und die Espressotasse noch ein Plätzchen gefunden.
Mir gefällt die Vorstellung, dass dieses Chaos auch etwas Liebenswertes hatte.
Sein Italienisch war holperig oder lächerlich, je nachdem, ob ich großzügig oder eher grausam darüber urteilen wollte. Aber er versuchte es wenigstens und nahm nur deshalb wieder zu seinem Englisch Zuflucht, weil der Barista Mitleid mit ihm hatte und dem unwürdigen Schauspiel ein Ende bereitete.
Das war der Moment, als ich zum ersten Mal sein Lächeln sah.
Es wirkte so süß und unsicher, dass es mich unmittelbar anrührte. Es war, als hätte er keine Ahnung, wie attraktiv er war, wie schön er aussah, wenn er lächelte.
Natürlich wusste er das, anderenfalls wäre er ein Narr gewesen, doch die Macht seines Lächelns bestand gerade darin, diese Illusion der Unwissenheit hervorzurufen.
Vielleicht hatte er es geübt.
Ja, ich war zynisch.
Aber es war mir ohnehin gleichgültig. Ich fühlte mich bereits jetzt zu ihm hingezogen, und weil der einzige freie Tisch direkt neben mir stand, hatte ich meinen Stuhl möglichst dicht an den einen geschoben, den er unweigerlich nehmen würde, und zwar noch bevor er sich überhaupt nach einem Sitzplatz umgesehen hatte.
Als es so weit war, hatte ich mich natürlich bereits in mein Buch vertieft.
Es war eine dieser fast schmerzhaft tiefgründigen Schilderungen einer Reise zum Selbst, zu persönlichem Wachstum und Frausein.
Nach genau solch einer Reise sehnte ich mich auch, aber bis jetzt ohne Erfolg.
Er ließ sich Zeit für die kurze Strecke zwischen der Bar und dem Tisch. Vielleicht war ihm nicht ganz wohl dabei, dass er mir so nahe kommen musste. Vielleicht befürchtete er, dass ich das als Belästigung empfinden könnte.
Ich hatte schon Angst, dass er umkehren und seinen Kaffee wie ein Einheimischer an der Bar zu sich nehmen könnte. Darum hob ich den Blick und schenkte ihm ein scheues, freundliches Lächeln.
Er entspannte sich und stellte seine Tasse auf den Nachbartisch, nur um beim Hinsetzen mit dem Knie dagegenzustoßen. Der Kaffee schwappte aus seiner Tasse und bildete auf der Tischplatte eine kleine, dampfende Pfütze.
Er schnaufte. »Sehr elegant.«
»Machen Sie sich keine allzu großen Vorwürfe«, erwiderte ich. »Ihre Beine sind viel zu lang für diese winzigen Tische.«
»Aus der Entfernung haben sie größer ausgesehen.«
Er wollte aufstehen, um ein paar Servietten zu holen, doch ich gab ihm eine Packung Papiertaschentücher aus meiner Handtasche.
»Hier«, sagte ich.
Er bedankte sich und wischte die verschüttete Flüssigkeit auf, so gut es eben ging. Dabei schüttelte er ununterbrochen den Kopf, als hätte er einen unverzeihlichen Fehler begangen.
»Das war Rettung in höchster Not.«
»Sie wissen ja noch nicht, wie viel ich für die Taschentücher verlange.«
Er lächelte und reichte mir die Hand. »Ich heiße Leo.«
Ich schlug ein. »Jem.«
Er wusste bereits, dass ich aus den Vereinigten Staaten stammte, darum sagte er: »Was führt Sie nach Rom?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Eine interessante Geschichte?«
»Das kann ich selbst nicht beurteilen, aber vielleicht verraten Sie es mir, wenn ich fertig bin.«
Er sagte: »Sie wollen diese Geschichte also tatsächlich einem Wildfremden erzählen?«
»Sind wir denn wirklich Fremde?«
Er lächelte erneut. »Jetzt nicht mehr.«
8.01 Uhr
Meine erste Erinnerung an diesen Tag besteht darin, dass Leo durch die Küche schwebt und einen Hauch von Duschgel und Shampoo hinter sich herzieht. Saubere, kräftige Düfte. Das Parfüm kommt erst kurz vor der Abreise. Er sucht etwas und summt dabei vor sich hin, sodass meine Vorbereitungen von einer liebenswerten, wenn auch ziemlich schrägen musikalischen Untermalung begleitet werden.
Er findet, was er gesucht hat – Manschettenknöpfe, die er neben das Waschbecken gelegt hat, um mit nassen Haaren und ungekämmt eine hastige Tasse Kaffee zu schlürfen –, und geht auf dem Rückweg hinter mir vorbei.
»Das ist doch völliger Quatsch«, sagt er nach einem Blick über meine Schulter.
Ich weiß genau, was er vorhat, und ignoriere den Köder.
»Wenn du das sagst, dann muss es ja stimmen«, gebe ich zurück. Mein Tonfall ist genauso unschuldig wie ein dicker, kleiner Rauschgoldengel.
Er stößt ein unzufriedenes Murren aus, heiser und kehlig. Er hätte sich gerne noch ein bisschen mit mir gekabbelt, aber er ist zu spät dran, um noch länger zu verweilen und einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen.
Genauso schnell, wie er gekommen ist, ist er auch wieder verschwunden, aber ich weiß, dass er sich jetzt, während er letzte Vorbereitungen trifft, überlegt, wie er sich revanchieren kann. Wir spielen ein endloses Spiel, einzig und allein mit dem Ziel, den anderen auszustechen, und das mit sehr viel Begeisterung und Ausdauer. Im Grunde genommen ist es ein Duell, wenn auch ein sehr sanftes – wir spielen ja und kämpfen nicht –, und eines ohne Verlierer, weil das Spiel an sich einfach viel zu viel Spaß macht.
Ich muss lächeln, bin zugleich erfreut über meinen kleinen Sieg und gespannt auf seinen unausweichlichen Konter nach seiner Rückkehr. Ich ermahne mich innerlich, nicht allzu überheblich zu werden, weil ich eines unserer guten Samuraimesser in der Hand halte und mir auf keinen Fall versehentlich einen Finger abtrennen will. Ich muss mich auf meine Aufgabe konzentrieren, und die lautet: eine dicke Avocado zu halbieren, sie in meiner Hand zu drehen und den Stein zu umkreisen. Ich trenne die beiden Hälften und empfinde dabei eine unverhältnismäßig große Befriedigung, weil es wenig Befriedigenderes gibt, als eine Avocado zu teilen und festzustellen, dass sie nicht nur reif, sondern perfekt ist. Es gibt Menschen, die behaupten, so etwas nur durch Druck auf die Schale feststellen zu können, aber falls diese Gabe überhaupt existiert, besitze ich sie nicht. Ich kann lediglich einen ungefähren Reifegrad bestimmen, und selbst dann ist es immer noch denkbar, dass die Frucht eine Druckstelle hat oder irgendwo oxidiert ist. Daher ist der erste Schnitt immer eine Lotterie. Man muss bereit sein zu spielen, um zu wissen, ob man gewonnen oder verloren hat.
In diesem Fall habe ich den Jackpot geknackt.
Nicht ein einziger dunkler Fleck ist zu sehen. Nicht einmal ein Hauch von Oxidation. Das Fruchtfleisch ist weich, aber nirgendwo schwammig. Ich spieße den Stein mit der Messerspitze auf, drehe ihn und ziehe daran. Mühelos löst er sich aus dem Fleisch. Mein Magen zollt mir mit ermutigendem Knurren Beifall.
Ich beeile mich, so gut ich kann, versichere ich ihm.
Leo muss einen siebten Sinn haben, oder er hat heimlich vor der Küchentür genau auf diesen Moment gewartet, jedenfalls taucht er jetzt plötzlich wieder auf.
»Ganz ehrlich, das ist vollkommener Blödsinn«, wiederholt er seinen Satz, aber dieses Mal schwebt er nicht an mir vorbei, sondern bleibt stehen, während er seine Krawatte zu einem oft geübten Windsorknoten bindet. Seine Stimme klingt jetzt kräftiger, entschiedener, weil er, im Gegensatz zu vorhin, keine beiläufige Beobachtung mehr äußert, sondern eine konkrete Absicht verfolgt.
Ich gönne ihm einen schnellen Blick. »Suchst du etwas Bestimmtes, oder willst du bloß ein bisschen flirten?«
»Wenn ich mit dir flirten wollte, würde ich mir nicht die Krawatte binden«, entgegnet er mit einem schiefen Lächeln. »Dann würde ich sie mir vom Hals reißen.«
Ich lege das Messer weg und drehe mich um die eigene Achse, lehne mich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte und halte mich mit beiden Händen daran fest.
»Und warum machst du es nicht?«, hauche ich und blicke ihm tief und bedeutungsschwanger in die Augen. »Ich gehöre ganz dir.«
Seine Wangen laufen rot an, während er ein paar unverständliche Worte nuschelt, bevor er einen frustrierten Schrei ausstößt.
»Was ist denn los mit dir?«, frage ich ihn.
Er zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf mich. »Du« , stößt er hervor und lächelt dabei. »Du bist los.«
Ich klimpere mit den Augenlidern. »Was willst du denn damit sagen?«
Mit offenem Mund steht er da, still und stumm. Dann tippt er mit demselben Finger auf seine Armbanduhr und weicht zurück, erneut geschlagen.
Kühle Morgenluft weht mir entgegen, als ich auf die Terrasse trete und meine Tomatenpflanzen inspiziere. Es sind mehr als ein Dutzend, alle groß und kräftig, weil der Sommer sie mit Wärme umhüllt und ich sie gewissenhaft gegossen habe. Doch jetzt zeigen sich bereits die ersten Vorboten des Herbstes, und sie werden allmählich gelb, erleben die Tragödie der einjährigen Pflanzen. Bald werden sie abgestorben sein. Es sind alles Setzlinge, die ich aus Samenkörnern gezogen und zu Beginn des Frühjahrs eingepflanzt habe. Die Samen stammen aus der letztjährigen Ernte, und ich habe jeden einzelnen im Haus liebevoll so lange keimen lassen, bis die Triebe stark genug waren, um im Freien zu überleben. Keine Pestizide. Keinerlei Chemikalien. Auch wenn die Tomaten dadurch vielleicht nicht die größten geworden sind, sie sind doch zu einhundert Prozent biologisch und unfassbar köstlich. Wer noch nie eine selbst gezüchtete Tomate gegessen hat, weiß nicht, wie Tomaten wirklich schmecken.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich zwischen den dichten Blättern die reifsten Früchte entdeckt und eine Handvoll davon gepflückt habe. Ich gehe zurück in die Küche und spüle sie schnell ab. Nur ein paar Sekunden unter dem laufenden Wasserhahn, mehr ist nicht nötig. Wie gesagt: bio.
In einer Edelstahlpfanne erhitze ich ein paar Tropfen kalt gepresstes Kokosnussöl – selbstverständlich auch bio – und gebe die Avocadostücke, die immer noch auf dem Schneidbrett liegen, dazu. Ein paar Minuten später folgen die halbierten Tomaten, gefolgt von etwas Himalajasalz, Chiliflocken und frisch geriebenem Pfeffer. Es duftet himmlisch.
Ich versuche, mich gesund zu ernähren, aber welchen Sinn hätte ein ewiges Leben ohne Brot? Ich schneide ein paar dicke Scheiben von dem krustigen Laib ab, den ich gestern auf dem Bauernmarkt gekauft habe – Sauerteig, Vollkorn und mit allen möglichen Körnern gespickt. Es ist weich und knusprig zugleich.
Leo kommt noch einmal in die Küche und unternimmt einen letzten Versuch, wenigstens ein Unentschieden zu erreichen. Allerdings weiß ich, dass er in wenigen Minuten das Haus verlassen muss, sodass ich ihn praktisch mühelos besiegen kann. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen deswegen … aber nur fast.
Er tut jetzt auch gar nicht mehr so, als würde er etwas suchen, sondern steuert ohne Umschweife das Ziel an, das er schon zweimal verfehlt hat.
Er zeigt auf mein Frühstück. »Genau das meine ich. Avocado und Tomaten. Beides ist ja eigentlich Obst, stimmt’s? Und du willst das auf dein getoastetes Brot legen. Das heißt, du isst Obst-Toast zum Frühstück. Das ist doch Unfug.«
»Es schmeckt köstlich, und das weißt du auch.«
»Ein Hamburger-Eis wäre vermutlich auch eine Geschmackssensation, aber trotzdem würde ich es niemals probieren.«
Ich seufze. Es ist ein übertrieben mitleidiges Seufzen, in dem ein großer Anteil Enttäuschung mitschwingt.
»Das ist alles? Mehr kriegst du nicht zustande?«
Er knurrt: »Na ja, du hast mich ja gleich beim ersten Mal abgewürgt. Und beim zweiten Mal auch.«
»Zu einfach will ich es dir auch nicht machen, sonst würde sich doch die Mühe gar nicht lohnen.«
Er beugt sich vor und küsst mich auf den Hals. »Ich tue alles, was nötig ist, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen.«
»Wenn du meine Aufmerksamkeit haben möchtest«, flüstere ich ihm ins Ohr, »dann weißt du genau, was du tun musst.«
»Jemima Talhoffer« , erwidert er in perfektem Schuldirektorentonfall. »Das kommt nicht infrage.«
»Seit wann bist du eigentlich so langweilig?«
»Nur, falls du es vergessen haben solltest, aber dein dich liebender Ehemann muss sehr bald schon ein Flugzeug besteigen.« Sein Lächeln könnte Gletscher zum Schmelzen bringen. »Und außerdem, weil du das offensichtlich schon vergessen hast: Ich war schon immer langweilig. Es hat dir bisher nur nichts ausgemacht.«
»Ja, genau«, erwidere ich. »Weil du nämlich das gemacht hast, wenn ich dich darum gebeten habe.«
»Damals hatte ich eben noch mehr Zeit. Hast du vielleicht meine Manschettenknöpfe gesehen?«
»Du trägst sie schon.«
Er richtet den Blick auf seine Handgelenke und schüttelt den Kopf. »Pfff.«
Ich scheuche ihn zur Küche hinaus. »Wage es ja nicht, deinen Flug zu verpassen.« Dann rufe ich ihm nach: »Ich erwarte, dass du mir auch weiterhin das Leben bietest, an das ich mich inzwischen gewöhnt habe.«
Er ruft irgendetwas zurück, aber ich habe bereits das Radio eingeschaltet, weil ich ein wenig musikalische Unterhaltung haben möchte, während ich meine Frühstücksvorbereitungen zu Ende bringe und mich an den Küchentisch setze, um meine Kreation zu verspeisen.
Der Tisch ist zu groß für uns beide, aber das gilt auch für das ganze Haus. Es hat mehr Zimmer, als Leo und ich je brauchen werden, und genau das ist der Sinn der Sache. Wir haben es mit der Vorstellung, ja, mit dem festen Vorhaben gekauft, die Leere zu füllen. Wir haben monatelang nach dem perfekten Ort, der perfekten Schule, dem perfekten Viertel, der perfekten Straße und dem perfekten Heim gesucht. Wir haben so viel Zeit damit verbracht, jeden einzelnen Aspekt zu bedenken, dass wir nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht haben, dass das alles schiefgehen könnte, bevor es überhaupt begonnen hat.
Mein Obstbrot schmeckt köstlich, aber aus irgendeinem Grund lässt es mich vollkommen kalt, und ich kann nicht weiteressen. Ich will diesen einen, kleinen Teller auf einem Tisch, der Platz für so viele Teller bietet, nicht leeren.
Leo sagt: »Ich bin fast fertig, und jetzt habe ich noch eine ganze Minute, um dich mit meiner Zuneigung zu überschütten.«
Zuerst nehme ich seine Worte gar nicht wahr, weil meine Gedanken beinahe automatisch an diesen dunklen Ort abgedriftet sind, der mir so vertraut ist. Es dauert einen Moment, bis sie zu mir durchdringen und mich aus dieser Leere ziehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort verweilt habe. Es kommt mir vor wie wenige Sekunden, aber es könnte auch sehr viel länger gewesen sein.
Ich stehe auf und sehe ihn an, sodass er mich in seine Arme schließen kann. Er fühlt sich nach den morgendlichen Aktivitäten warm an, sicher und stark.
Er wirft einen Blick auf mein angefangenes Frühstück. »Hast du keinen Hunger?«
Ich schüttele den Kopf. »Weniger, als ich dachte.«
Er sieht mich an, und ich kenne diesen Blick nur zu genau. »Hast du gut geschlafen?«
Eine unschuldige Frage in unschuldigem Tonfall, und doch schwingen in diesem einen, kleinen Satz so viele Fragen mit, dass die Antworten den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen würden. Es geht nicht nur darum, ob ich gut geschlafen habe, sondern auch darum, ob ich genug geschlafen habe. Hatte ich Albträume? Bin ich müde? Geht es mir gut? Wird mein Schlaf Einfluss auf meinen Tag haben? Meine Stimmung? Bin ich deswegen womöglich niedergeschlagen? Bin ich so deprimiert, dass ich mich wieder ins Bett legen werde? Werde ich den ganzen Nachmittag über weinen? Werde ich ihn anrufen und ihn anflehen, nach Hause zu kommen, weil ich ohne ihn nicht zurechtkomme? Wird er dann so schnell wie möglich zurückkommen, nur um festzustellen, dass ich bester Laune bin, weil meine Stimmung einmal mehr gekippt ist? Bekomme ich aus heiterem Himmel einen Wutanfall, nur weil ich all diese negativen Gedanken irgendwie loswerden muss? Gibt es eine Rettung für mich? Werde ich ihn mit dieser grausamen, schrecklichen Krankheit irgendwann endgültig vertreiben?
All diese Fragen und noch mehr lassen sich zu einer einzigen zusammenfassen, und das ist die, die er mir in Wirklichkeit stellt: Kann er mich immer noch lieben?
Ich lächele. Das Lächeln beherrsche ich so gut, dass ich manchmal sogar vergesse, dass es gar nicht echt ist. »Wie ein Baby.«
Erleichtert erwidert er mein Lächeln. Er kann mich also noch ein bisschen länger lieben.
Ich verfüge über ein ganzes Arsenal an Metaphern, um die Wahrheit zu verschleiern: geschlafen wie ein Baby, wie ein Murmeltier, wie eine Tote, wie eine ägyptische Mumie, wie schwer betrunken, wie ein normaler Mensch …
Er streckt die Hand aus und schnappt sich meine halb gegessene Toastscheibe. »Dann hast du bestimmt nichts dagegen …« Er nimmt einen großen Bissen und kaut laut, weil er, ganz egal, was er vorhin noch behauptet hat, seinen Flug auf keinen Fall verpassen will. »Du hast recht«, sagt er. »Schmeckt wirklich köstlich.«
Ich nicke nur, ohne jede spitze Bemerkung. Ein Hab-ich-doch-gleich-gesagt würde mich nicht zufriedenstellen.
»Ich rufe dich an, sobald ich gelandet bin«, sagt Leo und will mir einen Abschiedskuss geben, etwas Leidenschaftliches, etwas, woran ich mich noch eine Weile erinnern werde.
Wir stoßen mit den Zähnen aneinander.
Wir lachen.
Ich sage: »Also, wenn das kein Zeichen ist, dass du dich auf den Weg machen sollst, dann weiß ich auch nicht.«
Er reibt sich mit dem Finger über die Schneidezähne. »Komm, wir probieren es noch mal.«
Wir küssen uns, dieses Mal mit mehr Erfolg. Seine Hände liegen auf meinen Hüften und meine auf seinen Schultern. Er war schon immer ein guter Küsser und gibt sich auch jetzt noch, nach all den Jahren, viel Mühe. Trotzdem fällt mir auf, dass ich die Augen schon aufschlage, bevor wir fertig sind.
Er merkt es nicht.
Er tritt einen Schritt zurück und fragt: »Wie sehe ich aus?«
Dann dreht er sich einmal um die eigene Achse wie eine Ballerina, allerdings eine sehr plumpe.
»Absolut, voll und ganz, unübersehbar … passabel.«
Er runzelt die Stirn, aber er weiß, dass das ein Scherz war. Er braucht mich nicht, um zu wissen, dass er im Anzug attraktiv aussieht – viel zu attraktiv –, und bei der Vorstellung, dass er unweigerlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird, spüre ich, wie die Eifersucht in mir aufflackert. In unserer Anfangszeit habe ich mich regelmäßig darüber amüsiert, dass er die interessierten Blicke anderer Frauen überhaupt nicht bemerkt hat. Das hat mir ein gutes Gefühl gegeben, in Bezug auf mich selbst und in Bezug auf uns. Aber jetzt kommt es mir vor, als sei das alles schon sehr lange her. Jetzt habe ich Angst, dass er die Blicke vielleicht doch bemerkt und anfängt, auch diese jungen, fruchtbaren Wesen mit Interesse zu mustern.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Du musst los, Kumpel.«
»Oha, du hast recht.«
Er greift nach seinem Koffer, und ich begleite ihn bis zur Tür. Es ist kalt, und ich schlinge die Arme um den Oberkörper, während ich ihn in sein Auto steigen sehe.
»Tschüs«, ruft er mir zu, als er hinter dem Lenkrad sitzt.
Ich winke ihm zu, während er die Einfahrt entlangfährt, und er sieht mich durch den Seitenspiegel an. Ich kann seinen Blick nicht recht deuten.
Ist das Traurigkeit?
Bedauern?
Ich nehme die Hand erst herunter, als er nicht mehr zu sehen ist.
Fünf Minuten später klopft es an der Haustür.
Nichts wird wieder so sein wie zuvor.
8.18 Uhr
In diesen wenigen Minuten zwischen Leos Abfahrt und dem Klopfen an der Tür gehe ich in die Küche, um ein wenig aufzuräumen, doch dann sitze ich mit einem Mal wieder am Tisch, fühle mich schwer und erschöpft. Milchige Sonnenstrahlen strömen zum Fenster über der Spüle herein und umhüllen mein Gesicht. Das gebrochene Licht fühlt sich hell und warm an. In diesem Augenblick kann ich mich beinahe davon überzeugen, dass ich nichts sonst brauche. Nichts als diesen Mann, dieses Leben, dieses Haus.
Ich müsste eigentlich dankbar sein für alles, was ich habe, und nicht zornig über das, was ich nicht habe.
Die Schönheit des Hauses ist atemberaubend, beziehungsweise wird es sein, sobald alles fertig ist. Das stattliche, alte Ding ist ziemlich heruntergekommen, und ich bin seit dem Tag unseres Einzugs mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Zu Anfang war es ein Hobby, ein leidenschaftliches Projekt, aber irgendwann ist es dann zu einer Art Medizin geworden. Wobei – Medikamente verlieren mit der Zeit ihre Wirkung, nicht wahr? Wir brauchen immer mehr, entwickeln Resistenzen, und irgendwann verlieren sie jegliche Wirkung.
Jetzt ist das Haus zu einem Alibi für meine Abschottung geworden, zu einem Anlass, mich von der Welt zurückzuziehen. Ich habe eigentlich nie Zeit, mich mit einer Bekannten auf einen Kaffee zu verabreden, weil immer irgendwo eine Fußleiste ausgetauscht werden muss. Nie kann ich ein Wochenende für einen Kurzurlaub frei machen, weil ich im Baumarkt die Wandfarbe für das Arbeitszimmer abholen muss. Aber nichts wird fertig. Jedes Zimmer ist und bleibt unvollendet.
Wir wissen beide, was da wirklich vor sich geht, aber es war ein langer und sehr zäher Lernprozess. In seiner allumfassenden Vollkommenheit hat Leo niemals gedacht, dass er sich mit meinen Problemen würde befassen müssen. Er weiß gar nicht, wie er das anstellen sollte, und da ich inzwischen eine so hervorragende Schauspielerin geworden bin, gibt es auch in aller Regel gar keinen Anlass dafür. Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, meine Angst zu verbergen, dass er keine Ahnung hat, wie sehr mich allein ein Gang zum Gemüseladen unter Stress setzt. Er hat keine Ahnung, dass ich manchmal, noch bevor ich zu Hause ankomme, am Straßenrand anhalte und laut schreie oder weine, um mich anschließend wieder so im Griff zu haben, dass ich mit einem strahlenden Lächeln vorfahren kann. Ich habe immer Augentropfen, Feuchttücher und Schminke im Handschuhfach. Und ich weiß nicht, ob ihm klar ist, dass ich das Haus wahrscheinlich nie mehr verlassen würde, müsste ich nicht regelmäßig meinen Kurs unterrichten.
So, wie ich es sehe, haben wir nur eine begrenzte Kapazität, um mit Stress fertigzuwerden. Und es spielt keine Rolle, ob diese Kapazität durch ein einziges, riesiges Trauma oder viele kleine in Beschlag genommen wird.
Sobald das Fass überläuft, gibt es Probleme.
Dann kommen wir nicht mehr klar.
Leo ist ein guter Mensch, und diese Jem ist nicht die Jem, für die er sich entschieden hat, nicht die Jem, die er geheiratet hat, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Wir leiden beide, und es ist ihm gegenüber nicht fair, dass ich mehr leide, dass ich so viel mehr brauche als er. Er ist immer noch Leo. Er ist immer noch genau derselbe Leo, in den ich mich verliebt habe, der ohne eine Sekunde zu zögern »Ja« gesagt hat. Er hat sich kein bisschen verändert. Meine größte Angst ist die, dass ihm eines Tages klar wird, dass er mich nicht mehr erkennt. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um die Maske des Ichs, das er will, am Leben zu erhalten, um ihm nicht mein wahres Ich zu offenbaren.
Unser Haus steht einsam und allein am Ende einer einspurigen Asphaltstraße. Die Vorbesitzer haben uns gesagt, dass hier ursprünglich noch mehr Häuser geplant gewesen seien, dass eigentlich ein kleiner Vorort hätte entstehen sollen. Doch dann hatte sich das Ganze anscheinend als komplizierter Steuerbetrug vonseiten des Bauträgers herausgestellt. Ich habe mich nie gründlich damit beschäftigt, daher kann ich auch nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob das wirklich stimmt. Es ist mir auch egal. Das Haus steht jedenfalls allein auf weiter Flur, und genau das habe ich damals gewollt. Ich wollte Ruhe und Frieden und genügend Platz zum Spielen für die Kinder. Die Jem von heute ist der Jem von damals sehr, sehr dankbar dafür, weil die Jem von heute mit Nachbarn nämlich absolut nicht zurechtkäme, weil sie unmöglich ständig lächeln, ständig belanglose Gespräche führen könnte.
Wie geht es dir heute?
Grässlich, und dir?
Ähh, ich, ähh
Nein, danke. Das bin ich nicht.
Wenn man an der Kreuzung nach links abbiegt, dann kommt man auf eine Landstraße, die irgendwann auf den Interstate Highway führt. In den fünf Jahren, seit wir hier wohnen, bin ich die Strecke vielleicht ein halbes dutzend Mal gefahren. In der Zeit, in der ich eine Fläche von fünfzig Quadratkilometern abgegrast habe, ist Leo zweimal um den Globus gereist. Ich bin die ultimative Stubenhockerin geworden, nie um eine Ausrede verlegen. Dann sage ich Sachen wie: »Ich habe hier doch alles, was ich brauche«, und es ist schon etliche Jahre her, seitdem er das letzte Mal versucht hat, mich zu einer Auslandsreise zu bewegen. Er bittet mich schon lange nicht mehr, ihn auf einer seiner vielen Geschäftsreisen zu begleiten.
Leo weiß natürlich, was ich mit dem Haus mache … beziehungsweise nicht mache. Er sagt nichts dazu, und das wäre auch sinnlos. Was soll er denn sagen? Ich würde es schlicht und einfach abstreiten, würde alles so rational begründen, dass er am Schluss meinen Lügen Glauben schenken würde.
Er will, dass das Haus fertig wird, weil er sich so sehr wünscht, dass ich endlich etwas Neues ausprobiere. Aber nach meiner Erfahrung ist das Neue gar nicht unbedingt so großartig, wie alle immer behaupten. Vertrautheit bedeutet Sicherheit. Routine bedeutet geistige Gesundheit. Und ich brauche beides.
Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich noch arbeite. Zum Glück bin ich selbstständig, sodass ich mich nicht gegenüber irgendeinem Chef verantworten muss. Es gibt niemanden, der mich feuern kann, nur weil ich meinen Verpflichtungen nicht nachgekommen bin.
Jetzt, wo ich an die Arbeit gedacht habe, fällt mir ein, dass ich noch duschen muss. Ich bin immer noch verschwitzt und zerzaust nach dem Frühkurs, aber ich stinke nicht – hoffe ich zumindest! Nach einer Stunde mit intensiven Dehnübungen habe ich immer einen Bärenhunger. Die Ahnungslosen glauben ja, dass Yoga ganz leicht ist, aber wenn man es richtig macht, ist es anstrengender als jedes andere Fitnesstraining. Man spürt es noch Tage danach, und nicht bloß in den Armen oder Beinen oder was man sonst gerade trainiert hat, sondern überall. Jeden einzelnen Muskel. Jede Sehne. Ich kenne kein Erbarmen mit meinen Teilnehmerinnen. Ich bin ein Monster. Ich genieße diese Rolle, und sie kommen in meinen Kurs, weil sie genau so jemanden brauchen. Auch wenn es nur eine Rolle ist. Dieses Monster, das bin nicht ich. Das bin ich mit einer furchterregenden Maske. Ich habe Mitleid mit denen, die meinen Kurs besuchen und dann in aller Hast ins Büro oder nach Hause müssen, um für ihre kreischende Brut das Frühstück zuzubereiten.
Als Leo weg ist, legt sich eine drückende Stille über unser Haus.
Dann durchbricht das Klopfen an der Tür diese Stille.
Es ist das kräftige Klopfen einer starken Hand.
Ich beeile mich, weil ich davon ausgehe, dass es Leo ist. Nicht eine Sekunde komme ich auf die Idee, es könnte jemand anderes sein. Hätte ich das geglaubt, ich wäre mit angehaltenem Atem am Küchentisch sitzen geblieben und hätte mich nicht von der Stelle gerührt. Ich kann keinem Fremden die Haustür öffnen. Ich weiß nicht einmal mehr, wann ich dies das letzte Mal versucht habe.
Während ich also den Flur entlangeile, stelle ich mir vor, wie Leo mit pochendem Herzen und leicht geröteten Wangen zurückgekommen ist, weil er seinen Reisepass oder die Auslandswährung oder irgendeinen Brief, ein Dokument, eine Bestellung vergessen hat. Er klopft deshalb so laut, weil er denkt, dass ich unter der Dusche stehe und ihn sonst nicht hören kann. Deshalb hat er auch gar nicht erst angerufen. Er hat den Motor laufen lassen, darum hat er den Hausschlüssel nicht dabei. Der baumelt nämlich an seinem Schlüsselbund neben der Lenksäule.
Kopfschüttelnd gelange ich bis ins Foyer und muss ein bisschen grinsen. Wie kann es sein, dass Leo einerseits so scharfsinnig, so schlau ist, aber gleichzeitig so vergesslich und unorganisiert. Er ist ein wandelnder Widerspruch, und deswegen liebe ich ihn noch ein bisschen mehr.
Jetzt klopft er noch einmal, lauter als zuvor. Er bearbeitet die Haustür mit der Faust.
»Ist ja gut, Mr. Sommelier«, rufe ich. »Ich komm ja schon, ich komme …«
Ich stoße ein paar orgasmische Seufzer aus, einen lauter als den anderen, je näher ich der Tür komme. Ich möchte albern sein, möchte ihn zum Lächeln bringen, trotz des Stresses, den er empfinden muss, weil er irgendetwas vergessen hat.
»Ich komme« , stöhne ich ein letztes Mal, während ich die Tür aufmache. Doch da steht nicht Leo. Da stehen zwei ernst dreinblickende Gestalten in dunklen Anzügen. Ein Mann. Eine Frau.
Die frischen Biotomaten, die ich vorhin gepflückt habe, waren weniger rot als mein Gesicht in diesem Augenblick.
Mein Mund ist wie ausgedörrt. Meine Kehle ist rau wie Sandpapier.
»Ich, also … ähh …«
»Komme?«, ergänzt der ernste Mann.
»Tut mir leid«, stammele ich mühsam und presse mit aller Kraft ein wenig Luft durch meine eng gewordene Luftröhre. »Das … also, das tut mir leid. Ich dachte, Sie wären jemand anderes.«
Die ernste Frau greift in die Innentasche ihrer Jacke und holt eine lederne Brieftasche heraus. Sie klappt sie mit einer beiläufigen Bewegung auf, einer Bewegung, die sie schon mindestens tausend Mal gemacht hat, daran kann es keinen Zweifel geben.
»Ich bin Agentin Wilks«, verkündet sie mit kräftiger, selbstsicherer Stimme. »Und das ist Special Agent Messer. Wir müssen mit Ihnen über Ihren Ehemann sprechen, Mrs. Talhoffer. Dürfen wir reinkommen?«
8.19 Uhr
Ich starre die glänzende FBI-Dienstmarke mit dem kleinen Foto von Agentin Wilks daneben an.
Sie sieht aus wie Ende vierzig und hat einen gebieterischen Gesichtsausdruck. Akkurat geschnittene, kurze blonde Haare. Grüne Augen. Messer ist ziemlich massig, zehn Jahre jünger als sie und besitzt ein quadratisches Gesicht sowie kurze schwarze Haare. Er ist auch ein wenig blasser als sie, ein bisschen gestutzter und gepflegter. Gerade jung genug, um Feuchtigkeitscreme zu benutzen, ohne das als Angriff auf seine Männlichkeit zu begreifen.
Ich bin eine gute, gesetzestreue Bürgerin, die nichts zu verbergen hat, und trotzdem ist mir dieser Besuch unangenehm. Ich fühle mich gedemütigt. Ich möchte diese beiden Menschen nicht in mein Haus lassen, aber es sind FBI-Agenten. Da kann ich doch nicht nein sagen, oder? Ich komme nicht einmal auf den Gedanken, sie zuerst um eine Erklärung zu bitten. Ich ordne mich sofort unter, lasse mich von ihren Dienstausweisen und ihrer Autorität augenblicklich einschüchtern.
Ohne ihnen in die Augen zu sehen, nicke ich und sage: »Okay.«
Ich halte ihnen die Tür auf, und sie treten ein, beide mit demselben roboterhaften Gang. Wahrscheinlich gibt es beim FBI für alles einen Kurs, auch für das Gehen.
»Bitte, gehen Sie durch«, sage ich.
Ich bin in erster Linie verwirrt.
Warum um alles in der Welt will das FBI mit mir über Leo sprechen?
Das Gute an der Peinlichkeit, die ich empfinde, ist, dass sie meine Angst überlagert. Schlagartig bin ich geheilt, wenn auch nur vorübergehend.
Ich folge ihnen durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Dort drehen sie sich um und starren mich an. Meine Verlegenheit legt sich allmählich, weil ich mit jeder Sekunde ein bisschen neugieriger werde. Warum sind sie hier?
Sie stehen mit strengen Mienen und strengen Anzügen dicht nebeneinander. Messer ist groß und breit und wirkt allein dadurch schon einschüchternd, aber Wilks besitzt eine unglaubliche Selbstsicherheit, die mir genauso sehr den Wind aus den Segeln nimmt. Ich nehme an, sie ist die Ranghöhere, da sie auch die Ältere ist. Aber ich kenne mich beim FBI nicht so gut aus, dass ich sagen könnte, ob die beiden gleichberechtigte Partner sind oder in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Ausnahmsweise bedaure ich jetzt, dass ich nicht mehr Zeit vor dem Fernseher verbringe.
»Sie haben ihn gerade verpasst«, sage ich. »Er ist vor wenigen Minuten weggefahren.«
Wilks erwidert: »Können wir uns vielleicht setzen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sicher.«
Ich setze mich auf die Lehne des nächstbesten Sessels, während Wilks und Messer sich für das Sofa entscheiden, das neben ihnen steht. Es ist ein Dreisitzer, sodass sie bequem darauf Platz finden. Sie lehnen sich nicht an. Sie entspannen sich nicht. Hier geht es um etwas Ernstes.
»Mrs. Talhoffer …«
»Nennen Sie mich Jem, bitte. Ich weiß gar nicht, wieso ich Leos Nachnamen angenommen habe, obwohl ich ihn so hasse. Na ja, hassen ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber …«
Wilks signalisiert mit einem höflichen Nicken, dass sie meine Vorbehalte zur Kenntnis genommen hat. »Jem, ich hoffe, Sie können uns bei unseren Ermittlungen behilflich sein. Es geht um einen Geldwäscher-Ring, dem wir schon seit einiger Zeit auf den Fersen sind.«
Noch nie haben meine Augenbrauen so perfekte Bogen gebildet. »Ein Geldwäscher-Ring? Ich weiß ja nicht einmal, wie Geldwäsche überhaupt funktioniert, ganz zu schweigen in einem ganzen Ring.« Da fällt mir etwas ein. Ich habe keine Ahnung, woher der Gedanke kommt, aber ich sage: »Fällt das nicht in die Zuständigkeit des Finanzamts? Müsste dann nicht eigentlich der Secret Service die Ermittlungen führen?«
Messer übernimmt. »Der Secret Service ist für Falschgeld zuständig. Geldwäsche fällt in den Zuständigkeitsbereich des FBI. Sonst wären wir nicht hier.«
Sein Tonfall wird gegen Ende ein wenig herablassend, was allem Anschein nach nicht abgesprochen war, jedenfalls wirft Wilks ihm einen tadelnden Blick zu.
»Aber was hat Leo mit Geldwäsche zu tun?«
Wilks erwidert: »Mrs. Talhoffer – Entschuldigung, Jem –, wir glauben, dass eine kriminelle Organisation den Weinhandel Ihres Mannes benutzt, um Drogengeld zu waschen. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass das eine sehr ernst zu nehmende Angelegenheit ist. Daher ist es von großer Bedeutung, dass Sie unsere Fragen so präzise und ausführlich wie nur möglich beantworten. Haben Sie das alles verstanden?«
Ich verstehe die Wörter, aber ich kann nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. »Drogengeld …?«
Wilks nickt.
»Leos Geschäft?«
Wilks nickt.
»Eine kriminelle Organisation benützt Leo, um Drogengeld zu waschen? Also, ein Drogenkartell? Das kann ich nicht glauben. Das glaube ich nicht. Das würde er niemals machen, niemals, glauben Sie mir.«
Meine Stimme wird mit jedem Wort lauter.
Wilks beugt sich etwas dichter zu mir. »Wir glauben nicht, dass Ihr Mann aus freien Stücken in diese Sache verwickelt ist. Darum wollten wir zunächst mit Ihnen sprechen, bevor wir uns an Ihren Mann wenden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er zur Mitarbeit in dieser Organisation gezwungen wird.«
»Die erpressen ihn? Aber wie? Warum?« Ich schüttele den Kopf. »Wie sollen sie denn Leo dazu zwingen, für sie zu arbeiten?«
Wilks und Messer sehen mich an, als wäre das doch offensichtlich.
»Ich?«
»Leo tut, was er tun muss, um Sie zu beschützen«, erläutert Wilks.
Messer äußert sich ein bisschen weniger feinfühlig. »Wenn er sich nicht genau an das hält, was diese Leute von ihm verlangen, dann beauftragen die irgendwelche anderen Leute damit, Sie zu töten. Und wir reden hier nicht über einen sauberen, schmerzlosen Kopfschuss. Das sind skrupellose Männer. Grässliche Menschen. Der Abschaum des Abschaums.«
Die Stille legt sich so schwer und drückend über den ganzen Raum, dass ich das Gefühl habe, er könnte jeden Moment zusammenbrechen und mich unter sich begraben. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, darum sage ich: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Wilks gibt sich alle Mühe, eine mitfühlende Miene aufzusetzen. »Wir wissen natürlich, dass das sehr schwer zu verkraften ist.«
»Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber das können Sie unmöglich wissen.« Ich senke den Blick und ringe die Hände im Schoß. »Mein Tag hat gerade erst angefangen, und da tauchen Sie hier auf und lassen diese Bombe platzen. Ich hab ja noch nicht mal geduscht.«
Wilks und Messer schweigen, während ich versuche, mit dem Schock fertigzuwerden. Da fällt mir etwas ein.
»Haben Sie extra gewartet, bis Leo weggefahren ist?«
Für einen kurzen Moment sehen sie aus wie zwei Schulkinder, die dabei erwischt worden sind, wie sie Steine geschmissen oder Süßigkeiten geklaut haben.
Ich frage: »Wie lange spionieren Sie uns schon nach?«
»Wir haben an der Kreuzung gestanden und gewartet«, erwidert Wilks. »Wir haben Leo vorbeifahren lassen, und eine Minute später haben wir uns auf den Weg gemacht. Wir haben Sie nicht ausspioniert, Jem.« Sie lächelt. »Dafür haben wir gar nicht genügend Leute.«
Ich nehme an, das Lächeln ist Teil einer taktvoll-behutsamen Strategie, aber das, was sie mir gerade eröffnet haben, war weder taktvoll noch behutsam, darum lächele ich nicht.
»Ist Leo in Gefahr?«
»Nein, nein«, stößt Wilks hastig hervor. »Er hat einen unersetzlichen Wert für diese kriminelle Organisation …«
»Warum sagen Sie nicht einfach Kartell?«
»Aufgrund seines Geschäfts ist Leo ein essenzieller Bestandteil dieser Organisation. Ihm droht keinerlei Gefahr, und genau dabei wollen wir es auch belassen. Darum sind wir ja zuerst zu Ihnen gekommen.«
Messer fügt hinzu: »Wir wollen Leo nicht ansprechen, für den Fall, dass er beobachtet wird.«
»Soll das heißen, dass das Kartell ihn beschatten lässt?«
»Das soll heißen, dass wir das für möglich halten.«
»Aber dann würden sie doch bestimmt das Haus hier bewachen, oder nicht?«
Noch bevor ich meine Frage zu Ende gebracht habe, schüttelt Wilks den Kopf. »Das haben sie gar nicht nötig. Sie wissen, wo er wohnt, wo Sie wohnen, und das reicht ihnen. Aber wenn er nicht hier ist, wenn er für diese Leute arbeitet, dann steht er ständig unter Beobachtung.«
»Wie können Sie das alles wissen?«
»Das ist unser Job«, erwidert Wilks mit einer unerschütterlichen Selbstgewissheit, wie ich sie noch nie empfunden habe, nicht einmal ansatzweise. »Wir wissen, wie diese kriminellen Organisationen – diese Kartelle – funktionieren. Bitte, glauben Sie uns.«
Ich stelle fest, dass ich irgendwann im Verlauf des Gesprächs von der Sessellehne auf den Sitz gerutscht sein muss. Wobei, gerutscht klingt vielleicht zu elegant. Ich bin geplumpst, bin zusammengebrochen.
»Sie versprechen mir, dass Leo nichts zustoßen wird?«
»Ich schwöre«, versichert Wilks mir im Brustton der Überzeugung.
»Also gut.« Ich atme tief ein und nicke. »Also gut. Was wollen Sie wissen? Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich Ihnen überhaupt behilflich sein kann. Schließlich habe ich gerade erst von alledem erfahren.«
Messer übernimmt. »Wir glauben, dass Leo auf seiner letzten Europareise in Rom war, um sich dort mit dem für Europa zuständigen Kartellvertreter zu treffen. Wir glauben, dass Leo von diesem Mann bestimmte Informationen bekommen hat: Kontonummern, Passwörter, Unternehmen auf der ganzen Welt. Scheinfirmen, Jem, hinter denen sich das Kartell verbirgt. Wir glauben, dass Leo Zugang zu ihrer globalen Finanzinfrastruktur erhalten hat. Diese Informationen könnten für unsere Ermittlungen einen gewaltigen Fortschritt bedeuten. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass wir mit diesen Beweisen unter Umständen das gesamte Kartell auf einen Schlag erledigen können.«
»Aber warum sollten sie ihm so wichtige Informationen überhaupt anvertrauen?«
»Weil er sich bereits als vertrauenswürdig erwiesen hat«, erklärt mir Wilks. »Er ist schon lange als Geldwäscher tätig. Ein paar Tausend hier, Hunderttausend da. Er ist zuverlässig. Er ist berechenbar. Und er ist noch mehr als das: Überall dort, wo sie schmutzig sind, ist seine Weste vollkommen unbefleckt.«
»Außerdem«, fügt Messer hinzu, »sind Sie das perfekte Druckmittel. Leo kann diese Leute nicht hintergehen. Er kann sich nicht weigern.«
»Ich habe wirklich keine Ahnung von alledem«, sage ich. »Auch wenn ich wünschte, es wäre anders.«
»Das erwarten wir auch gar nicht. Aber vielleicht wissen Sie ja, wo Leo diese Informationen aufbewahrt. Er hat vielleicht eine externe Festplatte oder einen USB-Stick bekommen. Irgendetwas, was einen Kopierschutz besitzt und keine Verbindung zum Internet hat. Leo würde selbstverständlich sehr sorgfältig darauf achtgeben. Haben Sie vielleicht mitbekommen, dass er versucht hat, etwas zu verstecken?«
Ich zucke mit den Schultern und schüttele den Kopf. »Ich interessiere mich eigentlich nicht für Leos Geschäfte. Ich weiß wirklich nicht, ob er ein paar USB-Sticks aus Rom mitgebracht hat oder nicht. Wie auch?«
Wilks und Messer wechseln einen Blick, den ich nicht deuten kann. Wilks macht den Mund auf und will etwas sagen, aber in diesem Augenblick klingelt ein Telefon in der Küche. Für einen kurzen Moment glaube ich, dass es mein Handy ist, das immer noch neben meinem Teller auf dem Küchentisch liegt. Aber es ist das Festnetztelefon. Das Klingeln kommt mir fremd vor, weil kaum jemand diese Nummer anruft.
»Ich gehe lieber mal ran«, sage ich und bin dankbar für die Möglichkeit, den Raum verlassen und ein bisschen verschnaufen zu können.
Wilks ist sich unsicher, doch dann nickt sie und steht auf. »Falls das Leo sein sollte«, sagt sie, »dann erzählen Sie ihm bitte nichts von unserem Gespräch.«
Ich runzele die Stirn.
»Bis wir fertig sind«, fügt sie hinzu. »Bitte, um seinetwillen.«
Ich schenke ihr ein lahmes Nicken und gehe in die Küche. Es ist garantiert nicht Leo, der würde mich auf meinem Handy anrufen. Wer ruft heutzutage überhaupt noch auf dem Festnetzanschluss an? Niemand, oder?
Als hätte ich nicht schon genug zu verarbeiten, frage ich mich jetzt auch noch, wer um alles in der Welt so früh am Morgen hier anrufen könnte.
Die Antwort auf diese Frage wird alles verändern.
8.26 Uhr
Immer noch benommen von all dem, was Wilks und Messer mir gerade eröffnet haben, erreiche ich das Wandtelefon in der Küche. Genau wie das Öffnen der Tür gehört auch das Annehmen eines Telefonanrufs nicht unbedingt zu meinen Stärken. Für gewöhnlich kann ich die Nummer des Anrufers auf meinem Handydisplay sehen, und wenn ich sie nicht kenne, gehe ich nicht ran. Aber Wilks und Messer haben meine Gedanken auf eine wilde Achterbahnfahrt geschickt, sodass mein Gehirn gerade mit völlig anderen Dingen beschäftigt ist. Meine persönlichen Probleme haben sich in den Hintergrund zurückgezogen.
Eine Angststörung ist ein lähmendes Leiden ohne äußere Symptome. Ich sehe normal aus. Ich benehme mich sogar normal. Ich kann meine Ängste so gut verstecken, dass die wenigsten etwas davon mitbekommen. Selbstvertrauen lässt sich vortäuschen. Innere Ruhe lässt sich vortäuschen. Ein Lächeln ist eine Maske, die jedem Menschen zur Verfügung steht, und ich konnte schon immer sehr gut lächeln.
Leo möchte verstehen. Er hat es weiß Gott versucht, aber wenn selbst ich meine Gefühle nicht verstehen kann, ganz zu schweigen von den Ursachen, wie soll er das dann können?
Ich verstehe es nicht.
Früher war ich nicht so. Und wenn ich eines Tages mit dieser Erkrankung aufgewacht wäre, hätte ich sie bestimmt beheben können. Ich hätte gewusst, dass es da irgendwo ein Problem geben muss. Aber so entstehen Angststörungen nun mal nicht. Man sieht sie nicht kommen. Man weiß nicht, dass man darunter leidet, und zwar so lange, bis der Schaden bereits entstanden ist und man sich in einem Teufelskreis aus negativen Gedanken und Gefühlen befindet, die sich ununterbrochen gegenseitig bestärken, einem endlosen Strudel der Trübsal.
Wenn es gut läuft, dann halten einen die Mitmenschen für launisch, abweisend, nervtötend, unkommunikativ oder unhöflich. Sie wissen nicht, dass im Inneren etwas nicht stimmt, weil äußerlich ja alles in Ordnung ist.
Es fällt mir schon ohne all das wirre Zeug über Leo und irgendwelche Drogenkartelle schwer, den Vormittag zu überstehen, aber aus einem unerfindlichen Grund scheint genau das meine eigentlichen Probleme in den Hintergrund zu drängen. Jedenfalls fühle ich mich wie benommen, ja, fast wie ein anderer Mensch.
Und so ist auch der Anruf eines Unbekannten ausnahmsweise nichts, was mich aus der Bahn wirft.
Mein anderes Ich greift also zum Hörer und sagt: »Hallo?«
Nach einer kurzen Stille ertönt eine Männerstimme. »Mrs. Talhoffer?«
Eine tiefe Stimme. Ein ernster Tonfall.
»Ja«, sage ich, während ich mit den Gedanken weit weg bin.
»Mrs. Jemima Talhoffer?«
»Hier gibt es nur eine Mrs. Talhoffer, das kann ich Ihnen versichern. Wer ist da?«
Die tiefe Stimme erwidert: »Mrs. Talhoffer, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so aus heiterem Himmel anrufe. Ich bin Agent Carlson. Ich arbeite für das Federal Bureau of Investigation und möchte Sie bitten, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen und mir einige Fragen über Ihren Ehemann Leo zu beantworten. Es ist sehr wichtig.«
Ich bin nicht in der Stimmung, meine Zeit zu vergeuden, auch wenn es nur ein paar Minuten sind. »Stimmen Sie sich denn gar nicht mit Ihren Kollegen ab?«
Carlson sagt: »Wie bitte, was? Das verstehe ich nicht.«
»Ich bin heute schon von mehr als genug FBI-Agenten zu meinem Mann befragt worden, und dabei ist es noch nicht einmal 9 Uhr.«
»Wie bitte, was?«, wiederholt Carlson.
»Ich bitte Sie, tun Sie meiner geistigen Gesundheit und dem US-amerikanischen Steuerzahler einen Gefallen und koordinieren Sie Ihre Ermittlungen. Ich setze voraus, dass Sie meine Gereiztheit nachvollziehen können. Dieser Vormittag ist eine Katastrophe, und ich bin auch nur ein Mensch.«
»Mrs. Talhoffer, ich fürchte, ich …«
»Und warum sind Sie eigentlich alle immer so förmlich? Nennen Sie mich Jem, um alles in der Welt. Schreiben Sie’s auf einen Zettel. Legen Sie ihn in die Akte. Sagen Sie allen anderen Agenten Bescheid. Und wenn Sie schon dabei sind, dann sagen Sie ihnen auch gleich, dass ich nicht einmal Jemima genannt werden möchte. Kurz gesagt: Ich. Heiße. Jem.«
»Jem«, erwidert Carlson. »Ich weiß nicht, was Sie mir sagen wollen.«
»Holen Sie sich noch einen Kaffee, Carlson, weil Sie den nämlich brauchen werden. Ich will Ihnen sagen, dass zwei Ihrer Kollegen gerade in meinem Wohnzimmer sitzen und mir Fragen über Leo stellen, über sein Geschäft, über kriminelle Organisationen und Informationen auf irgendwelchen USB-Sticks. Also alles das, was Sie mich gleich fragen wollen. Aber ich bin nicht bereit, meine kostbare Zeit zu verschwenden, indem ich das alles jetzt noch einmal wiederhole. Warten Sie den Bericht ab oder rufen Sie nachher Ihre Kollegen an oder machen Sie das, was Sie normalerweise in so einer Situation tun würden.«
Schweigen. Und dann: »Sie haben zwei FBI-Agenten bei sich zu Hause? Jetzt in diesem Moment?«
»Genau das habe ich gerade gesagt. Einen Mann und eine Frau. Wilks und Messer.«
Erneutes Schweigen folgt, und meine Worte klingen mir noch in den Ohren. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so schroff angefahren habe. Das bin nicht ich.
»Es tut mir leid«, sage ich zu Carlson. »Ich bin im Moment etwas überreizt, und was ich gerade über Leo erfahren habe, ist nur schwer zu verkraften. Trotzdem hätte ich nicht so kurz angebunden sein dürfen. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
Gibt es eigentlich einen Satz, den Frauen öfter sagen als: »Es tut mir leid«?
Carlsons Tonfall wird sehr feierlich. »Hören Sie mir jetzt sehr genau zu, Jem. Außer mir gibt es keinen einzigen FBI-Agenten, der sich für die Geschäfte Ihres Mannes interessiert.«
Ich wiederhole Carlsons Worte von vorhin: »Wie bitte, was?«
»Das ist mein Fall, Jem. In diesem Stadium der Vorermittlungen ist niemand anderes beteiligt. Ich stehe ganz am Anfang. Und zwar alleine.«
Es gibt so viele Fragen, die ich ihm stellen möchte, aber ich bekomme nicht mehr heraus als: »Aber Wilks und Messer …«
»Wer immer dieser Mann und diese Frau zu sein behaupten, sie arbeiten nicht für das Bureau.«
Mein Herz rast so schnell, dass mein ganzer Körper anfängt zu zittern.
Carlson fährt fort: »Die Einzigen, die wissen können, was Sie mir gerade erzählt haben, sind ich selbst, Ihr Mann und seine Geschäftspartner.«
Mir wird kalt. Eiskalt.
»Sie haben mir ihre Dienstausweise gezeigt.«
»Jem«, fängt Carlson an. »Die Ausweise sind eine Fälschung. Wie gesagt: Es gibt beim FBI außer mir niemanden, der darüber Bescheid weiß. Jem, wer immer diese Leute zu sein vorgeben, sie haben Sie angelogen.«
8.29 Uhr
Wilks und Messer sind keine FBI-Agenten.
Aber was sind sie dann?
Schon bevor ich meine Frage zu Ende gedacht habe, habe ich sie bereits beantwortet. Carlson hat es ja gesagt: Es gibt nicht viele Menschen, die über Leos Aktivitäten Bescheid wissen.
Wilks und Messer sind Leos Geschäftspartner.
Das Kartell.
Wenn er sich nicht genau an das hält, was diese Leute von ihm verlangen, dann beauftragen die irgendwelche anderen Leute damit, mich zu töten.
»Ich will Ihnen wirklich keine Angst machen«, sagt Carlson, »aber Sie müssen sofort aus dem Haus verschwinden.«
Zu spät, möchte ich sagen.
Ich habe bereits Todesangst, höre aber nur mit halbem Ohr hin, weil mir klar wird, dass Wilks zu mir in die Küche gekommen ist.
Ich war so auf Carlsons Worte fixiert, dass ich sie überhaupt nicht gehört habe.
»Sie schweben in größter Gefahr, Jem«, höre ich Carlson sagen, während ich den Blick starr auf die näher kommende Wilks gerichtet habe. »Legen Sie auf und verlassen Sie das Haus. Rufen Sie das Bureau an, sobald Sie in Sicherheit sind, dann hole ich Sie ab. Ganz egal, wo Sie stecken, ich komme zu Ihnen. Ich bringe Sie in Sicherheit, das schwöre ich. Aber jetzt, Jem, jetzt müssen Sie flüchten. Sie müssen verschwinden, und zwar auf der Stelle, Sie müssen …«
»Ist schon gut, Mom«, sage ich und versuche, die Angst aus meinem Gesicht zu verbannen. »Ich rufe dich später zurück. Muss los.«
Irgendwie schaffe ich es, den Hörer auf die Gabel zu legen, ohne dass er mir aus den zitternden Fingern rutscht.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigt sich Wilks mit ihrer strengen, emotionslosen Stimme.
Ich habe keine Ahnung, wie lange sie schon in der Küche ist. Ich habe keine Ahnung, was sie alles gehört hat.
Sie steht dicht vor mir, und hinter mir befindet sich die Wand. Ich kann nirgendwo hin.
Ich sitze in der Falle.
Ich muss an das Pistolenhalfter unter ihrer Jacke denken. Die Waffe ist immer noch dort. Ihre Hände, die schlaff an ihren Seiten baumeln, sind leer.
Wie lange noch?
Doch trotz der unterschwelligen Drohung, die in ihrer Anwesenheit mitschwingt, ist sie kein bisschen aggressiv. Sie hat also nichts Konkretes gehört. Sie hat nur das gehört, was ich gesagt habe. Sie weiß nicht, wer am Telefon war. Sie kann nicht wissen, was Carlson zu mir gesagt hat.
Messers Worte gehen mir durch den Kopf: Genügend Beweise, um das gesamte Kartell auf einen Schlag erledigen zu können.
Deshalb sind sie hier. Deshalb stellen sie mir all diese Fragen, das wird mir jetzt schlagartig klar. Sie wollen die Informationen sichern, die Leo über sie gesammelt hat. Sie brauchen diese Informationen. Ich verstehe zwar nicht, warum, aber irgendetwas muss sich geändert haben.
Carlson, natürlich. Sie haben gemerkt, dass ihnen jemand auf den Fersen ist. Und Leo. Sie wollen sich die Informationen wiederbeschaffen, bevor sie gegen sie verwendet werden können. Ich verstehe zwar nicht, wieso sie dann zu mir kommen und nicht gleich zu Leo, aber das spielt im Moment keine Rolle, nicht wahr? Ich muss von hier verschwinden, genau wie Carlson gesagt hat. Die Antworten können warten.
Ich zwinge mich, ganz normal auszusehen. Zum Glück ist das eines der Dinge, die ich wirklich gut kann. Das weiß ich. Wie gesagt, ein Lächeln ist eine Maske, die jedem Menschen zur Verfügung steht. Anderen Menschen ist vielleicht nicht klar, wie ermüdend es ist zu lächeln, wenn man es nicht spürt, wenn man eigentlich das genaue Gegenteil empfindet. Ja, es ist sehr anstrengend, aber ich habe so viel Übung darin, dass ich es auf der Stelle anknipsen kann und weiß, dass es funktioniert.
Ich lächele und rolle kopfschüttelnd mit den Augen, verlegen, als würde ich mich in einer Zwickmühle befinden.
»Meine Mutter …«, sage ich.
Bei diesen Worten scheint Wilks sich ein wenig zu entspannen. Sie wirkt beruhigt, überzeugt. Sie hat keinen Grund, an meinen Worten zu zweifeln. Soweit es sie betrifft, bin ich immer noch brauchbar. Immer noch unwissend. Immer noch keine Gefahr.
»Wir haben eine komplizierte Beziehung«, fahre ich fort. Irgendwie purzeln die Wörter aus meinem Mund, und ich bin erstaunt, wie stimmig es klingt. Ich hatte keine Ahnung, dass ich zu so etwas in der Lage bin. »Sie … also, wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen unsere Mutter-Tochter-Beziehung schildere?«
Wilks erwidert: »Ich fürchte, wir haben drängendere Probleme zu lösen.«
Ich drehe die geöffneten Handflächen nach oben. »Ich verstehe. Ehrlich gesagt würde ich auch lieber über Leo und Geldwäsche sprechen als über meine geliebte Mama.«
Wilks verzieht die Lippen, was vermutlich so etwas wie ein Lächeln darstellen soll. Sie hat nichts Liebenswürdiges an sich, und als mir das klar wird, erkenne ich, dass das Kartell zwei ganz bestimmte Persönlichkeiten geschickt hat, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Zwei Persönlichkeiten, die es nicht gewohnt sind, freundlich zu sein. Zwei Persönlichkeiten, die nicht einmal in der Lage sind, Freundlichkeit zu heucheln.
Der Abschaum des Abschaums, wie Messer selbst gesagt hat.
Ich schlucke. Meine Kehle ist schon wieder staubtrocken. Ich zeige auf die Türöffnung, in das Wohnzimmer, zu Messer. »Sollen wir weitermachen?«
Wilks nickt. »Wir werden Sie nach Möglichkeit nicht mehr allzu lange belästigen.«
»Kein Druck«, sage ich. »Ich bin froh, wenn ich Ihnen helfen kann.«
Es ist verblüffend, wie leicht einem die Lügen über die Lippen kommen, wenn man Angst um sein Leben hat.
Sie geht mit müden Schritten voraus. Im Flur angekommen sehe ich, dass Messer im Wohnzimmer steht und in unsere Richtung blickt. Er sieht besorgt aus, hat eine fragende Miene aufgesetzt. Ich kann Wilks’ Gesicht nicht sehen, aber Messer entspannt sich und setzt sich wieder hin.
Als Wilks fast schon durch die Tür ist, sage ich: »Ich muss noch mal schnell auf die Toilette«, und gehe die Treppe hinauf.
Wilks bleibt stehen. Dreht sich um. »Gibt es denn hier unten keine?«
»Der Wasserkasten ist kaputt«, sagte ich beiläufig und ohne mich umzublicken, weil ich befürchte, dass meine Lüge den direkten Augenkontakt nicht überstehen würde. Doch genau dieses Ausweichmanöver scheint eine willkommene Nebenwirkung zu entfalten und meiner Aussage noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Warum sollte ich versuchen, jemanden von der Wahrheit zu überzeugen?
Am oberen Treppenende angelangt riskiere ich einen kurzen Blick nach unten und sehe Wilks von hinten, als sie ins Wohnzimmer geht. Sie hat es mir abgekauft.
Mein Herz hämmert wie wild. Eine Treppe ist für mich wirklich keine körperliche Herausforderung, aber das Adrenalin, das durch meine Adern tobt, bewirkt, dass ich ziemlich außer Atem oben ankomme. Ich muss mich so sehr zusammenreißen, um die Angst, die sich in meinem Inneren aufstaut, nicht nach draußen zu lassen, dass mein Körper sich anfühlt wie kurz vor der Explosion.
Trotzdem habe ich jetzt ein bisschen Zeit, ein wenig Spielraum gewonnen.
Aber was soll ich damit anfangen?
8.32 Uhr
Es war ein Fehler, dass ich nach oben gegangen bin. Ich habe zwar etwas Abstand zu Wilks und Messer gewonnen, aber dafür muss ich mich jetzt gegen das verzweifelte Gefühl wehren, in eine Falle getappt zu sein und dadurch alles noch schwieriger und noch gefährlicher gemacht zu haben. Ich hatte keine Wahl. Wie hätte ich denn Wilks und Messer erklären sollen, dass ich das Haus verlassen will, so wie Carlson es mir nahegelegt hat? Sie hätten jedes Wort sofort als billige Ausrede durchschaut. Nur ein bisschen frische Luft schnappen zu wollen und mir gleichzeitig die Autoschlüssel aus der Schale neben der Tür zu schnappen, das hätte niemals funktioniert.
Ich habe keinen Plan, aber ich muss mir einen zurechtlegen.
Und zwar schnell.
Ein paar Minuten habe ich wohl. Falls Wilks nicht sowieso schon misstrauisch geworden ist – aber wenn das so wäre, hätte sie mich gar nicht erst nach oben gehen lassen –, dann hat sie keinen Grund zu der Annahme, dass ich hier oben etwas anderes vorhabe, als zu pinkeln. Was das Ganze noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ich tatsächlich pinkeln muss. Aber das muss warten. Ich kann es mir nicht erlauben, wertvolle Zeit zu vergeuden.
Ich trage immer noch meine Yogasachen. Soll ich schnell in etwas Praktischeres schlüpfen? Aber was? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken überschlagen sich. Keine Zeit, mich umzuziehen. Wozu auch? Das Einzige, was jetzt zählt, ist, von hier zu verschwinden.
Aber wie?
Das Haus hat zwei Stockwerke. Ich bin zwar einigermaßen fit und kräftig, aber alles andere als eine Bergziege. Wenn ich jetzt versuche, die Regenrinne hinabzuklettern, dann stürze ich garantiert ab und breche mir das Genick, im besten Fall verstauche ich mir den Knöchel. Was womöglich auf dasselbe hinausläuft, sobald Wilks und Messer mitbekommen, was ich vorhabe. Mit nur einem gesunden Fuß kann ich ihnen unmöglich entkommen, und einer Kugel schon gar nicht.
Die Garage! Die hat nur ein Geschoss. Ich könnte auf das Garagendach klettern und von dort auf die Erde. Das ist nicht einfach, aber möglich. Machbar.
Aber zuerst öffne ich behutsam und so leise wie nur möglich die Badezimmertür, dann haste ich zum Waschbecken und drehe einen Wasserhahn auf. Als ich wieder nach draußen gehe, knalle ich die Tür bewusst ins Schloss. Ich glaube zwar nicht, dass der laufende Wasserhahn Wilks oder Messer lange hinhalten wird, wenn sie sich entschließen nachzusehen, aber vielleicht kostet es sie ein paar wenige Sekunden, und ich habe das schreckliche Gefühl, dass jede Sekunde zählt.
Das Fenster des Arbeitszimmers zeigt zur Garage hinaus, deshalb ist das mein nächstes Ziel. Behutsam setze ich meine nackten Füße auf, um möglichst wenig Lärm zu machen. Ich weiß, welche Dielen knarren, darum vermeide ich sie. Wir machen die Türen im Haus grundsätzlich nicht zu – Badezimmer ausgenommen –, darum brauche ich keine quietschenden Türangeln zu befürchten, als ich ins Arbeitszimmer husche. Falls ich das hier unbeschadet überstehe, dann bade ich jede einzelne Angel in Öl.
Falls …
Das Arbeitszimmer ist eigentlich für uns beide gedacht, aber nur Leo nutzt es mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Für meine Tätigkeit reichen ein paar Tabellen und E-Mails vollkommen aus, darum arbeite ich mit dem Laptop immer dort, wo es mir gerade passt. Oft zum Beispiel draußen auf der Terrasse. Das Arbeitszimmer ist also so etwas wie Leos Domäne geworden, und darum ist es unordentlich. Nicht chaotisch, aber eben auch nicht aufgeräumt. Der Schreibtisch ist viel zu vollgepackt. In den Regalen stehen zu viele Aktenkisten, auf dem Fenstersims zu viele Fettpflanzen und Kakteen.
Er hat ihnen allen einen Namen gegeben. Noch vor fünf Minuten fand ich es irgendwie niedlich, dass er eine ganze Armee von Pflanzen auf seinem Fensterbrett stehen und jede einzelne auf den Namen irgendeines unbedeutenden Folksängers aus den Siebzigern getauft hat: Terry, Zachariah, Jethro, Moonshine … Aber jetzt bilden sie eine stachelige Abwehrkette, die mich bei meiner Flucht behindert oder mich womöglich verrät. Ich bin unentschlossen, zögerlich. Soll ich drüberklettern und riskieren, ein Töpfchen umzuwerfen? Oder soll ich mir die Zeit nehmen und sie alle beiseitestellen?
Zum Teufel mit dir, Leo. Zum Teufel mit deiner Niedlichkeit.
Ich drücke die Tür zu, lasse sie aber nicht ins Schloss rasten. Ich will die Geräusche aus dem Flur hören und auf keinen Fall selbst irgendwelchen Lärm machen. Dann rolle ich Leos großen Schreibtischsessel über den Teppich bis vor das Fenster. Ich klappe den Riegel auf und schiebe den Rahmen nach oben. Das ist anstrengend. Ich merke, wie meine Schultern sich verspannen. Ich muss mit aller Kraft drücken. Das Fenster lässt sich verschieben, aber es knarrt. Lackiertes Holz schabt über lackiertes Holz, als die Spannung sich ruckartig entlädt.
Es ist laut. Es ist so laut.
Ich wage nicht, mich zu bewegen. Regungslos stehe ich da, starr vor Angst, und lausche auf das Unvermeidliche, auf harte Schuhsohlen, die die Treppe heraufgetrampelt kommen, auf Wilks und Messer.
Nichts. Ich höre nichts.
Und das bedeutet, dass auch sie nichts gehört haben. Im Augenblick bin ich noch in Sicherheit. In diesem einen Augenblick noch.
Ich stelle mich auf den Schreibtischstuhl. Er steht auf vier Rollen und ist wackeliger, als ich gedacht hätte, aber der Teppich ist ziemlich dick. Die Rollen sinken ein und können sich kaum bewegen. Gott sei Dank haben wir uns nicht überall für Holzfußboden entschieden. Sonst hätte die Roteiche womöglich mein Schicksal besiegelt.
Ich halte mich mit der einen Hand am Stuhl fest und strecke ein Bein zum Fenster hinaus. Zum Glück habe ich noch nicht geduscht. Zum Glück trage ich noch meine Yogaklamotten. In Jeans wäre ich jetzt sehr viel unbeweglicher.
Ich blicke hinaus aufs Dach, auf die Barriere, die ich überwinden muss. Aber wohin dann?
Weit und breit sind keine anderen Häuser zu erkennen. Keine Nachbarn, bei denen ich mich in Sicherheit bringen könnte. Das Haus steht einsam am Ende der Straße. Überall wachsen Bäume: vor dem Haus, hinter dem Haus, zu beiden Seiten des Hauses. Wir haben es gerade wegen seiner abgeschiedenen Lage und seiner Ruhe gekauft, aber jetzt sind diese beiden Vorzüge urplötzlich zu Nachteilen geworden.
Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, weil ich ja immer noch im Haus bin. Alles, was danach kommt, soll gefälligst warten.
Meine nackten Fußsohlen spüren Dachziegel. Sie sind kalt und hart und wackelig. Ich zittere, während ich den Druck verstärke, nach einem sicheren Stand suche, Angst habe, die Ziegel könnten unter meinem Gewicht brechen und eine Lawine auslösen, einen schwarzen Wasserfall, der mich mit sich reißt und auf die Einfahrt spült.
Mir wird schnell klar, dass ich die Stabilität, die ich suche, nicht finden werde. Ein Dach ist eben kein perfekter Ausstieg. Ich muss das akzeptieren, muss es riskieren, weil ich keine andere Wahl habe. Ich verlagere also mein Gewicht und seufze erleichtert, als die Dachziegel unter meinen Zehen nicht nachgeben, sondern bleiben, wo sie sind. Ich klammere mich an den Fensterrahmen und ziehe mich nach draußen, während ich mich mit einem Fuß vom Schreibtischstuhl abstoße.
Der Sessel rollt ein Stückchen weg, und ich sehe voller Bestürzung – halb im Zimmer und halb auf dem Dach, instabil und unbeweglich –, wie der Sessel langsam auf ein Bücherregal zurollt, das Leo nicht an der Wand festgeschraubt hat. Es ist voll mit Büchern und Aktenordnern und Kartons und allen möglichen Dingen, die Leo dort hineingestopft hat. Und alle werden sie herunterfallen, sobald der Sessel gegen das Regal prallt.
Doch er bleibt ein ganzes Stück davor stehen. Am liebsten würde ich den Teppich küssen.
Dann ziehe ich mein in der Luft baumelndes Bein nach draußen und stelle dabei fest, dass ich es nicht weit genug angehoben habe. Einer der Kakteen hat sich im Saum meiner Yogahose verhakt. Zum Teufel mit dir, Jethro.
Ich hebe das Bein und hoffe, dass die Schwerkraft mir behilflich ist und der kleine Jethro von selbst freikommt, aber ich habe kein Glück. Der kleine Scheißer ist zu stachelig und zu leicht. Ich kann ihn nicht abziehen, weil ich beide Hände brauche, um mich am Fensterrahmen festzuklammern. Obwohl ich noch nicht lange so schief und krumm dastehe, spüre ich, wie meine Muskeln anfangen zu brennen, wie ich beginne zu zittern. Erst jetzt wird mir klar, wie schwer ein Bein in kurzer Zeit werden kann.
Da ich keine andere Wahl habe, ziehe ich das Bein langsam – gaaanz langsam – mitsamt dem baumelnden Kaktus durch das Fenster.
Nicht fallen, Jethro, bitte, nicht fallen!
Als das linke Bein, der Fuß und der Kaktus schließlich ins Freie gelangt sind, kann ich eine Hand lösen und Jethro mit sanftem Ruck aus meinem Hosensaum befreien. Ein paar Lycrafasern bleiben an seinen Stacheln hängen, und ich stelle ihn zurück auf den Fenstersims.
Ich schwitze so sehr, dass sich an meiner Nasenspitze ein Tropfen bildet. Ich wische ihn weg.
Im Film ist jeder amerikanische Teenager schon einmal aus dem Fenster aufs Dach geklettert – oder andersrum –, aber ich nie. Ich habe Angst, so hoch oben und ohne festen Boden unter den Füßen, ohne festen Halt. Ich habe keine Ahnung, wie ich diese schräge Fläche bewältigen soll, wenn ich den Fensterrahmen losgelassen habe. Durch das jahrelange Yoga kann ich problemlos die verrücktesten Gleichgewichtsübungen absolvieren, aber hier draußen, auf einem schiefen Dach und mit wackeligen Dachziegeln unter den Füßen, verliere ich garantiert schon wenige Sekunden, nachdem ich mich aufgerichtet habe, das Gleichgewicht und kugele über die Kante nach unten.
Das ist der Schlüssel! Nicht aufstehen.
Ich rutsche also auf dem Hintern vom Fensterrahmen auf die Schieferziegel, stütze mich mit den Beinen ab – und lasse los.
Ich bewege mich nicht.
Ich bin stabil. Na ja, zumindest so stabil, wie ich gehofft hatte. Ich lege meine Hände zu beiden Seiten der Hüften auf das Dach und krabbele wie ein Käfer vorwärts. Die Schieferziegel unter mir klicken, aber leise. Ich komme nur langsam voran, aber solange sich kein Ziegel aus seiner Verankerung löst, habe ich die Situation bis zu einem gewissen Grad im Griff.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Die Zeit scheint jede Bedeutung verloren zu haben – oder vielleicht bin ich auch zu gestresst, zu verängstigt, um sie im Blick zu behalten. Sind nur Sekunden vergangen oder bereits Minuten? Jedenfalls muss ich jetzt schnell sein. Ich muss von diesem Dach verschwinden, bevor Wilks und Messer merken, was ich vorhabe. Solange ich hier oben hocke, sitze ich genauso in der Falle wie vorhin im Wohnzimmer.
Ich komme bis hinunter zur Regenrinne, die diesen Teil des Dachs vom Garagendach trennt. Die Höhe beträgt nur noch etwa drei Meter, aber mir kommt es schwindelerregend vor. Immer noch hoch genug, um mir den Schädel zu brechen, falls ich mit dem Kopf voraus lande, aber endlich habe ich einen Rhythmus gefunden. Ich fühle mich gut, so gut, wie es eben geht, wenn man ein Hausdach hinunterrutscht, um nicht von zwei Kartell-Killern ermordet zu werden. Ich werde nicht abstürzen, das sage ich mir immer wieder.
Ich überquere die Regenrinne und gelange auf das Garagendach. Jetzt habe ich eine Schwelle überschritten, in der Realität genauso wie im übertragenen Sinn.
Ich schaffe das, weil ich es schaffen muss.
Das Dach hat jedoch andere Vorstellungen, und unter meinem Fuß löst sich eine Schieferplatte. Vielleicht habe ich sie zu sehr belastet. Vielleicht habe ich mich zu schnell bewegt, war zu ungeduldig. Ein Augenblick der Selbstsicherheit, der zur Selbstzerstörung führt.
Der Ziegel rutscht über das geneigte Dach, langsam zunächst, aber unaufhaltsam.
Ich benötige meine gesamte Kraft, mein gesamtes Gleichgewichtsgefühl, um meine Position beizubehalten, und kann nur zusehen, wie die Schieferplatte die Kante erreicht und schließlich vornüberkippt.
Für einen Moment habe ich deutlich vor Augen, wie der Ziegel in einem weichen Blumenbeet landet und intakt bleibt.
Ein Augenblick der grässlichen, grausamen Stille.
Dann zersplittert die Schieferplatte.
8.36 Uhr
Keine Zeit mehr für Heimlichkeiten. Jetzt zählt nur noch Geschwindigkeit.
Ich rutsche schneller über das Dach. Schieferplatten klicken und klappern. Ich arbeite mich bis auf die gegenüberliegende Seite vor, zur östlichen Garagenmauer, an der die Mülltonnen stehen. Sie sind aus Metall, aus geriffeltem Aluminium, und ich hoffe inständig, dass sie mein Gewicht halten, wenn ich mich auf eine oder mehrere davon sinken lasse.
Aber um bis dahin zu kommen, muss ich über den Dachfirst der Garage klettern, das heißt, ich muss auf Händen und Füßen die Dachschräge hinaufrobben. Das ist deutlich einfacher, als anschließend im Käfergang abwärtszukrabbeln, aber ich beeile mich, spüre noch mehr Verzweiflung.
Immer wieder fühlen sich einzelne Dachziegel wackelig an und rutschen, so, als würde das ganze Dach in Bewegung geraten und mich mit sich reißen.
Nur noch wenige Sekunden, dann bin ich am Ziel, dann habe ich die östliche Dachkante erreicht, und doch fühlt sich jede einzelne, lange Sekunde an wie das reinste Entsetzen. Ich spähe hinab zu den glitzernden Mülltonnen. Sie sind vielleicht einen Meter hoch, also kann ich sie wahrscheinlich mit den Zehenspitzen berühren, wenn ich mich mit ausgestreckten Armen an die Kante hänge.
Hoffe ich.
Ich drehe mich also um und lasse mich langsam, Zentimeter für Zentimeter, nach hinten rutschen, bis meine Füße kein Dach mehr spüren, dann meine Schienbeine, dann mein linkes Knie. Schließlich mein rechtes Knie.
Ich versuche, gleichmäßig zu atmen, aber meine Angst ist zu groß. Zu viel Adrenalin. Ich atme so hastig, dass es viel eher ein Keuchen ist.
Die Dachrinne und die Ziegel bohren sich in meinen Unterleib, der das Gewicht meiner baumelnden Beine zu tragen hat. Meine Ellbogen und Handflächen stemmen sich mit aller Macht auf das Dach, aber trotzdem spüre ich, wie ich langsam rückwärtsrutsche. Ich kann mich nirgendwo festhalten, und ich bin nicht stark genug, um mich gegen die unbarmherzig zerrende Schwerkraft wehren zu können. Wie soll ich eigentlich rückwärts vom Dach steigen, ohne ins Rutschen zu kommen?
Die Schwerkraft gewinnt Stück für Stück die Oberhand.
Ich habe Schmerzen. Schieferziegel sehen vielleicht hübsch aus, aber jetzt bohren sie sich in meine Weichteile, zerkratzen mir die Haut. Und das Adrenalin löscht bestimmt einen Großteil der Schmerzen aus, die ich normalerweise empfinden würde.
Mein Atem geht schnell und flach. Meine Ellbogen, die sich jetzt auf der Höhe meiner Schultern befinden, haben die Dachrinne erreicht, sodass der Großteil meines Körpers jetzt in der Luft hängt. Ich strecke die Zehen aus, ohne die Mülltonnen zu erwischen. Ich kann zwar den Kopf drehen, aber nicht nach unten sehen und die Entfernung abschätzen, weil immer ein Körperteil im Weg ist.
Gut möglich, dass Wilks und Messer direkt unter mir stehen.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Soll ich versuchen, mich weiter sinken zu lassen, auf die Gefahr hin, dass ich alle Kontrolle verliere? Oder soll ich bewusst abspringen, solange ich es noch selbst beeinflussen kann? Nur eines ist sicher: Lange kann ich mich nicht mehr halten. In meinem Haus sind zwei Killer, aber auch wenn das nicht so wäre, ich habe nicht die Kraft, noch länger so hängen zu bleiben.
Also lasse ich mich sinken, so schnell es mir möglich ist, aber ich komme nur quälend langsam voran. Ich möchte auf keinen Fall noch mehr Lärm machen, und ich will mir auch nicht bei einer unglücklichen Landung den Knöchel verstauchen oder noch Schlimmeres.
Ich gehe also das Risiko ein und lasse mich noch ein bisschen tiefer sinken, in der Hoffnung, dass die Mülltonnen nur wenige Zentimeter entfernt sind.
Sind sie nicht.
Ich verliere die Kontrolle. Die Schmerzen in meinen Fingerspitzen infolge des Drucks werden immer größer und sind bald nicht mehr zu ertragen. Ich werde abstürzen, jeden Augenblick. Ich muss loslassen.
Ich lasse los.
Ich falle.
Es dauert nicht einmal eine Sekunde, nicht einmal eine halbe. Eigentlich höre ich schon unmittelbar danach das laute Klappern des Aluminiumblechs. Obwohl ich damit gerechnet, obwohl ich es mir herbeigesehnt habe, bin ich nicht darauf gefasst. Kann ich nicht reagieren.
Die Mülltonne knickt ein, verformt sich, auch wenn sie für einen kurzen Augenblick mein Gewicht halten kann. Ich rutsche ab und schlage mit der Hüfte auf dem Boden auf. Ich verziehe das Gesicht. Es schmerzt, aber ich bin nicht verletzt. Ich rappele mich auf, bin mir bewusst über den Lärm, den der zerbrochene Dachziegel, die zerknickte Mülltonne gemacht haben. Den ich gemacht habe.
Jeden Augenblick müssen Wilks und Messer mit gezückten Pistolen hier auftauchen. Aber ich kann sie nicht hören. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, hat der Aufprall des Dachziegels sie doch nicht alarmiert. Immerhin liegt das Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses, und es ist ein großes Haus, größer als Leo und ich eigentlich benötigen, auf Zuwachs gekauft. Reine Geldverschwendung, aber in diesem Fall hat seine Größe mich gerettet.
Was nun?
Überall stehen Bäume, aber ich kann ja wohl schlecht in den Wald laufen, oder? In der Nähe des Hauses ist er noch nicht so dicht, aber dafür das Unterholz. Ich würde eine offensichtliche Spur hinterlassen. Vielleicht können Wilks und Messer schneller laufen als ich, aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass ich mehr Ausdauer habe. Egal, wie fit sie sind, aber ich trainiere sieben Tage die Woche. Fitness ist meine Arbeitsgrundlage. Allerdings kann man sich für Ausdauer wenig kaufen, wenn man barfuß ist. Ich würde mir auf dem Waldboden die Fußsohlen ruinieren oder mir einen Ast in den Fuß bohren. Nein, danke. Wanderstiefel wurden schließlich nicht ohne Grund erfunden.
Ich weiß immer noch nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich den Fuß auf die Treppe gesetzt habe, aber ich weiß, dass es länger war, als ein Toilettengang normalerweise dauert. Wilks oder Messer oder beide müssen sich inzwischen auf die Suche gemacht haben. Vielleicht klopfen sie gerade an die Tür. Vielleicht fragen sie mich mit lauter Stimme, ob alles in Ordnung sei, werden besorgt, wenn ich keine Antwort gebe, machen sich schon bereit, die Tür einzutreten, bis sie die Klinke drücken und feststellen, dass die Tür gar nicht abgeschlossen ist.
Ich halte eine Sekunde lang inne, um wieder zu Atem zu kommen, um nachzudenken und zu erkennen, dass mein Handy immer noch auf dem Küchentisch liegt.
Dämlich. Dämliche Jem.
Nein, es ist nicht meine Schuld. Ich war in dem Moment, als Wilks neben mir stand, so verängstigt, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, ich könnte es wenige Minuten später vielleicht gebrauchen. Ich hatte nichts anderes als mein Überleben im Sinn. Und was soll ich mir jetzt den Kopf darüber zerbrechen? Ich habe schließlich ein viel größeres Problem zu lösen: Mein Auto steht in der Einfahrt, aber die Schlüssel liegen im Haus, in einer Schale gleich neben der Haustür, in einem Haus mit zwei Kartell-Killern.
Ein Geräusch. Gedämpft, aber erkennbar aggressiv.
Ein Schrei vielleicht.
Wilks oder Messer, die nach Verstärkung rufen, nachdem sie das Badezimmer leer und mit laufendem Wasserhahn vorgefunden haben.
Ich schleiche an der Garagenmauer entlang. Vorsichtig spähe ich um die Ecke zum Haus. Es sind vielleicht sieben Meter von hier bis zur Haustür. In der Einfahrt steht mein geliebter Prius, aber dahinter ein schwarzer SUV, ein Ford Explorer. Der muss Wilks und Messer gehören. Er sieht jedenfalls genau so aus wie ein Fahrzeug, das dem FBI – oder Leuten, die behaupten, vom FBI zu sein – gehört. Einschüchternd. Sie müssen langsam bis ans Haus herangerollt sein, sonst hätte ich dieses Monstrum garantiert gehört.
Ich spähe durch das Seitenfenster, hege die winzige Hoffnung, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckt, aber Wilks oder Messer sind natürlich weder dämlich noch nachlässig. Ich schleiche bis zum Haus. Vielleicht kann ich ja reingehen, mir die Autoschlüssel aus der Schale schnappen und verschwinden, bevor sie überhaupt etwas davon mitbekommen.
Nein, kann ich nicht. Ich höre Wilks mit lauter, heiserer Stimme rufen: »Nein, ist sie natürlich nicht.«
Eine Antwort auf eine Frage, die ich nicht gehört habe.
Es hört sich so an, als würde Wilks am oberen Ende der Treppe stehen.
Messer sagt: »Sie stehen neben der Tür, also ist sie nicht weggegangen.«
Er befindet sich im Flur, nur wenige Meter von meinem Versteck entfernt. Wir sind nur durch einige Zentimeter Walnussholz voneinander getrennt.
»Was hat sie denn dann …«, fängt Wilks an, doch sie unterbricht sich. »Ich kann einen Luftzug spüren. Da muss irgendwo ein Fenster offen sein.«
Ich habe nur noch Sekunden, bevor Messer herauskommt.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, wo ich mich hinwenden soll. Wo soll ich jetzt hin?
Der große SUV.
Ich renne hinüber, lege mich auf den Bauch und schiebe mich unter den Wagen.
Krachend fliegt die Haustür auf.
Messer stürmt zur Tür heraus.
8.40 Uhr
Ich habe den Blick auf das Haus gerichtet, weil ich mich bewusst umgedreht habe, bevor ich unter den Explorer gekrochen bin. Der Prius steht zwar im Weg, aber die geöffnete Tür, die Treppenstufe und Messers polierte schwarze Schuhe kann ich trotzdem erkennen. Stabile, gute Schuhe. Dazu den Saum seiner holzkohlegrauen Hose. Etliche Sekunden lang bewegt er sich nicht von der Stelle, und ich stelle mir vor, wie er den Blick über die beiden Autos schweifen lässt, um sich zu versichern, dass sie noch da sind. Er macht einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Er blickt in die Ferne, sieht nach, ob ich vielleicht die Straße entlanglaufe oder mich zwischen die Bäume schlage, die die Straße flankieren und das Haus umgeben.
Er ruft: »Nichts. Hier draußen ist sie nicht.«
Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Solange ich nicht weiß, was sie vorhaben, habe ich viel zu viel Angst, selbst etwas zu unternehmen.
Bitte, gebt mir eine Chance.
Wilks stellt sich neben Messer.
»Oben steht ein Fenster offen. Ich glaube, sie ist aufs Dach geklettert. Das muss es sein. Im Haus ist sie jedenfalls nicht mehr.«
»Das ist doch nicht dein Ernst«, gibt Messer zurück. »Was hat sie denn vor?«
Eine kurze Pause. Wahrscheinlich zuckt Wilks gerade mit den Schultern. »Das Fenster zeigt nach vorne raus«, sagt sie. »Aber vielleicht ist sie ja übers Dach nach hinten geklettert. Du bleibst hier, ich sehe mal auf der Rückseite nach. Kann sein, dass …«
»Da, schau mal«, unterbricht sie Messer. »Da fehlt ein Dachziegel. Da vorne liegt er.«
Ich sehe ihre Füße und Unterschenkel zu der zerborstenen Schieferplatte gehen. Sie bleiben stehen. Denken nach.
Messer sagt: »Wieso ist sie denn abgehauen?«
»Sie weiß Bescheid«, erwidert Wilks.
»Aber wie …?«
»Der Anruf. Das muss es sein.«
»Leo?«
»Kann sein.«
Messer sagt: »Dann los. Wenn sie hinterm Haus ist, dann kann sie ohne Schuhe nicht weit gekommen sein. Ich halte hier vorne die Augen offen.«
Wilks macht sich mit eiligen Schritten auf den Weg, aber nicht um das Haus herum, sondern mitten hindurch. Messer bleibt auf der Vorderseite, genau wie besprochen. Ich kann nicht erkennen, was er macht – ich kann immer noch nur einen Bruchteil von ihm sehen –, aber solange er hier ist, kann ich nirgendwo hin. Er würde mich sofort bemerken.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Zu hoffen. Zu beten.
Ich kneife die Augen zusammen.
Bitte, lass mich das hier heil überstehen. Ich möchte nicht sterben.
Amen.
Nichts hat sich geändert. Wahrscheinlich bin ich einen Tick zu spät gläubig geworden.
Messer stapft hin und her. Ich kann ihn nur von den Schienbeinen abwärts erkennen. Es ist frustrierend, dass ich nicht sehen kann, was er macht, aber wahrscheinlich müsste ich dafür sogar dankbar sein. Wenn ich ihn nicht sehe, dann sieht er mich auch nicht.
Wie lange wird das so bleiben?
Wilks ruft ihn, und er geht ins Haus.
Endlich bin ich wieder allein.
Und jetzt?
Ich muss Schritt für Schritt vorgehen. Jetzt geht es nur darum, den nächsten zu tun, wieder zu Atem zu kommen und meine Gedanken zu sortieren. Die Kletterpartie über das Dach hat einen Schweißfilm auf meinem Gesicht hinterlassen, und die ständige Angst vor der Entdeckung trägt auch ihren Teil dazu bei.
Wo bist du da nur reingeraten, Leo? Du hättest es mir sagen sollen. Wir hätten einen Ausweg gefunden. Wir hätten …
Ich habe eine Idee. Keine Ahnung, woher die gekommen ist, aber es ist die einzige, die ich habe. Und darum ist es die beste.
Ich krieche unter dem SUV hervor. Stehe auf. Meine Haut ist gesprenkelt mit kleinen Schottersteinen, aber ich beachte sie nicht. Sie sind mir egal.
Ich haste zum Haus. Barfuß, wie ich bin, geht das beinahe lautlos. Ich kann Wilks und Messer nicht hören – sie müssen im Garten sein – und husche durch die Tür.
Ich bin so voller Adrenalin, voll überbordender Angst, dass ich am ganzen Leib zittere. Ich kann kaum atmen. Ich schnappe mir die Autoschlüssel aus der Schale neben der Tür, dann halte ich inne. Drehe mich um.
Der SUV blockiert den Prius.
Ich lege die Schlüssel wieder zurück, wenn auch äußerst ungern. Aber Wilks und Messer wissen, dass sie dort sein müssen. Wenn sie sehen, dass sie nicht mehr da sind, dann wissen sie, dass ich in der Nähe bin. Es braucht meine gesamte Willenskraft, um die Schlüssel loszulassen, mich freiwillig der Möglichkeit zu berauben, von hier wegzufahren, und doch muss ich es tun. Ich habe keine andere Wahl.
Ich höre, dass Wilks und Messer einander etwas zurufen, kann aber nicht verstehen, was sie sagen. Sie sehen hinter dem Haus nach irgendetwas. Vielleicht ist ja ein hilfsbereiter Fuchs oder ein Reh vorbeigekommen, hat das Unterholz zertrampelt und sie in die Irre geführt.
Vom Foyer führt eine Tür in die Garage. Ich öffne sie behutsam und mache sie genauso behutsam hinter mir wieder zu. Das leise Klicken der Messingschnalle kommt mir so laut vor wie eine Klingel.
Es ist düster, aber ich lasse das Licht aus. Zu den Rändern des elektrischen Garagentors dringt genau so viel Tageslicht herein, wie ich brauche, und außerdem würde ich mich hier auch blind problemlos zurechtfinden. Die Garage ist mein Reich. Ich habe die Metallregale hier aufgebaut. Ich habe die Werkzeuge an das Drahtgestell gehängt. Leo kann Stunden in seinem Arbeitszimmer zubringen und dort irgendwelche Dinge erledigen. Aber ich stehe, wenn er mich nicht irgendwann nach draußen zerrt, das ganze Wochenende lang in meiner Garage, schleife Möbel ab, ziehe Kerzen, mache Kunst aus Müll. Wenn ich nichts zu tun habe, fange ich an nachzudenken. Und wenn ich nachdenke, kreise ich irgendwann unweigerlich um Dinge, die mich nur unglücklich machen. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber das hier ist mein Tempel. Hier finde ich Frieden.
Jetzt interessieren mich keine Werkzeugmaschinen, kein heißes Wachs, ja, nicht einmal ein dickes Tischbein. Ich habe nicht vor, mich mit Gewalt aus diesem Schlamassel herauszukämpfen. Aber die Garage ist nicht nur meine Werkstatt, sondern auch der Abstellraum für unsere Mountainbikes. Wir haben ein blaues und ein pinkfarbenes … nicht, weil wir diesen Kitsch wirklich gut finden, sondern weil wir eine Art kindliche Freude dabei empfinden, wenn die anderen das von uns glauben. Soweit ich mich erinnern kann, war es Leos Idee: Lass sie doch denken, wir wären so. Das wird ein Spaß.
Ich nehme mein Rad vom Haken, stelle es vorsichtig ab, um keinen Lärm zu machen, entriegele das Garagentor und lasse es hochfahren. Das macht Krach, einen fürchterlichen Krach, aber ich kann es nicht ändern. Außerdem sind Wilks und Messer wahrscheinlich hinter dem Haus und weit genug entfernt, sodass sie den Lärm nicht hören können.
Ich bin eine gute Radlerin, und das Mountainbike ist ein ultraleichtes Wunderwerk der Fahrradbaukunst, aber gegen einen Explorer habe ich damit keine Chance, auch nicht mit einem Vorsprung. Vielleicht würde ich bis zur Kreuzung kommen, vielleicht auch noch ein Stück weiter, aber wie lange würde es dauern, bis sie mich von der Straße fegen? Die Stadt ist mindestens zehn Autominuten entfernt.
Anstatt mich also in den Sattel zu schwingen und um mein Leben zu strampeln, schiebe ich das Rad seitlich an der Garage entlang. Ich lehne es gegen die Wand und verstecke es hinter den Mülltonnen. Es wird dadurch zwar nicht komplett verdeckt, aber man muss schon dicht davorstehen, um es noch erkennen zu können. Und vom Haus aus ist die Sicht ja ohnehin blockiert. Mehr brauche ich nicht. Es soll ja nur eine schnelle Ablenkung sein, keine wirkliche Lösung für meine Zwangslage. Aber wer weiß, mit ein bisschen Glück ist das alles, was ich brauche.
Ich warte.
Ich kauere mich hinter die Mülltonnen und versuche, meinen Atem im Zaum zu halten. Ich bin mir sicher, dass es nicht lange dauern wird, und genau so ist es.
Messer.
»Ach, du Scheiße«, ertönt seine Stimme von der Einfahrt her.
Er hat das offene Garagentor entdeckt.
»Ach, du Scheiße« , ruft er.
Er hat Leos Mountainbike und den leeren Platz daneben entdeckt.
»He!«, ruft er Wilks zu. »Komm mal hier rüber. Sofort.«
Wilks’ hastige Schritte sind gut zu hören.
»Was ist denn los?«, fragt sie ihn, während sie näher kommt.
»Da fehlt ein Fahrrad.«
»Cleveres Mädchen.« In ihrer Stimme schwingt so etwas wie Hochachtung mit. »Sie hat uns ausgetrickst. Du bleibst hier. Weit kann sie noch nicht sein, ganz egal, wie schnell sie ist.«
»Ich finde, ich sollte auch mitkommen«, protestiert Messer.
»Nein, du bleibst hier. Vielleicht ist sie nur ein Stück die Straße entlanggefahren und versteckt sich zwischen den Bäumen, wartet, bis wir vorbeigebraust sind, und holt sich dann ihr Auto.«
Keine schlechte Idee. Schade, dass ich da nicht selbst draufgekommen bin.
Messer scheint die Logik einzuleuchten, jedenfalls sagt er: »Fahr los.«
Sekunden später erwacht der Motor des großen SUV zum Leben. Mit durchdrehenden Reifen wendet Wilks, dann heult der Motor auf, und ich sehe den Wagen die Straße entlangrasen. Es riecht nach verbranntem Gummi.
Jetzt muss ich nur noch dafür sorgen, dass Messer den Standort wechselt, damit ich ins Haus gehen und mir die Schlüssel holen kann. Ja, gut möglich, dass ich Wilks und ihrem Explorer begegne, aber damit beschäftige ich mich erst, wenn es so weit ist.
Eine Attentäterin ausgeschaltet. Bleibt noch einer.
8.46 Uhr
Ich habe mich noch nie besonders für Geografie interessiert, aber in meiner unmittelbaren Umgebung kenne ich mich ganz gut aus. Bis zur Kreuzung sind es etwa achthundert Meter, dann geht es nach rechts beziehungsweise nach Osten, und wenige Kilometer später hat man die Außenbezirke des Städtchens erreicht. Es heißt Cornwall und ist mit etwas über tausend Einwohnern nicht besonders groß. Damals, in der guten alten Zeit, hätte man so etwas wohl als Dorf bezeichnet. Immobilienmakler, die hier Häuser verkaufen wollen, benützen zur Beschreibung mit Sicherheit Adjektive wie »unberührt« und »urig«, »friedlich« und »idyllisch«. Es ist schon lange her, dass Leo darauf aufmerksam geworden ist, kurz nachdem wir angefangen hatten, etwas außerhalb von New York City zu suchen. Auch wenn wir beide nicht zur Arbeit pendeln mussten, so wollten wir doch so wohnen, dass wir ohne allzu großen Aufwand nach Manhattan gelangen konnten. Außerdem wollte Leo in der Nähe der beiden New Yorker Flughäfen sein.
Nördlich der Stadt, im Bundesstaat New York, gibt es viele solcher Ortschaften. Die junge Jem hätte sie absolut unerträglich gefunden. Sie hätte sich vor Langeweile die Haare ausgerissen, wäre vor Frustration verrückt geworden. Die heutige Jem jedoch – ich  – ist genau da angekommen, wo sie an diesem Punkt ihres Lebens sein muss.
Wenn ich doch nur Nachbarn hätte … ich könnte zum nächsten Haus laufen, an die Tür hämmern, um Hilfe rufen. Vielleicht wären sie gar nicht zu Hause, aber in irgendeinem der anderen Häuser an der Straße wäre jemand. Irgendjemand würde mich hören. Irgendjemand würde mir helfen.
Ich lausche angestrengt, um mitzubekommen, was Messer gerade macht. Seit Wilks mit dem Explorer davongerast ist, habe ich keinen Laut mehr von ihm gehört. Steht er noch in der Einfahrt, oder ist er ins Haus zurückgegangen? Mir wird klar, dass ich nicht einfach nur abwarten kann, weil Wilks ihre Suche irgendwann abbrechen und hierher zurückkommen wird. Und dann werden sie nicht allzu gründlich suchen müssen, um das pinke Fahrrad hinter den Mülltonnen zu entdecken. Spätestens dann wissen sie, dass ich noch hier bin und mit ihnen ein Versteckspiel auf Leben und Tod spiele. Verstecken hat mir schon als Kind keinen Spaß gemacht.
Als Erwachsene noch viel weniger.
Ich krieche an der Garagenmauer entlang, an der Hauswand, schleiche mich auf die Rückseite des Grundstücks. Ich darf mich auf keinen Fall sehen lassen, für den Fall, dass Messer noch irgendwo vor dem Haus herumlungert.
Ich lasse mir Zeit, taste mich lautlos vorwärts, bis ich bei meinen Tomatenpflanzen auf der Terrasse ankomme. In Reih und Glied stehen sie da, präsentieren sich voller Stolz ihrer Mama.
Die Hintertür steht offen. Wilks und Messer haben in der Eile vergessen, sie zu schließen. Gut. Eine Sache weniger, um die ich mir Gedanken machen muss. Ich ducke mich unter dem Küchenfenster hindurch und nähere mich der Tür, lausche. Kann keine schweren Schritte hören, kein Anzeichen dafür, dass Messer in der Nähe ist.
Aber das muss nichts heißen. Vielleicht hat er sich ja auf die Lauer gelegt? Vielleicht wartet er auf mich?
Könnte auch eine Falle sein. Er versteckt sich, wartet, bis ich einen Fehler mache und mich aus der Deckung wage.
Ich habe keine Wahl. Ich muss es riskieren.
Ich spähe durch die offene Tür, sehe Teile des Wohnzimmers und der Küche, aber keinen Messer. Er muss immer noch vor dem Haus sein, neben meinem Prius, für den Fall, dass ich tatsächlich das Fahrrad genommen habe und gleich wieder zurückkomme, so wie Wilks es vermutet hat.
Nicht gut. Überhaupt nicht gut.
Da er mit anderen Dingen beschäftigt ist, bin ich einigermaßen zuversichtlich, dass ich mir die Autoschlüssel nehmen kann, aber was nützen sie mir, wenn Messer direkt neben meinem einzigen Fluchtfahrzeug Wache hält?
Da fällt mir etwas ein: Mein Handy liegt auf dem Küchentisch, und die Küche ist nicht weit entfernt.
Ja.
Ich kann die Polizei anrufen, die Wache im Ort. Ich kenne die Leiterin der Dienststelle, Rusty. Sie würde sofort hier auf der Matte stehen, Verstärkung inklusive. Soweit ich weiß, hat sie nur ein paar wenige Mitarbeiter, aber die sind ganz in der Nähe, und in einem so ruhigen, langweiligen Örtchen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie gerade anderweitig gebraucht werden, äußerst gering. Erleichterung überkommt mich. Ein Ende dieses Albtraums ist in Sicht.
Ich kann es kaum erwarten, den wundervollen Klang jaulender Sirenen zu hören.
Auf Zehenspitzen husche ich in die Küche, aber nach wenigen schnellen Schritten ist all meine Erleichterung schon wieder zunichte. Mein Handy liegt nicht an seinem Platz auf dem Küchentisch. Wilks oder Messer müssen es eingesteckt haben.
Ich hätte damit rechnen müssen, aber trotzdem bin ich am Boden zerstört.
Die Hoffnungslosigkeit schnürt mir die Kehle zu. Ich sehe keinen Ausweg mehr. Ich kann nichts anderes tun, als das Unvermeidliche in die Länge zu ziehen. Aber irgendwann werde ich dieses Versteckspiel verlieren, ganz egal, was ich tue.
Am liebsten würde ich die Hände hochnehmen und zur Haustür hinausgehen, um mich an Messer und ein ungewisses Schicksal auszuliefern. Ich bin nicht stark genug für so etwas. Ich habe mir seit Carlsons Anruf etwas vorgemacht. Meine Augen werden feucht. Ich möchte anhalten, atmen, mich hinlegen. Ich würde alles geben, um ein wenig schlafen zu können.
Warum kann das nicht endlich aufhören?
Ein Telefon klingelt. Es ist nicht unser Festnetzanschluss, nicht mein Standardklingelton und auch nicht das putzige Geräusch, das ich für Leos Nummer eingestellt habe. Also muss es Messers Handy sein. Es kommt von draußen, von vor dem Haus.
Das Klingeln hört auf, und er meldet sich.
»Ja?«, höre ich ihn sagen.
Er kommt näher und betritt das Haus, um zu telefonieren.
»Was?«
Ich sehe seinen Schatten an der Wand des Hausflurs, düster und unheimlich.
»Das ist doch nicht dein Ernst.«
Wilks berichtet ihm, dass sie mich nirgendwo gesehen hat, dass ich in der kurzen Zeit unmöglich weiter gekommen sein kann, dass das Ganze nur ein Trick war.
»Falls sie noch hier ist, dann finde ich sie«, sagt Messer mit solcher Entschlossenheit, solcher Zielstrebigkeit, dass ich nicht den geringsten Zweifel daran habe.
Ich habe keine andere Wahl.
Ich renne los.
8.50 Uhr
Der Rasen hinter dem Haus ist immer noch kalt, immer noch feucht vom Tau und gleichzeitig weich. Es fühlt sich himmlisch an, mit meinen nackten Füßen darauf zu sprinten, auch wenn ich das in diesem Moment nicht wirklich würdigen kann. Erst als ich die Rasenkante erreicht habe und zwischen die Bäume laufe, erst als meine Zehen auf harte Erde und Steine und Pflanzen und Schutt treffen, wird mir klar, wie gut ich es hatte. Ist das nicht immer so? Erst, wenn wir es nicht mehr haben, wissen wir etwas wirklich zu schätzen.
Ich weiß nicht, wann genau Messer mich gesehen hat, aber ich wage erst dann einen Blick zurück, als ich schon zwischen den Bäumen bin. Die Rasenfläche ist bestimmt an die fünfzig, sechzig Meter lang, darum hoffe ich, dass ich wenigstens so viel Vorsprung habe.
Messer ist schon in der Mitte der Rasenfläche angelangt.
Unsere Blicke begegnen sich.
»Stopp!«, brüllt er.
Ich mache das genaue Gegenteil. Ich stürme vorwärts, weg von Messer, weg von meinem Haus. Sekunden später verziehe ich das Gesicht, weil ich mir bereits die Sohlen aufgerissen habe. Messer trägt seine guten Schuhe. Er hat diese Probleme mit Sicherheit nicht. Wenn ich geglaubt habe, ich könnte ihm davonlaufen, dann wird mir jetzt klar, dass meine Chancen mit jedem Schritt geringer werden. Dass ich höchstwahrscheinlich schon bald überhaupt nicht mehr gehen kann.
Er verfolgt mich, ohne mir noch einmal hinterherzurufen. Ich würde ohnehin nicht auf ihn hören, egal, was er sagt, und außerdem ist es schwer, gleichzeitig zu rennen und zu schreien. Vielleicht sogar unmöglich. Er spart sich seine Energie für die Verfolgung auf.
Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Ich weiß nur, dass ich vor Messer weglaufen will. Ich erinnere mich vage an eine Straße, die mitten durch den Wald schneidet. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich darauf zulaufe oder nicht. Ich kann nicht stehen bleiben, um nachzudenken, um mich zu orientieren.
Ich versuche, beim Laufen den Boden im Blick zu behalten, die geeigneten Stellen von den weniger geeigneten zu unterscheiden. Das ist nicht ungefährlich. Wenn ich nicht geradeaus schaue, bekomme ich Probleme mit dem Gleichgewicht, und das ist bei diesem Tempo und dem unebenen Untergrund ohnehin nicht so einfach zu halten. Ich stütze mich an Baumstämmen oder tief hängenden Ästen ab.
Da ich gleichzeitig nach unten und nach vorne schauen muss, wage ich nicht, mich nach meinem Verfolger umzublicken. Das kann ich nicht, wenn ich nicht hinfallen will. Aber ich weiß, dass Messer dicht hinter mir sein muss. Ich spüre ihn näher kommen wie einen erbarmungslosen Stier … wie er Erdklumpen aufwirbelt, durch das Unterholz bricht, kleine Bäume umrennt.
Dafür bin ich nur halb so breit und schwer wie er. Ich bin beweglicher. Das muss doch zu irgendetwas nütze sein. Ich muss versuchen, daraus einen Vorteil zu ziehen.
Also laufe ich gezielt dorthin, wo die Bäume dichter stehen, die Zwischenräume schmaler sind, das Unterholz dichter ist. Ich suche mir aus dem Boden ragende Wurzeln und springe darüber hinweg. Klettere über Felsbrocken. Krieche unter umgestürzten Baumstämmen hindurch.
Vor ein paar Jahren bin ich einmal den New York Marathon mitgelaufen, und das sogar in einer ziemlich guten Zeit, aber jetzt kommt mir das vor wie in einem anderen Leben. Dieser natürliche Hindernisparcours zehrt an meinen Kräften. Ich werde langsamer. Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalten kann, stolpere mehr, als dass ich wirklich laufe.
Meine Lunge brennt wie Feuer. Ich schnappe nach Luft, sehne mich nach Erlösung.
Weiter vorne wird es ein wenig heller. Die Bäume lichten sich. Ist das Asphalt?
Ja, die Straße. Eine Straße, ganz egal, welche.
Etwas gelb Lackiertes saust vorbei.
Hilfe , schreie ich laut und deutlich, doch aus meiner Kehle dringt nur ein pfeifendes Krächzen.
Aber selbst wenn ich aus voller Kehle hätte brüllen können, der Wagen ist viel zu schnell, und ich bin viel zu weit entfernt. Schon Sekunden später ist er verschwunden, ist von einem gelben Blitz zu einem blassen, weit entfernten Fleck geworden.
Ich zwinge mich weiter, auch wenn man das kaum mehr Laufen nennen kann, auch wenn ich mich beinahe von den Bäumen abstoßen muss, an denen ich mich abstütze, weil ich keine Kraft mehr habe.
Vor mir öffnet sich jetzt der Wald, und ich stehe am Straßenrand. Die Asphaltdecke ist etwas höher als der umliegende Waldboden, genau so, wie es sein sollte, aber durch die Erschöpfung kommt es mir vor, als müsste ich einen gewaltigen Schritt machen, um dort hinaufzugelangen. Ich blicke in beide Richtungen, in der Hoffnung, ein Auto zu sehen, und habe gleichzeitig schreckliche Angst davor, dass ein schwarzer SUV auf mich zukommen könnte.
Kein Auto weit und breit.
Ich starre zwischen die Bäume. Ich kann Messer nicht sehen. Ich weiß nicht, ob ich ihn abgehängt habe oder ob er mir immer noch auf den Fersen ist.
Ich bin vollkommen erschöpft, aber was ich auf gar keinen Fall will, ist, auf einem Fleck zu verharren und meinem Verfolger dadurch die Chance zu lassen, näher zu kommen.
Noch einmal blicke ich in beiden Richtungen die Straße entlang. Der Asphalt erstreckt sich als schnurgerade Linie in die Ferne. Ich gehe unruhig auf und ab, kann nicht still stehen. Mein Puls ist nach der Rennerei immer noch im roten Bereich. Schweiß klebt in meinen Kleidern und trieft mir aus dem Gesicht.
»Komm schon«, sage ich zu der leeren Straße. »Nun komm schon.«
Mit jeder Sekunde, die ich hier warte, schmilzt mein Vorsprung auf Messer, gebe ich Wilks noch mehr Chancen, mir den Weg abzuschneiden. Aber was kann ich denn sonst machen? Ich bin ausgepumpt. Meine Füße sind von Schnittwunden übersät. Ich habe kein Handy bei mir. Kein Geld. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.
Da höre ich Motorgeräusche. Einen Auspuff.
Die Erleichterung ist so überwältigend, dass mir für einen Moment schwindelig wird. Die Rettung ist nahe. Doch dann wird mir klar, dass das Geräusch aus der Richtung des Ortes, aus der Richtung meines Hauses kommt, und meine Erleichterung verwandelt sich in Furcht. Was, wenn das der große SUV ist? Was, wenn das Wilks ist?
Nein, nein, nein, nein …
Ich ziehe mich zwischen die Bäume zurück, ducke mich ins Unterholz, verstecke mich. Warte.
Ich will nicht nachsehen. Ich will nicht riskieren, dass Wilks mich sieht. Da Messer hinter mir ist, säße ich in der Falle. Aber ich muss nachsehen, denn vielleicht … vielleicht ist es ja gar nicht Wilks. Das könnte meine einzige echte Chance sein zu entkommen, denn wenn ich dieses Auto vorbeifahren lasse, ohne zu versuchen, es anzuhalten, dann könnte Wilks tatsächlich im nächsten sitzen.
Was soll ich machen?
Ich male mir aus, wie Messer hinter mir durch den Wald stürmt. Entschlossen. Erbarmungslos.
Das Motorengeräusch wird lauter. Der Wagen kommt näher.
Die Zeit der Entscheidung ist gekommen.
Ich richte mich auf und stelle mich auf die Straße, ganz egal, welches Schicksal mich erwartet.
8.54 Uhr
Reifen quietschen. Dichte Wolken aus verbranntem Gummi. Ich habe nicht mehr die Kraft auszuweichen, und in diesem Augenblick wird mir klar, dass es mir auch egal ist. Ich bin zu verängstigt und zu erschöpft.
Eine Stoßstange drückt sanft gegen meinen Oberschenkel, aber das ist alles. Ich breche beinahe auf der Motorhaube zusammen. Es ist nicht der schwarze SUV von Wilks, sondern ein ausgebleichter roter Pick-up.
Der Fahrer drückt lange und anhaltend auf die Hupe.
»Was soll denn das, in drei Teufels Namen?«
»Bitte …«
Ich kann kaum sprechen. Ich stolpere um den Radkasten herum zur Beifahrertür und will sie öffnen. Nichts. Zuerst vermute ich, dass ich zu schwach dazu bin, aber das ist es nicht. Sie ist verriegelt.
Am Steuer sitzt ein braun gebrannter Mann mit einem weißen Vollbart und tiefen Falten im Gesicht. »Finger weg von meinem Truck. Was soll denn das?«
Ich sehe bestimmt schrecklich aus. Wie eine Wahnsinnige.
»Bitte«, stoße ich noch einmal hervor. »Helfen Sie mir.«
Der Mann, der mich beinahe überfahren hätte, ist immer noch geschockt, immer noch verwirrt, aber er sieht mir meine Verzweiflung deutlich an. Er kann die Panik in meiner Stimme hören. Er zögert nur einen Moment, dann beugt er sich in meine Richtung und entriegelt die Tür. Ich mache sie mühsam auf, klettere auf den Sitz und ziehe sie mit letzter Kraft wieder ins Schloss.
»Was ist denn los?«, will der Mann wissen. »Wer sind Sie?«
»Fahren.« Mehr bringe ich nicht heraus.
Er schüttelt den Kopf. »Das hab ich ja gemacht, bevor Sie versucht haben, sich mit meinem Wagen umzubringen.«
»Bitte«, flehe ich ihn an. »Bitte.«
Wortlos legt er die Stirn in Falten und fährt los.
Als Messer aus dem Wald hervorbricht und hinter uns auf die Straße tritt, sind wir schon ein ganzes Stück weiter.
Ich drehe mich um, will sehen, was er jetzt macht, ob er seine Pistole zieht, aber schon Sekunden später ist er nur noch ein dunkler Fleck in der Ferne und kaum mehr zu erkennen.
Schwer atmend und vollkommen erschüttert sacke ich auf meinem Sitz zusammen. Erst jetzt bemerke ich den kleinen Hund im Fußraum. Eine struppige Promenadenmischung mit dünnen Beinchen und einem Kugelbauch. Er fletscht die Zähne und knurrt mich an.
»Merlin müssen Sie gar nicht beachten«, sagt der Mann. »Der kann niemanden leiden.«
Ich wurde als Kind einmal gebissen und habe seitdem Angst vor Hunden, aber in diesem Moment habe ich das Gefühl, als sei ich von meiner Angst kuriert. Merlins wütendes Knurren, seine gefletschten Zähne lassen mich vollkommen kalt. Es kommt immer auf die Perspektive an, hätte mein Dad jetzt gesagt.
Wir schweigen. Das ist für den Fahrer vermutlich unangenehm, aber für mich genau das Richtige. Ich werde ruhiger. Mein Puls verlangsamt sich allmählich. Die Anspannung, die mich seit einer gefühlten Ewigkeit im Griff hatte, fällt endlich von mir ab.
Der Fahrer wirft mir immer wieder Blicke zu. Er zieht die buschigen weißen Augenbrauen zusammen. Ich nehme ihm sein Unwohlsein, seine Neugier nicht übel. Bis jetzt hat er keine Ahnung, wer ich bin oder weshalb ich in seinem Pick-up sitze.
Irgendwann sagt er: »Wieso versuchen Sie nicht, mir zu erklären, was passiert ist? Vielleicht können wir das Ganze ja gemeinsam wieder geradebiegen. Wie finden Sie das?«
Ich finde, das ist eine tolle Idee.
Ich versuche, ihm die ganze Geschichte zu schildern, aber mehr als Tränen bringe ich nicht zustande.
8.57 Uhr
Der alte Mann heißt Trevor und wartet sehr geduldig, während ich all der Angst und dem Stress, die sich in mir aufgestaut haben, freien Lauf lasse. Selbst an meinen Tiefpunkten – von denen es eine Menge gegeben hat – habe ich nur selten geweint, weil ich nicht zu emotional, zu instabil wirken wollte. Aber das hole ich jetzt alles nach. Pausenlos strömen mir die Tränen aus den Augen, ununterbrochen quillt mir Schleim aus der Nase. Irgendwann kramt Trevor ein Taschentuch aus seiner Jeans und reicht es mir. An jedem anderen Punkt in meinem bisherigen Leben hätte ich bei der bloßen Vorstellung, das Taschentuch eines anderen Menschen zu benützen, die Nase gerümpft, aber jetzt denke ich keine Sekunde lang darüber nach. Ich nehme das Taschentuch, um die Sturzbäche, die die Ärmel meines Yoga-Trikots nicht stoppen können, wenigstens einigermaßen einzudämmen.
Ich habe das Gefühl, dass es ziemlich lange dauert, bis ich mein Schluchzen so weit unter Kontrolle habe, dass ich wieder sprechen kann. Ich berichte ihm von Wilks und Messer, von Carlsons Anruf und wie ich um mein Leben gelaufen bin. Trevor ist ein verantwortungsbewusster Fahrer und hält den Blick die meiste Zeit auf die Straße gerichtet. Aber die wenigen Male, wo er den Kopf in meine Richtung dreht, sieht er mich mit ungläubigem Gesichtsausdruck an. Ich kann es ihm nicht verübeln. Allein, dass ich das alles laut ausspreche, erscheint mir verrückt. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich würde es mir vermutlich auch nicht glauben.
Dabei erzähle ich ihm gar nicht alles. Dass mein Mann anscheinend für ein Kartell Geldwäsche betrieben hat, das behalte ich für mich. Das braucht er nicht zu wissen, und außerdem weigere ich mich, das zu glauben, solange ich keine Beweise habe. Davon abgesehen hat Trevor mir das Leben gerettet und will mir helfen. Ich möchte ihn nicht in Gefahr bringen, indem ich ihm etwas verrate, was später als Bumerang zu ihm zurückkehren könnte. Das ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann.
Er sagt: »Das klingt ja nach einem aufregenden Vormittag.«
Ich nicke und wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Das Taschentuch ist mittlerweile klatschnass.
Ich räuspere mich. »Damit rechnet man ja wirklich nicht, wenn man gerade eine Scheibe Toast mit Avocado gegessen hat.«
Trevor sieht mich an. »Mit was?«
»Das ist ein Obst. Es ist …« Ich winke ab. »Ist nicht wichtig.«
Merlin knurrt mich immer noch an. Ich glaube, er hat, seit ich eingestiegen bin, keine Sekunde damit aufgehört.
»Wenn er nur den Hauch einer Chance kriegt, dann macht er ununterbrochen weiter.« Trevor schüttelt den Kopf. »Irgendwann wird er müde und schläft ein, träumt davon, wie er Sie anknurrt, wacht auf, und dann geht das Ganze wieder von vorne los.«
»Jedenfalls zeigt er Einsatz«, sage ich. »Das muss man ihm lassen.«
»So kann man es auch sehen. Er mag eben keine Menschen.«
»Ganz generell? Und was ist mit Ihnen?«
Trevor überlegt. »Ich würde sagen, er toleriert mich bestenfalls. Aber nur, weil ich ihm zu fressen gebe.« Er lächelt mich an, sodass ich seine schiefen Zähne und die Lücken dazwischen deutlich erkennen kann. Sein Lächeln ist listig und warmherzig zugleich. Er sagt: »Und nun? Wo soll ich Sie hinbringen?«
Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. »Ich muss zur Polizei. Ich muss mit Rusty reden.«
»Sie ist eine patente Frau«, sagt Trevor in anerkennendem Tonfall.
»Könnten Sie mich vielleicht in die Stadt bringen, zur Polizeiwache? Ich weiß, das ist ziemlich viel verlangt, und ich bin Ihnen bestimmt nicht böse, wenn Sie …«
»Natürlich, das mache ich«, unterbricht er mich. »Auch wenn das ganze Land immer mehr im Chaos versinkt, aber ein paar Menschen mit Anstand gibt es noch.«
»Danke. Vielen, vielen Dank.«
»Der Tag, an dem ich eine Dame in Not im Stich lasse, das ist der Tag, an dem ich ein gottverdammter Sozialist geworden bin.«
Ich warte auf ein Lächeln, auf ein Zeichen, dass das ein Scherz gewesen ist, aber es bleibt aus.
»Wir nehmen die Nebenstraßen«, fährt Trevor fort. »Im Moment fahren wir ja sowieso in die falsche Richtung. Wir schlagen einen schönen weiten Bogen, und dann kommen wir von der anderen Seite her in die Stadt. Falls diese Leute Ihnen also auflauern, weil sie darauf spekulieren, dass Sie dort auftauchen wollen – was keine schlechte Idee wäre, da Sie ja genau das vorhaben –, dann schleichen wir uns heimlich von hinten an. Dann sehen die uns nicht einmal kommen.«
Seine Äuglein funkeln. Er hat Spaß an seiner Idee, genau wie ich auch.
»Sehr gut«, sage ich. »Aber wir könnten die Polizei natürlich auch einfach anrufen, wenn Sie ein Handy hätten, so wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.«
Das Funkeln in seinem Blick wird zu einem wütenden Blitzen.
»Hab noch nie so ein Mobildingsbums besessen, und dabei wird es auch bleiben. Wenn Sie wollen, dass der Staat über jeden einzelnen Augenblick Ihres Lebens Bescheid weiß, dann bitte sehr. Aber ich, ich möchte meine altmodische Freiheit behalten. Wir haben uns als Zivilisation doch ganz gut geschlagen, schon bevor diese ganzen Kommunikationsdinger erfunden worden sind, oder etwa nicht? Ihr modernen Leute, ihr beherrscht eure Technologie nicht, ihr werdet von ihr beherrscht. Eure Handys sagen euch, wann ihr aufwachen sollt, wann ihr schlafen gehen sollt, ihr müsst neunzig Mal am Tag in eurem Bookface-Konto nachsehen, habt die ganze Zeit einen GPS-Sender in der Hosentasche, damit auch jeder weiß, wo ihr gerade seid, und dann bezahlt ihr für den ganzen Spaß auch noch Geld. Aber das Beste ist, dass ihr glaubt, ihr wärt die Schlauen, und ich wäre verrückt, weil ich um das alles einen großen Bogen mache.« Er schüttelt den Kopf. »Ist doch völliger Humbug.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll.
Trevor ist noch nicht fertig. »Aber was weiß ich schon? Ich bin ja bloß ein alter Mann in einer neuen Welt, die ich nicht besonders mag und die mich nicht besonders mag. Also, scheiß auf die Welt.« Er streckt die Hand aus und zerzaust Merlin das Fell. »Hab ich nicht recht, Kumpel?«
Merlin antwortet mit einem Knurren.
Trevor hält sich an seinen Plan und nimmt mich mit auf eine Mini-Tour durch die unmittelbare Umgebung. Ich lerne Nebenstraßen und Feldwege kennen, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt habe. So schlagen wir einen Halbkreis um das Städtchen. Je näher wir kommen, desto nervöser werde ich. Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass Wilks und Messer uns auf die Schliche gekommen sind, dass sie sich irgendwo auf die Lauer gelegt haben, um uns abzupassen. Schließlich hat Messer den Pick-up gesehen.
Eine ganze Weile rollen wir schweigend dahin. Ich bin so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte. Ich muss ununterbrochen dagegen ankämpfen, aber gleichzeitig ist mein Geist hellwach und wälzt alle möglichen unbeantworteten Fragen. Das Entsetzen lässt mich nicht mehr los, ich kann ihm nicht entkommen. Noch nie im Leben habe ich so eine schreckliche Angst empfunden. Aufgrund meiner Angststörung mache ich mir permanent Sorgen, bin immer angespannt, ja, manchmal habe ich sogar Angst um mein Leben, aber noch nie zuvor habe ich geglaubt, dass mich jemand ermorden will. Das Gefühl ist so übermächtig, so archaisch, aber ich habe es bis jetzt noch nie empfunden. Mein bisheriges Leben ist so behütet, so ereignislos verlaufen, dass ich auf diese Erfahrung, auf diese Empfindungen nicht vorbereitet bin. Ich spüre eine Erschöpfung, aber nicht nur körperlich, sondern auch geistig, nicht nur geistig, sondern auch emotional. Ich spüre …
»Anhalten.«
Trevor sieht mich an. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich …«
»Anhalten!«
Mehr Überzeugungsarbeit ist nicht nötig.
Ich habe die Tür bereits aufgestoßen, bevor die Räder zum Stillstand kommen, und übergebe mich mitten auf die Straße.
Mehrfach und ziemlich brutal erbreche ich meinen Mageninhalt nach draußen, speie und würge so lange, bis ich innerlich vollkommen leer bin, bis Spucke- und Schnodderfäden von meiner Nasenspitze zu meinen Lippen führen, bis mir die Tränen in den Augen stehen und meine Wangen klatschnass sind, bis sich auf dem Asphalt eine große, helle Pfütze gebildet hat.
Es geht mir viel besser.
Trevor beugt sich zu mir herüber und mustert mich gründlich. Geschwächt recke ich den Daumen in die Höhe, zum Zeichen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Er späht an mir vorbei und knurrt.
»Wenn Avocado rückwärts so aussieht, dann bin ich sehr froh, dass ich es noch nie probiert habe.«
9.14 Uhr
Trevor sagt: »ETA acht Minuten.«
Ich weiß nicht, was das heißt, aber eine Minute später sagt er: »ETA sieben Minuten.« Jetzt kann ich die Abkürzung entschlüsseln: Estimated Time of Arrival, die voraussichtliche Ankunftszeit. »Wir sind gleich da«, hätte es zwar auch getan, aber ich halte den Mund und bleibe, wo ich bin, halb im Fußraum und halb auf dem Beifahrersitz. Ich lasse ihn machen und bin so dankbar für seine Hilfe, dass er mir schlagartig zum liebsten Menschen auf der ganzen Welt geworden ist.
Es war meine Idee gewesen, ziemlich weit nach unten zu rutschen, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es die richtige war. Denn jetzt merke ich, dass meine Sicht sehr eingeschränkt ist, und das gefällt mir auch nicht. Bis auf die oberen Stockwerke der höheren Häuser am Straßenrand kann ich nichts erkennen. Ich kann nicht geradeaus und nicht auf die Bürgersteige sehen. Was im Gegenzug natürlich bedeutet, dass alle, die da draußen sind – insbesondere Wilks und Messer – mich auch nicht sehen können. Ich habe mich versteckt – und deshalb bin ich blind.
Dadurch komme ich auch Merlin näher, als wir beide uns das wünschen. Sein anhaltendes Knurren hat eine tiefere, aggressivere Note bekommen. Ich bin in seine Privatsphäre eingedrungen, und es überrascht mich nicht, dass ihm das ganz und gar nicht passt.
Ich weiß genau, wie du dich fühlst, Kumpel. Weil heute Morgen nämlich zwei Kartell-Killer in meine Privatsphäre eingedrungen sind.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich machen wollen?«, erkundigt sich Trevor.
»Was habe ich denn für eine Wahl? Ich muss zur Polizei gehen. Ich brauche Hilfe.«
Trevor zuckt mit den Schultern. »Meine Hütte steht ein ganzes Stück abseits, oben in der Schlucht. Da kommt niemand auch nur in die Nähe, ohne dass ich es mitkriege. Da wären Sie in Sicherheit.«
»Das ist sehr lieb von Ihnen, Trevor. Vielen Dank. Aber was dann? Ich kann mich ja nicht ewig da oben verstecken, stimmt’s? Ich muss Leo erreichen, bevor er in sein Flugzeug steigt, vorausgesetzt, er hat das nicht schon getan, und dann muss ich noch mal mit Carlson reden und rauskriegen, was hier eigentlich los ist, wieso das Kartell hinter Leo her ist. Ohne Telefon bin ich hilflos. Noch schlimmer, Leo ist hilflos. Das ist ein Fall für die Polizei, ganz egal, was noch passiert oder auch nicht. Leo schwebt in Gefahr, genau wie ich. Und Rusty weiß bestimmt, was zu tun ist. Oder nicht?«
Trevor ist nicht völlig überzeugt.
»Sie könnten sich ein bisschen ausruhen«, sagt er. »Sich ohne Druck den nächsten Schritt überlegen. Bis jetzt war Ihr Tag ja die Hölle, wie sollen Sie da vernünftig denken können? Und meiner Erfahrung nach sind genau das die Situationen, in denen die Menschen Fehler machen. Können Sie es sich erlauben, einen Fehler zu machen?«
»Leo ist in diesem Moment unterwegs zum Flughafen. Vielleicht ist er schon da, vielleicht ist er kurz davor, in sein Flugzeug nach Europa zu steigen. Ich hoffe es. Ich hoffe, er sitzt sicher und geborgen auf seinem Platz und schwebt durch die Lüfte, weit weg von allem. Aber wenn das nicht so ist, dann muss ich ihn warnen. Oh Gott, vielleicht haben sie ihm ja auch irgendwelche Leute auf den Hals gehetzt. Vielleicht erwarten sie ihn sogar am Flughafen.« Mein Herz rast, und mein Atem geht schneller, als ich mir bildlich vorstelle, wie Leo von Leuten wie Wilks und Messer entführt wird.
»Klingt eher so, als hätte er Sie warnen müssen, finde ich.«
Ich gebe ihm keine Antwort. Ach, Leo, wo bist du da bloß reingeraten? Du hättest es mir sagen müssen. Wir hätten eine Lösung finden können, bevor Attentäter auf unserer Türschwelle aufgetaucht sind.
»ETA fünf Minuten«, sagt Trevor. »Bis jetzt sieht alles gut aus.«
Ich habe ihm den schwarzen SUV beschrieben, sodass er weiß, worauf er achten muss. Ich habe ihm auch Wilks und Messer beschrieben, was mir aber, sehr zu meiner Verblüffung, nicht leichtgefallen ist. Ist Wilks älter als Messer, oder ist es umgekehrt? Tragen sie beide holzkohlegraue Anzüge, oder ist der von Wilks marineblau? Wer von den beiden hatte dunkle Haare und wer blonde?
»Ein Mann und eine Frau in Anzügen«, fasst Trevor zusammen. »Traue keinem Menschen im Anzug.«
Er ist meine Augen. Er hält mich auf dem Laufenden, während wir in Richtung Ortszentrum fahren, aber wenn er spricht, dann nur mit aufeinandergebissenen Zähnen und ohne die Lippen zu bewegen … eine extreme, aber notwendige Vorsichtsmaßnahme. Allmählich legt sich meine Angst. Kein schwarzer SUV, der die Straße blockiert oder im Hinterhalt auf uns wartet. Kein Paar in Anzügen, das unseren Pick-up mit Kugeln durchlöchern will.
Mein Rücken tut schon eine ganze Zeit lang weh, während ich mich immer noch unter dem Fenster im Fußraum zusammenkauere.
»Soll ich Sie direkt vor der Wache rauslassen?«
»Ihrem Tonfall entnehme ich, dass Sie das nicht unbedingt empfehlen würden?«
Er presst beim Sprechen immer noch seine schiefen Zähne aufeinander und gibt für seine Rolle als Bauchredner-Imitator alles, was er hat. Ich muss fast lachen, trotz der widrigen Umstände. »Ist nur so ein Gedanke«, sagt er. »Aber Sie haben ja nicht wahnsinnig viel Auswahl, stimmt’s? Die wissen das. Vielleicht rechnen sie damit, dass Sie zu Rusty wollen. Und dann hatten sie mehr als genug Zeit, um vor Ihnen hier zu sein, oder? Nicht, dass ich ernsthaft davon ausgehe, dass sie vor einer Polizeiwache eine Schießerei anfangen würden, aber meiner Meinung nach tun Sie sich keinen Gefallen, wenn Sie Ihre Gegner unterschätzen.«
»Okay«, sage ich. »Dann halten Sie in der Mitte des Häuserblocks an. Wenn die Luft rein ist, gehe ich den Rest zu Fuß und kann mich noch einmal gründlich umsehen. Ich meine den Häuserblock auf der Rückseite der Wache.«
Er nickt. »Hatte ich sowieso vor.«
Es ist ein ruhiges Örtchen. Beschaulich. Es gibt eine Handvoll kleiner Frühstückspensionen, einladende Cafés und ein paar kleine Tante-Emma-Läden. Weit und breit kein Beton in Sicht. Jedes Haus sieht aus, als sei es seit hundert Jahren unverändert. Jede Straße wird von Bäumen gesäumt. Überall roter Backstein und weiß lackiertes Holz. Viele dekorative Markisen. Die Menschen, die hier wohnen, lieben diesen dörflichen Charme und wollen ihn erhalten.
Der Diner in der Main Street bietet den besten Apfelkuchen im ganzen Bundesstaat an. Das Kino ist, soweit ich weiß, das zweitälteste im ganzen Land. Trotzdem ist es ein typischer Durchreise-Ort, weil eigentlich niemand bewusst hierherkommt, um die pittoreske Schönheit zu genießen. In jede Richtung gibt es berühmtere, touristischere Städtchen. Ortschaften, die richtige Postkartenromantik versprechen. Und das ist uns gerade recht so, herzlichen Dank auch.
Wir nähern uns unserem Ziel, und Trevor fährt jetzt langsamer. Er ist vorsichtig. Er hält permanent Ausschau. Ich hoffe, dass er Wilks und Messer mit ihren Anzügen leicht identifizieren kann. Hier laufen die Leute normalerweise nicht mit Hemd und Krawatte, Halbschuhen und Einreihern herum. Die Wall Street ist zwar nur hundert Kilometer entfernt, aber es könnten genauso gut auch tausend sein.
Er hält in der Straße an, die hinter der Polizeiwache verläuft, direkt vor Earnest’s Gemischtwarenladen. »Da wären wir«, sagt er.
Ich hole einmal tief Luft.
»Keine Eile«, versichert er mir. »Steigen Sie erst aus, wenn Sie so weit sind. Ich habe den ganzen Tag Zeit, wenn es nötig ist.«
Ich rutsche aus meinem Versteck nach oben, spüre jeden meiner erschöpften Muskeln. Alles tut mir weh. Trevor sieht mich leiden.
»Sie haben ja gar keine Schuhe an«, sagt er. »Wieso merke ich das erst jetzt?«
Meine nackten Füße sind von einer dicken Schicht aus Schmutz und geronnenem Blut bedeckt. Die ekligsten Strümpfe der Welt, gewissermaßen.
»Hier, nehmen Sie meine«, sagt er und knüpft seine Schnürsenkel auf. »So können Sie doch nirgendwo hingehen.«
Seine Großzügigkeit rührt mich an, aber … »Sie haben richtige Clownsfüße, Trevor. In den Dingern kann ich unmöglich gehen. Da falle ich bloß hin und schlage mir den Schädel blutig.«
Er hält inne. Schmollt ein wenig.
»Hören Sie«, sage ich. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für das, was Sie für mich getan haben. Sie haben mir das Leben gerettet. Das ist keine Übertreibung. Ich weiß ganz sicher, dass ich jetzt tot wäre, wenn Sie nicht genau zum richtigen Zeitpunkt vorbeigekommen wären.«
Er kann mich nicht anschauen, so verlegen macht ihn mein Lob. Ich lege ihm einen Arm um die Schultern und drücke ihm ein Küsschen auf die Wange. Er wird rot wie eine Ketchupflasche.
»Trevor«, necke ich ihn. »Sie werden ja rot.«
»Gar nicht«, erwidert er hastig. »Das ist bloß der Blutdruck.«
Ich lächele. Er ist süß. »Ich hätte gern Ihre Telefonnummer, aber Sie haben ja keine.«
Er antwortet mit einer Art Knurren.
»Wo steht denn Ihre Hütte?«, frage ich ihn. »Ich bringe Ihnen ein paar von meinen Tomaten vorbei, sobald das alles hier vorüber ist. Die sind köstlich. Und hundert Prozent bio.«
Er schnaubt verächtlich. »Hören Sie mir bloß auf mit diesem Hippie-Blödsinn. Wir haben dieses Land aufgebaut, indem wir unser Essen vernünftig angebaut haben. Wir sind doch nicht über den weiten Ozean hierhergekommen, um …«
»Ihre Adresse, Trevor. Bitte.«
Er gibt sie mir und fügt noch hinzu: »Ich bleibe noch eine Weile hier stehen. Falls Ihnen irgendwas seltsam vorkommt, dann rennen Sie … humpeln Sie wieder zu mir zurück, einverstanden? Das müssen Sie mir versprechen, Jem.«
Ich nicke. »Wird gemacht.« Ich hole tief Luft und stoße die Beifahrertür auf. »Bis bald, Merlin.«
Merlin knurrt.
Ich hole noch einmal Luft. Nur ein paar Meter, dann bin ich in Sicherheit. Dann bin ich bei Rusty.
Ich sage mir, dass ich das schaffen werde.
9.18 Uhr
Jeder normale Mensch will seinen Tag mit einer guten Tasse Kaffee beginnen, und das geht Rusty ganz genauso. Allerdings darf dieser Kaffee nicht aus einer der üblichen Filterkaffeemaschinen stammen. Oh nein, was das angeht, hat Rusty einen sehr viel ausgefeilteren Geschmack, und zwar schon seit ihrer Kindheit. Als ihr Großvater nach dem Ende des Krieges aus Italien zurückgekehrt war, da hatte er, neben tausend Geschichten, auch einen kleinen Kaffeekocher aus Aluminium im Gepäck gehabt. Rusty, die zahlreiche Sommer bei ihm verbrachte, sah jeden Morgen zu, wie er sich Zeit nahm, um die Kaffeebohnen von Hand zu mahlen, bis er genügend feines schwarz-braunes Pulver beisammenhatte. Es wurde, das würde sie im Lauf der Zeit lernen, Espresso genannt.
Ihr Großvater füllte das Pulver in das Kaffeesieb des Kochers und sagte: »Und jetzt kommt das Beste. Wir warten.«
Damals hatte sie den Wert des Wartens noch nicht begriffen. Die kleine Rusty war ein ungeduldiges Kind gewesen, wie die meisten Kinder, und das Ganze hatte sie schon nach wenigen Sekunden gelangweilt. Geduld ist schließlich eine Tugend, die man lernen muss. Aber sie wollte, dass ihr Großvater stolz auf sie war, darum setzte sie sich Morgen für Morgen zu ihm, um den Kaffeekocher zu beobachten.
Wenn das Ding dann endlich anfing zu zischen, grinste der alte Mann, sodass sein schiefer Kiefer, den ein deutscher Gewehrlauf vor langer Zeit entzweigebrochen hatte, deutlich zu erkennen war. Er goss den dampfenden Kaffee aus der Kanne in einen Emaillebecher und nahm laut schlürfend einen ersten Schluck.
»Unübertrefflich«, sagte er glücklich und zufrieden.
Während dieses ersten Mals beobachtete Rusty ihn mit begierigen Blicken und wartete darauf, dass auch sie diese unübertreffliche schwarze Flüssigkeit probieren durfte. Vor Erwartung lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
»Oh nein, junge Dame, das ist nichts für dich.«
Darüber war Rusty nicht erfreut. So viel Geduld hatte sie bewiesen, so hohe Erwartungen gehabt, und das alles für nichts?
»Du bist noch zu jung«, hatte ihr Großvater beharrt.
Tja, sie würde es ihm schon zeigen. Sie hatte ja jeden seiner Handgriffe beobachtet, darum wartete sie, bis er nach draußen gegangen war, um sein Tagwerk zu beginnen. Und dann machte Rusty sich daran, ihm nachzueifern. Sie mahlte die Bohnen, was sehr anstrengend war. Sie musste die Mühle zwischen die Oberschenkel klemmen und mit beiden Händen die Kurbel packen, um sie überhaupt drehen zu können. Doch mit jeder Umdrehung ging es ein bisschen leichter, ein bisschen schneller, so lange, bis sie das gleiche feine Espressopulver hergestellt hatte wie ihr Großvater. Er hatte die Kanne bereits ausgewaschen, also füllte sie Wasser in das Unterteil, gab das Kaffeepulver in den Trichtereinsatz und schraubte die Kanne darauf. Weil sie so klein war, musste sie sich einen Hocker nehmen, um die Kanne auf den Herd stellen zu können.
Dann wartete sie.
Dieses Mal machte es ihr nichts aus. Es wurde ihr nicht langweilig. Sie war aufgeregt und ängstlich und konnte es kaum erwarten, ihre Kreation zu probieren.
Sie hatte in der Küche eine ziemliche Schweinerei veranstaltet – Kaffeebohnen auf dem Fußboden, Kaffeepulver hier und Wasserpfützen dort. Aber sie bemerkte es nicht.
Irgendwann fing die Kanne an zu zischen und verkündete so ihren Erfolg, ihren Sieg.
Großvater hatte ein Tuch benutzt, um die Kanne vom Herd zu nehmen, und sie machte es ihm nach. Als sie vom Hocker hüpfte, tropften ein paar kochend heiße Kaffeespritzer auf den Fußboden und hätten beinahe ihre winzigen rosafarbenen Zehen verbrüht. Das war knapp gewesen, und sie nahm sich fest vor, konzentrierter und vorsichtiger zu sein.
Großvater hatte seinen Emaillebecher mit nach draußen genommen, darum suchte sie sich einen anderen, stellte ihn auf den Küchentisch und füllte ihn bis zum Rand mit Kaffee.
Feuchter Dampf legte sich auf ihr Gesicht, während sie das Ergebnis ihrer Bemühungen betrachtete. Ihre Speicheldrüsen arbeiteten auf Hochtouren, sodass sie die überschüssige Flüssigkeit sogar schlucken musste.
Es war noch zu heiß, um daran zu nippen, das war ihr klar.
Sie wartete.
Aber sie wusste nicht, wie lange, und wurde allmählich ungeduldig. Sie blies auf die schwarze Oberfläche und betrachtete die kleinen Wellen. Noch mehr Dampf stieg auf. Sie nahm den Becher in beide Hände und hielt ihn sich vors Gesicht. Dabei kühlte sie die Flüssigkeit ununterbrochen mit ihrem Atem.
Der Becherrand berührte ihre Unterlippe, sie neigte ihn leicht und nippte an ihrem Kaffee.
Und spuckte ihn wieder aus.
Nicht, weil er zu heiß war, sondern weil er ekelhaft schmeckte.
Vierzig Jahre später lässt sie alles andere stehen.
Und darum fragt sie sich, wieso Wachtmeister Sabrowski eine Tasse mit geschmacklosem, seelenlosem Filterkaffee auf ihren Schreibtisch gestellt hat. Sie nimmt einen Schluck, verzieht das Gesicht und ruft Sabrowski zu sich, um ihn mit einem Kugelschreiber zu bewerfen.
Immerhin ist er schnell genug, um sich zu ducken.
»Willst du mich eigentlich vergiften, Herr Wachtmeister?«
»Chef?«
»Willst du, dass ich leide?«
»Chef?«
»Hasst du mich denn wirklich so sehr?«
»Chef?«
Mit beiden Händen deutet sie auf den Becher voll reinster Beleidigung auf ihrem Schreibtisch.
Sabrowski braucht ein paar Sekunden, bis er verstanden hat. »Tut mir leid, Chef. Da hab ich wohl Zeke aus Versehen deinen gegeben und dir seinen.«
Rusty stemmt ihre fleischigen Pranken auf die Tischplatte und beugt sich nach vorne. »Dann solltest du dich lieber beeilen und diesen Irrtum korrigieren, bevor Zeke auf einen Geschmack kommt, der seinen Dienstgrad bei Weitem übersteigt.«
»Wie jetzt?«
Sie greift nach dem nächsten Kugelschreiber und richtet ihn drohend in Sabrowskis Richtung. »Bring mir meinen Kaffee, du Vollpfosten!«
Sabrowski zuckt erschrocken zurück, als könnte der Kugelschreiber ihm tatsächlich etwas anhaben, und greift nach der Türklinke.
»Und nimm diese Abscheulichkeit hier mit«, befiehlt sie ihm. »Der bloße Anblick ist eine schwere Beleidigung.«
Sabrowski gehorcht. Zwei Minuten später ist er wieder da.
»Warum kommst du mit leeren Händen wieder, Herr Wachtmeister?«, will Rusty wissen. »Mein Durst ist mittlerweile unerträglich geworden und mein Geduldsfaden dünner als deine Beine.«
Sabrowski erwidert: »Tut mir leid, Rust, aber ich bin aufgehalten worden.«
»Und was hat das jetzt wieder zu bedeuten?«
»Da sind zwei Leute, die dich sprechen wollen«, fügt Sabrowski erläuternd hinzu. »Vom FBI.«
»Für solche Scherze ist es noch zu früh, Herr Wachtmeister. Wenn ich jetzt aufstehe und da draußen Zeke mit einem geliehenen Anzug und Schweineschmalz im Haar erwische, der so tut, als hätte er die Pubertät endlich hinter sich, dann wird es ungemütlich. Solche Dummheiten sparen wir uns für den Nachmittag auf, und eine unterkoffeinierte Vorgesetzte hat darauf überhaupt keine Lust.«
Sabrowski beteuert seine Ernsthaftigkeit. »Wenn ich es dir sage, Rust. Da draußen stehen zwei sehr verkniffene Gestalten mit Dienstmarken, die sofort mit dir sprechen wollen.«
Rusty ist immer noch nicht bereit, das zu glauben. In all ihren Jahren als Polizeidienststellenleiterin hat sie noch nicht einmal einen Anruf vom FBI bekommen, geschweige denn Besuch von zwei leibhaftigen Agenten.
»Die sehen echt verkniffen aus, Chef«, fährt Sabrowski fort. »Soll ich ihnen sagen, sie sollen am Nachmittag wiederkommen, wenn du mehr Lust auf ihre Dummheiten hast?«
»Hör endlich auf, in jedem wachen Moment den Idioten zu spielen, Sabrowski.« Rusty steht auf. »Mach ab und zu mal eine Pause. Probier’s aus. Vielleicht gefällt es dir ja.«
Sie umrundet ihren Schreibtisch und sieht erneut nach, ob ihr Gürtel eng geschnallt und das Hemd in die Hose gestopft ist.
Vor ihrem Büro stehen eine Frau und ein Mann in Anzügen. Sie fallen eindeutig aus dem Rahmen und blicken bereits ungeduldig in ihre Richtung. Sabrowski hatte recht: Das sind zwei sehr verkniffene Menschen.
»Ich bin die Leiterin der Dienststelle«, sagt Rusty und geht auf die beiden zu.
Die Frau ergreift das Wort: »Ich bin Agentin Wilks, und das ist Special Agent Messer. Wir würden uns gerne mit Ihnen über eine Bewohnerin dieses Orts unterhalten.«
»Und um wen geht es? Wer in unserem friedlichen, kleinen Städtchen hat es geschafft, die Aufmerksamkeit der wundervollen, herzensguten Menschen beim FBI auf sich zu lenken?«
»Eine gewisse Jemima Talhoffer.«
Rusty spitzt die Lippen. »Yoga-Jem? Die ist doch stiller als eine stumme Maus. Was hat sie denn verbrochen?«
Wilks wirft Zeke und Sabrowski einen Blick zu, während die beiden zentimeterweise näher rücken, um kein Wort dieser noch nie da gewesenen Konversation zu verpassen.
Sie sagt: »Vielleicht sollten wir die Angelegenheit in einer etwas privateren Atmosphäre fortsetzen?«
»Na, klar«, erwidert Rusty. »Wollen Sie vielleicht etwas zu trinken?«
»Ich nicht«, sagt Wilks.
Messer schüttelt den Kopf.
Rusty macht einen Schritt zur Seite und bittet die beiden FBI-Agenten mit einer Handbewegung in ihr Büro.
»Da entlang, bitte. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Sie folgt den beiden, verharrt aber noch einmal kurz, um Sabrowski mit stummen Lippen eine Anweisung zu geben: Mein Kaffee, sofort.
9.23 Uhr
Im Sommer ist das Städtchen wunderschön, und jetzt, im Herbst, behält es diese Schönheit bei, ergänzt um eine zusätzliche Nuance, eine gewisse reife Fülle, die sich in den rostroten Blättern zeigt, die auf den Bürgersteigen und Dächern liegen. Es ist still, weil es hier immer still ist. Ich brauche diese Stille. Ohne sie wäre ich niemals in der Lage, hier einzukaufen. In letzter Zeit mag ich, abgesehen von vielen anderen Dingen, auch keinen Krach mehr. Aber jetzt, an diesem Morgen, mag ich die Stille nicht. Durch den fehlenden Lärm fühlt sich die Stadt leer und bedrohlich an. Es sind nur wenige Meter bis zur Polizeiwache, aber ich werde das Gefühl, beobachtet zu werden, einfach nicht los. Ich bin mir der vielen Fenster ringsumher überdeutlich bewusst – auf meiner Straßenseite, auf der gegenüberliegenden Seite, im Erdgeschoss und in den höheren Stockwerken. Und hinter jedem dieser Fenster könnte jemand stehen. Sie könnten mich sehen, obwohl ich sie nicht sehen kann.
Ich komme mir vor, als wäre die ganze Stadt mein Feind.
Ich bin paranoid, ich weiß, aber angesichts dessen, was passiert ist, habe ich auch jedes Recht dazu. Oder etwa nicht?
Reiß dich zusammen, Jem. Du bist gleich da. Geh einfach in die Wache.
Da drin bist du in Sicherheit. Da drin können Wilks und Messer dir nichts anhaben.
Ohne die aufputschende Wirkung des Adrenalins bereitet mir jeder Schritt Schmerzen. Ich hinke mehr, als dass ich gehe. Allmählich spüre ich jeden einzelnen Kratzer, jede Schnittwunde an meinen Fußsohlen, und davon habe ich eine Menge. Die Verfolgungsjagd durch den Wald hat mehr Schaden angerichtet, als ich gedacht hatte.
Da sehe ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster. Mannomann … als würde ich direkt aus dem Dschungel kommen, nachdem ich zehn Jahre lang dort umhergeirrt bin. Meine Haare stehen in alle Richtungen ab, meine Kleider sind mit Schmutz und Blut und Gott weiß was beschmiert … es ist beinahe zum Lachen. Vorhin habe ich mir noch Sorgen gemacht, dass ich nach dem Yoga vielleicht nach Schweiß rieche, aber jetzt … jetzt stinke ich mit Sicherheit zum Himmel.
Das ist deine kleinste Sorge, Jem.
Um ehrlich zu sein, es macht mir überhaupt nichts aus. Nicht einen Hauch. Schon komisch, wie oft wir uns über unser äußeres Erscheinungsbild Gedanken machen, aber wenn es wirklich hart auf hart geht, dann spielt das überhaupt keine Rolle mehr.
Ich nähere mich der Polizeiwache. Es ist ein niedriges, rechteckiges Gebäude. Auf der Rückseite gibt es keinen Hinweis darauf, welchem Zweck das Gebäude dient, und wer es nicht weiß, der könnte alles Mögliche darin vermuten: Büros, eine Bank, womöglich sogar einen Gottesdienstsaal.
Ich drehe mich um und blicke zu Trevor. Ich weiß gar nicht genau, wieso, was ich mir davon erhoffe. Eine Vergewisserung vielleicht. Ich will einfach nur wissen, dass er noch da ist.
Ist er. Er nickt mir bedächtig zu, und das reicht mir schon. Ich drehe mich wieder um und humpele den Rest des Weges bis zur Straßenecke. Ich gehe um die Wache herum, weil es keinen öffentlich zugänglichen Hintereingang gibt.
Jetzt kann ich Trevor nicht mehr sehen, und das ist nicht gut für meine Nerven, aber ich bin der Rettung so nahe, dass ich weiterhumpele und die Vorderseite des Gebäudes erreiche.
Auf dem Parkplatz steht ein schwarzer Explorer.
Ich zögere keine Sekunde, sondern trete sofort den Rückzug an. Ich sehe weder Wilks noch Messer, aber sie müssen im Gebäude oder ganz in der Nähe sein.
Hastig kehre ich zu Trevor zurück, der mich den Bürgersteig entlanghumpeln sieht und sofort Gas gibt, um mir jeden weiteren Meter zu ersparen.
»Was ist denn los?«, will er wissen, während ich die Beifahrertür aufreiße und in die Kabine klettere.
»Sie sind hier«, stoße ich atemlos und in heller Panik hervor. »Wilks und Messer.«
»Vor der Wache?«
»Ich habe ihr Auto gesehen. Das steht da. Sie sind vielleicht drin. Oh Gott, was soll ich denn jetzt machen?«
Trevor ist verwirrt. »Sie glauben, dass die beiden auf der Polizeiwache sind?«
Ich nicke. »Ja. Ja, genau. Ihr SUV steht auf dem Parkplatz, also was sonst?« Ich schüttele den Kopf, bin wütend auf mich selbst. »Wir haben zu lange gebraucht. Wir haben ihnen zu viel Zeit gelassen. Sie müssen dahintergekommen sein, was wir vorhaben. Was soll ich jetzt bloß machen?«
Trevor sieht immer noch ziemlich verwirrt aus. »Die Kartellleute sind auf der Polizeiwache?«
»Ja« , fauche ich ihn an. So langsam verliere ich die Geduld. »Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Sie waren eben schneller.«
Trevor versinkt in nachdenkliches Schweigen und spitzt die Lippen. Seine grauen Augen sehen mich fragend an.
Meine Empörung legt sich langsam, und jetzt bin auch ich verwirrt.
Ich frage: »Warum sind die auf der Wache?«
»Da bin ich überfragt«, sagt Trevor. »Also, ich weiß natürlich nicht allzu viel über Fälschungen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Drogendealer in der Lage sind, FBI-Dienstmarken so echt nachzumachen, dass die Polizei sich davon ins Bockshorn jagen lässt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Leute nicht nur für das Kartell arbeiten? Dass es vielleicht korrupte Agenten sind?«
Er zuckt mit den Schultern. »Kann schon sein, aber das wollte ich damit eigentlich gar nicht sagen.«
Ich weiß, was er sagen wollte, und verstumme. Für einen kurzen Moment schlage ich die Hände vors Gesicht.
»Bitte, Trevor, sagen Sie nicht, dass ich vor echten FBI-Agenten davongelaufen bin. Oh Gott, bitte sagen Sie das nicht. Das kann doch nicht wahr sein, oder?«
Trevor stößt einen mitfühlenden Seufzer aus.
Dann sagt er: »Ich glaube, Sie müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass Sie die ganze Zeit auf dem falschen Dampfer waren. Weil, selbst wenn zwei üble Vollstrecker eines Verbrecherkartells sich so gute Fälschungen besorgen könnten, dass sie Rusty austricksen können, bleibt die Frage, ob sie das Risiko wirklich eingehen würden. Würden sie tatsächlich in die Höhle des Löwen marschieren und versuchen, den Löwen zu täuschen, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre?«
Ich kann ihm nicht antworten. Meine schmerzenden Füße habe ich vollkommen vergessen, weil ich mich bei jedem weisen, vernünftigen Wort aus Trevors Mund noch ein bisschen schlechter fühle.
»Aber Carlson«, sage ich schließlich. »Er … er hat gesagt, dass ich in Gefahr bin. Dass die beiden gar nicht für das FBI arbeiten. Das hat er gesagt, ich schwöre. Dass er der einzige Agent ist, der mit dem Fall befasst ist, der über Leo Bescheid weiß. Ich habe mich nicht verhört, Trevor. Ich denke mir das nicht aus.«
»Das glaube ich Ihnen«, erwidert Trevor mit sanfter Stimme. »Ich bin mir sicher, dass er genau das gesagt hat.«
Ich weiß, was Trevor als Nächstes sagen wird. »Aber woher weiß ich, dass Carlson mir die Wahrheit gesagt hat?«
Trevor zuckt mit den Schultern.
»Oh nein«, hauche ich. »Oh, Jem, du dummes, dummes Ding.«
»Machen Sie sich keine allzu großen Vorwürfe«, sagt Trevor. »Man kann immer nur das tun, was man im Augenblick für richtig hält. Und Augenblicke ändern sich nun mal.«
»Danke für Ihre aufmunternden Worte, Trevor. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber reden wir nicht um den heißen Brei herum: Ich habe Mist gebaut, und zwar Riesenmist. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich dachte, ich würde um mein Leben laufen, dabei bin ich vor dem verdammten FBI davongelaufen.«
»Das können Sie nicht mit Sicherheit sagen.«
»Oh doch«, fauche ich ihn an. »Und Sie auch!« Ich stoße die Beifahrertür auf. »Ich muss das wieder in Ordnung bringen, bevor sie im ganzen Land nach mir fahnden. Ach, Trevor, vielleicht haben Sie die ganze Zeit eine gesuchte Person bei sich versteckt. Vielleicht haben Sie sich strafbar gemacht.«
»Wir sollten jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
Ich schüttele den Kopf. »Genau das habe ich aber getan.« Ich steige aus. »Ich habe den schlechtesten aller voreiligen Schlüsse gezogen, und zwar nur, weil ich einen Anruf von einem wildfremden Mann bekommen habe. Ich habe ja gewusst, dass ich verrückt bin, aber so verrückt? Das hätte ich nicht gedacht. Fahren Sie nach Hause, Trevor. Nehmen Sie Merlin mit und lachen Sie über mich. Das werde ich auch irgendwann machen, sobald ich die Demütigung überwunden habe und wieder einigermaßen normal gehen kann. Aber jetzt noch nicht, und es wird wohl noch eine ganze Weile dauern.«
Trevor beugt sich über den Sitz, etwas näher zu mir. »Soll ich Sie vielleicht einmal um den Block fahren und vorne absetzen?«
»Nein, danke. Sie haben schon mehr als genug für mich getan. Ich will nicht noch mehr von Ihrer Zeit verschwenden. Und ich muss jetzt erst mal allein sein, für ein paar Augenblicke wenigstens. Ich muss meine Gedanken sortieren, bevor ich da reingehe.«
Seine buschigen Augenbrauen heben sich. »Wie Sie wollen, Jem. Sie wissen am besten, was gut ist für Sie. Und wegen meiner Zeit brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Es war in jedem Fall ein interessanter Vormittag.«
Er lächelt mir zu. Ich kann nicht zurücklächeln.
»Bis demnächst«, sage ich und mache mich auf den Weg, um mein Urteil entgegenzunehmen.
Ich komme nur sehr langsam voran. Ich schlurfe, aber nicht, weil mir die Füße wehtun, sondern weil es mir so peinlich ist, weil ich mich so sehr schäme, dass ich am liebsten gar nicht ankommen möchte. Im Rückblick kann ich gar nicht glauben, dass ich jemals auf Carlson gehört habe, wer immer er sein mag. Ich versuche, mich zu erinnern, was er gesagt hat, was ich gesagt habe, aber es ist alles sehr verschwommen und durcheinander. Er muss sich sehr überzeugend angehört haben. Ich habe jedenfalls keinen Augenblick an seiner Echtheit gezweifelt. Vielleicht lasse ich mich ja leicht verführen. Vielleicht bin ich zu leichtgläubig, zu passiv, mache mir zu wenig eigene Gedanken.
War ich schon immer so?
Nein, auf keinen Fall. Früher habe ich mich nie unvollständig gefühlt. Früher habe ich mich nie gehasst.
Ich drehe mich um und sehe, dass Trevor immer noch an derselben Stelle steht, dass er immer noch wartet. Ein unablässiger Bewacher.
Ich stemme die Hände in die Hüften.
Er macht eine fragende Handbewegung, will wissen, was ich da mache.
Los , fordere ich ihn mit stummen Lippen auf.
Er zieht die Stirn kraus und schüttelt den Kopf.
Ich zucke trotzig mit den Schultern. Wenn er nicht wegfährt, dann gehe ich eben auch nicht weiter.
Na gut , entgegnet er ebenfalls stumm. Dann noch etwas, was ich nicht verstehe. Vermutlich geht es in Richtung Wie Sie wollen , wenn auch eine Spur weniger höflich.
Er fährt los und rollt an mir vorbei, nickt mir zu, und ich nicke zurück.
Dann ist er weg. Ich nehme an, dass Merlin jetzt wenigstens nicht mehr knurrt.
Ich gehe auf die Wache zu und seufze, schüttele den Kopf angesichts meiner überhasteten Reaktion, meiner miserablen Urteilsfähigkeit. Was ist bloß in mich gefahren?
Es wird Zeit, das richtigzustellen. Zeit herauszufinden, was eigentlich wirklich los ist.
Als ich näher komme, sehe ich den großen SUV auf dem Parkplatz und Wilks danebenstehen. Sie telefoniert. Sie ist zu weit entfernt, um ihre Worte zu verstehen, und bis jetzt hat sie noch nicht in meine Richtung geblickt, darum weiß sie nicht, dass ich da bin. Es ist noch keine Stunde her, dass ich Todesangst vor ihr hatte, und jetzt kann ich nicht einmal mehr verstehen, wieso. Sie sieht absolut korrekt aus, kraftvoll und durchsetzungsstark. Nichts an ihr deutet darauf hin, dass sie eine Auftragsmörderin für ein Drogenkartell sein könnte. Sie sieht, oh Wunder, aus wie eine FBI-Agentin.
Oh Jem, warte bloß, bis Leo davon erfährt.
Leo, der Verbrecher, der für ein Kartell Geld wäscht. Kann das denn stimmen? Selbst wenn das, was Wilks mir vorhin erzählt hat, stimmt, wenn er gezwungen wird, das zu tun … ich kann es trotzdem nicht glauben. Wieso weiß ich denn nichts darüber? Wie konnte er so etwas vor mir geheim halten?
Vermutlich werde ich schon in wenigen Minuten mehr darüber erfahren, aber erst nach einer gepfefferten Gardinenpredigt wegen all dem, was vorhin passiert ist. Ich hoffe bloß, dass Messer nach dieser Verfolgungsjagd keinen Herzinfarkt erlitten hat. Er schleppt ja eine ganze Menge überflüssige Pfunde mit sich herum. Wahrscheinlich hat er noch nie viel Zeit im Fitnessstudio verbracht.
Gerade, als ich Wilks ansprechen will, höre ich hinter mir ein Auto. Ich drehe mich um und rechne fest damit, dass Trevor noch einmal zurückgekommen ist. Doch stattdessen sehe ich eine unauffällige graue Limousine heranrauschen und neben mir anhalten.
Das Seitenfenster ist bereits unten, und der Mann am Steuer sieht mich an.
»Ich bin Carlson«, sagt er. »Kommen Sie mit. Jetzt sofort.«
9.31 Uhr
Nach all den verblüffenden Wendungen des heutigen Vormittags dürfte mich diese nächste eigentlich nicht überraschen. Carlson sieht aus wie Ende vierzig. Er ist Afroamerikaner. Seine kurz geschorenen dunklen Locken sind schon ziemlich ausgedünnt, und trotz der frühen Stunde ist der Bartschatten auf seinen Wangen nicht zu übersehen. Er trägt einen Anzug, ein weißes Hemd und Krawatte. In vielerlei Hinsicht ähnelt er Wilks und Messer. Oberflächlich betrachtet ein FBI-Agent, aber ein zweites Mal lasse ich mich nicht so einfach täuschen.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sage ich und weiche ein Stück zurück. Meine Verblüffung angesichts seines plötzlichen Auftauchens schlägt in Besorgnis um.
»Bitte, steigen Sie ein. Sie müssen mitkommen. Ich muss Sie hier wegschaffen, solange es noch geht. Wir haben keine Zeit. Bitte, Jem, steigen Sie ein!«
»Wo ist Ihre Dienstmarke? Ihr Ausweis?«
»Wir haben wirklich keine Zeit mehr. Sie müssen mir vertrauen.«
»Von wegen. Ich habe Ihnen schon einmal vertraut, und was hat es gebracht? Sehen Sie mich an, ich habe die Hölle durchgemacht.«
»Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, erwidert er. »Und das möchte ich noch einmal tun.«
»Vor wem denn?«
»Vor den beiden, die heute Morgen vor Ihrer Tür gestanden haben, Wilks und Messer. Die suchen Sie immer noch.«
»Meinen Sie etwa die beiden, die jetzt in diesem Augenblick mit der Polizeichefin sprechen?«
Er nickt. »Sehr gefährliche Leute.«
»Tatsächlich? Sehr gefährlich? So gefährlich, dass sie mit der örtlichen Polizeidienststelle zusammenarbeiten. Wie soll das funktionieren? Das würde mich wirklich interessieren. Was treibt zwei Schwerverbrecher, zwei Kartellkiller, dazu, so etwas zu tun?«
»Es ist kompliziert«, erwidert Carlson.
»Das ist doch lächerlich.«
Ich lasse ihn stehen und gehe den Bürgersteig entlang. Carlson lässt nicht locker, sondern fährt im Schritttempo neben mir her.
»Es gibt so vieles, was Sie wissen müssen«, macht er weiter. »Über diese Leute, über Leo, über Sie. Aber das geht hier auf dem Bürgersteig nicht, innerhalb von dreißig Sekunden. Kommen Sie mit. Ich kann all Ihre Fragen beantworten. Und wenn Sie mir nicht glauben, wenn Sie mir nicht vertrauen, bringe ich Sie wieder zurück, und Sie können sich an die Polizei wenden. Aber bitte, wir müssen uns beeilen.«
»Keine Chance.« Ich schüttele den Kopf. »Das ist das Letzte, was ich jetzt muss. Das ganze Chaos hat ja nur dadurch angefangen, dass ich eine überhastete Entscheidung getroffen habe. Den Fehler mache ich nicht noch mal. Jetzt halte ich mich an die Regeln. Wenn Sie mit mir reden wollen, dann kommen Sie mit auf die Wache. Dort können wir dann gemeinsam über alles sprechen. Was sagen Sie dazu?«
Er zögert zunächst, dann sagt er: »Das kann ich nicht.«
»Komisch, aber damit hatte ich fast gerechnet, Agent Carlson … oder wie immer Sie heißen mögen.«
»Ich bin Carlson«, beharrt er. »Und ich versuche, Ihnen zu helfen, Jem. Ich versuche, auch Leo zu helfen. Bitte! Vertrauen Sie mir. Ich möchte doch nichts weiter, als dass Sie am Leben bleiben.«
»Noch vor einer Stunde waren Sie eine Stimme am Telefon, die mir gesagt hat, dass ich um mein Leben laufen soll. Jetzt sind Sie ein Fremder in einem Auto, der mich bittet einzusteigen. Sind Sie verrückt? Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Bitte«, sagt er noch einmal mit flehender Stimme. Es ist beinahe mitleiderregend.
In seinem Blick liegt eine Ernsthaftigkeit, die mich zweifeln lässt. Soll ich ihm vielleicht doch Glauben schenken? Ich halte inne, zögere.
Er hält an und macht mir die Tür auf, deutet mein Zögern als Einverständnis, als Zeichen meiner Bereitschaft, zu einem Fremden ins Auto zu steigen.
»Niemals.« Ich ziehe mich wieder zurück. »Es ist mir egal, wer Sie angeblich sind oder was Sie angeblich wollen. Ich kenne Sie nicht. Ich vertraue Ihnen nicht. Ich glaube Ihnen kein Wort.«
Er versucht es noch einmal. Es ist ein einfacher Appell, nur ein einziges Wort: »Nicht.«
Ich drehe mich um.
Ich lasse ihn stehen.
9.33 Uhr
Wilks steht nicht mehr vor der Tür – sie muss irgendwann während meiner Begegnung mit Carlson wieder in die Wache gegangen sein –, darum überquere ich ungehindert den kleinen Parkplatz. Ich passiere den schwarzen Explorer, der mir vorhin noch so furchterregend erschienen ist, und dann einen blau-weißen Streifenwagen. Meine Füße schmerzen wie nie zuvor, und ich komme nur mühsam voran. Es ist kein Gehen und kein Hinken, eher eine Art Schlurfen, wobei ich versuche, meine geschundenen Fußsohlen möglichst zu entlasten. Ich bewege mich hauptsächlich auf den Ballen vorwärts und verziehe bei jedem Schritt das Gesicht.
Man sollte niemals barfuß durch einen Wald laufen, und schon gar nicht, nachdem man über ein Schindeldach gekrabbelt ist. Kurz gesagt: Man sollte immer Schuhe tragen. Schuhe sind großartig. Schuhe haben viel mehr Anerkennung verdient.
Die Wache befindet sich in einem gesichtslosen, eingeschossigen Flachdachgebäude. Durch und durch funktional. Für ein einladendes Äußeres war kein Geld mehr übrig. Ich stoße die Tür auf, die mir mit meinen wackeligen Beinen unnötig, fast lächerlich schwer vorkommt. Ein kleines Messingglöckchen kündigt meine Ankunft an. Der Geruch von Tannennadel-Raumspray liegt schwer, fast übermächtig in der Luft. Haben die hier irgendwo ein riesiges Duftbäumchen aufgestellt?, frage ich mich, aber ich kann es nirgendwo sehen. Sie müssen es versteckt haben.
»Ist Rusty hier?«, frage ich den bleistiftdürren Kerl, der mich aus kleinen, fragenden Augen mustert.
Sein spärliches blondes Schnurrbärtchen zuckt, dann sagt er: »Wer will das wissen?«
»Jem Talhoffer«, gebe ich zur Antwort.
»Und worum geht es?«
Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, wie ich ihm die Ereignisse des Vormittags schildern soll. »Wenn Sie ihr sagen, wer ich bin, dann weiß sie Bescheid.«
Er sieht mich skeptisch an, so als würde ich versuchen, ihn in eine Falle zu locken und vor seiner Chefin zu blamieren. Einen Scherz, den er zwar nicht ganz verstehen kann, den er aber nichtsdestotrotz fürchtet. Vielleicht möchte Rusty nur im äußersten Notfall gestört werden.
»Bitte«, fahre ich fort. »Sagen Sie Rusty, dass Jem sie auf der Stelle sprechen will.«
Das Schnurrbärtchen zuckt, aber er sagt nichts mehr, sondern stemmt sich aus seinem Stuhl und zieht die Hose nach oben. Nach einem letzten, zweifelnden Blick schlurft er davon.
Ich kann nichts weiter tun, als zu warten und meine Gedanken zu sammeln, mir zu überlegen, was ich gleich sagen werde, welche Ausreden ich gebrauchen könnte, weil die Wahrheit sich, ehrlich gesagt, selbst in meinen Ohren lächerlich anhört.
Ein Fremder hat mir am Telefon gesagt, ich soll fliehen, und darum bin ich weggelaufen.
Wie sehr wünschte ich, ich würde in der Werbung oder in der Politik arbeiten. Dann würde mir vielleicht etwas einfallen, was etwas weniger wahnsinnig klingt.
Vielleicht wäre das eine Möglichkeit.
Ich hatte kurzzeitig einen Anfall von geistiger Umnachtung.
Aber vielleicht auch nicht.
Keine Zeit mehr, noch länger zu überlegen. Der Kerl mit dem Schnurrbärtchen kommt wieder zurück, und in seinem Schlepptau auch die örtliche Polizeichefin, Rusty, sowie Wilks und Messer.
»Wo haben Sie denn gesteckt, Jem?«, erkundigt sich Rusty, während sie näher kommt. »Ich hab hier ein paar Leute, die sich schreckliche Sorgen um Sie machen.«
Rusty ist nicht groß und fast so breit wie hoch. Sie ist robust gebaut, fast schon quadratisch. Sie watschelt ein bisschen beim Gehen, aber sie kommt nie aus der Puste. Wir sind uns ein paar Mal begegnet, und sie war immer freundlich zu mir, immer fair. Ich vertraue nicht mehr vielen Menschen, wenn überhaupt, aber ich weiß, dass Rusty sich nichts vormachen lässt und immer offen und ehrlich ist.
»Wie schön, Sie zu sehen«, antworte ich und setze ganz automatisch wieder meine Maske auf. »Wie geht es Alice?«
Sie verdreht die Augen. »Das kleine Miststück hat sich gerade ein Tattoo stechen lassen.«
»Das klingt doch gar nicht so schlimm.«
Rusty schüttelt den Kopf. »Im Gesicht.«
»Oh. Ist es vielleicht abwaschbar?«
Auf Rustys Miene zeigt sich die Andeutung eines Lächelns.
Wilks und Messer stehen schweigend hinter ihr. Die beiden haben bis jetzt nicht einmal geblinzelt.
Rusty sagt: »Warum setzen wir uns nicht erst mal in mein Büro? Um in Ruhe über alles zu reden.«
Ich nicke. »Gern.«
Der dünne Kerl mit dem Schnurrbärtchen wirkt irgendwie verloren – er hat keine Ahnung, was hier los ist. Ich gehe um ihn herum und folge Rusty in ihr Büro.
Es gibt nur zwei Besucherstühle, darum lehnt Wilks sich an das Fensterbrett, nachdem ich mich auf den einen Stuhl gesetzt habe und Messer sich auf den anderen. Ich fühle mich in der Enge des Büros, so dicht in der Nähe der beiden, unwohl. Unsere Körper strahlen Wärme und Feuchtigkeit ab, aber ich scheine die Einzige zu sein, die das bemerkt.
Rusty lässt sich als Letzte auf den großen Ledersessel hinter ihrem völlig überfüllten Schreibtisch plumpsen. Zwischen den Papierstapeln stehen diverse Bilderrahmen unterschiedlicher Größe. Ich kann die Bilder von meinem Sitzplatz aus nicht erkennen, aber es sind garantiert irgendwelche Angehörigen, auch wenn sie keinen Ehering trägt. Vielleicht auch Haustiere.
»Nehmen Sie’s mir nicht übel, Jem«, fängt Rusty an, »aber Sie sehen furchtbar aus. Ich habe Sie kaum erkannt.«
»Ich fühle mich jedenfalls deutlich schlechter, als ich aussehe, das kann ich Ihnen versichern.«
»Möchten Sie vielleicht eine Aspirin?«
»Im Moment geht es so.«
Rusty beugt sich ein kleines Stück nach vorn. »Ich habe eine Flasche Gin in meiner Schreibtischschublade, wenn Sie möchten. Ich weiß, es ist noch ein bisschen früh dafür, aber ich hätte vollstes Verständnis. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck vertragen.«
Ich schüttele den Kopf.
Sie lässt sich wieder an ihre Lehne sinken. »Die Agenten Wilks und Messer haben mir berichtet, dass sie Ihnen heute Morgen einen Besuch abgestattet haben.«
»Das kann ich mir denken«, sage ich und versuche, nicht allzu kleinlaut, nicht allzu jämmerlich zu klingen.
»Warum sind Sie weggerannt?«, schaltet sich Messer ein.
Rusty ist nicht glücklich über seinen unverblümten Vorstoß. »Ich glaube, was Special Agent Ungehobelt damit sagen möchte – ich meine, abgesehen davon, dass er zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nichts sagen möchte –, ist Folgendes: Was ist denn bloß in Sie gefahren, Jem? Warum haben Sie sich so furchtbar erschrocken?«
Messer ist ebenfalls nicht glücklich über diese Zurechtweisung. »Wollten Sie Leo warnen?«
Rusty knallt die Handfläche auf ihren Schreibtisch. »Wie wär’s, wenn Sie uns mal einen schönen, kalten Becher mit köstlich frischem Leitungswasser besorgen?«
Messer rührt sich nicht von der Stelle.
Rusty bombardiert ihn mit Laserblicken. »Sollte ich das als Frage formuliert haben, dann bitte ich hiermit in aller Form um Entschuldigung.« Sie schnipst mit den Fingern und zeigt mit ihrem fleischigen Daumen in Richtung Tür. »Wasser. Und zwar dalli, dalli.«
Messers Kiefermuskulatur arbeitet so heftig, dass ich erstaunt bin, dass seine Zähne heil bleiben, aber er sagt kein Wort. Langsam erhebt er sich und geht noch langsamer nach draußen.
Rusty seufzt und wirft Wilks einen Blick zu. »Wollen Sie Ihrem Kollegen einen Maulkorb verpassen, oder soll ich das machen? Wobei, das würde Ihnen garantiert nicht gefallen, das kann ich Ihnen gleich sagen.«
Wilks macht eine entschuldigende Handbewegung. »Wird nicht wieder vorkommen.«
Rusty nickt. »Ganz bestimmt nicht. Werden den edlen und erhabenen FBI-Agenten heutzutage denn gar keine Manieren mehr beigebracht?«
Wilks zuckt nur mit den Schultern. Die Frage bedarf keiner Antwort.
Rusty wendet sich wieder an mich. »Schildern Sie mir bitte in Ihren eigenen Worten, was sich da abgespielt hat.«
Ich hole tief Luft und berichte ihr von dem Anruf, von Carlson. Ich versuche es, so gut ich kann, aber meine Erinnerung weist etliche Lücken auf. Ich bin mir nicht mehr sicher, was er genau gesagt hat. Aber meine Angst, an die kann ich mich sehr eindeutig erinnern.
Rusty hört hoch konzentriert und mit gerunzelter Stirn zu.
Als ich mit meinem Bericht fertig bin, hakt sie nach: »Dieser Carlson hat also behauptet, er sei vom FBI?«
»Ja.«
»Und dass die beiden Menschen in Ihrem Wohnzimmer für das Kartell tätig sind?«
»Ja«, bestätige ich, doch dann bin ich mir mit einem Mal nicht mehr so sicher. »Kann sein, dass er es nur angedeutet hat.«
»Wie soll er so etwas denn angedeutet haben?«
Ich überlege, versuche mir jeden Satz, jedes Wort ins Gedächtnis zu rufen. Je mehr ich mich anstrenge, desto verschwommener wird alles. »Vielleicht hat er auch von Geschäftspartnern gesprochen.«
»Geschäftspartner?«
Ich nicke. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass er genau das gesagt hat. Und dass er der Einzige sei, der gegen meinen Mann ermittelt, dass niemand sonst weiß, was er angeblich im Auftrag des Kartells macht, bis auf das Kartell selbst.«
»Und könnte es sein«, sagt Rusty, »dass er Ihnen sozusagen den Schluss nahegelegt hat, dass die Agenten Wilks und Messer Vertreter dieses Kartells sind?«
»So muss es gewesen sein.«
Rusty denkt schweigend nach. Ich werfe Wilks einen Blick zu. Sie scheint ebenfalls nachzudenken.
»Was fangen Sie damit an?«, wendet sich Rusty an sie.
Wilks erwidert: »Ich kenne beim Bureau niemanden mit Namen Carlson. Ich werde der Sache natürlich nachgehen, aber ich habe große Zweifel, dass dieser Betreffende – wer immer er auch sein mag – sich tatsächlich als FBI-Mitarbeiter erweisen wird. Ich vermute eher, dass er Leo kennt. Höchstwahrscheinlich ist er einer dieser Geschäftspartner, vor denen er Sie gewarnt hat.«
Ich sage: »Aber warum hat er mich dann angerufen? Warum hat er mich vor Ihnen gewarnt?«
Wilks meint: »Auch hier kann ich wieder nur spekulieren, aber wenn dieser Carlson Ihren Mann kennt, dann ist es durchaus denkbar, dass er auch in diese Geldwäsche-Operation verwickelt ist. Er will ja offensichtlich verhindern, dass Sie mit uns sprechen. Ich könnte mir vorstellen, dass er von unseren Ermittlungen erfahren hat, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie.«
»Gibt es beim FBI womöglich eine undichte Stelle?«
Wilks zuckt mit den Schultern. »Wäre nicht das erste Mal im Zusammenhang mit Organisierter Kriminalität.«
Ich nicke. Das klingt einleuchtend: Carlson gehört genau zu den Leuten, vor denen er mich angeblich warnen wollte. Ich sollte glauben, dass er mir helfen kann – ein guter Trick, denn er hat ja funktioniert.
Ich sage: »Deshalb wollte er, dass ich mit ihm mitkomme. Damit ich nicht mit Ihnen sprechen kann.«
Wilks reagiert verwirrt. »Wie bitte?«
»Er wollte nicht, dass ich hierherkomme.«
Rusty sagt: »Er hat Ihnen am Telefon gesagt, Sie sollen sich nicht an die Behörden wenden?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, er hat mich gerade eben auf der Straße angehalten. Er wollte, dass ich mich zu ihm ins Auto setze. Er hat richtig gebettelt, ehrlich gesagt. Genau, wie Wilks gesagt hat: Er will nicht, dass ich rede.«
Wilks richtet sich auf und zeigt mit dem Finger auf mich. »Carlson war hier im Ort? Da draußen?«
Ich nicke.
»Wann?«
»Vor wenigen Minuten. Wie lange bin ich jetzt schon hier? Das war kurz, bevor ich zur Tür reingekommen bin.«
»Kennzeichen?«, blafft Wilks mich an.
Ihr Tonfall schüchtert mich ein. Ich zögere. »Ich … ich weiß nicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich …«
»Was für ein Auto?«
»Ich weiß nicht. Eine Limousine. Grau, vielleicht.«
Eine Sekunde später hat Wilks das Büro verlassen.
Ich sehe ihr durch die Lamellen der Jalousie vor der Fensterwand in Rustys Büro hinterher. Ich höre, wie sie Messer etwas zuruft. Dann laufen die beiden nach draußen und rennen dabei fast den Schnurrbärtchen-Typen über den Haufen. Jetzt ist er noch verwirrter als zuvor.
Langsam drehe ich den Kopf und stelle fest, dass Rusty mich mit ihrem Laserblick fixiert. Ich komme mir vor wie der kleinste Mensch der Welt.
»Das hätte ich vielleicht schon früher sagen sollen.«
Rusty nickt. »Vielleicht.«
9.40 Uhr
Kein Mensch möchte Angst empfinden, das ist klar, aber gleichzeitig ist Angst ein normaler Bestandteil des menschlichen Lebens. Wir alle geraten von Zeit zu Zeit in Situationen, in denen wir Angst haben. Das Entscheidende daran ist: Es muss eine eindeutig erkennbare Ursache geben. Und wenn es keine Ursache gibt, dann dürfte es eigentlich auch keine Angst geben.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Wer unter einer chronischen Angststörung leidet, für den gibt es keine unbedeutenden Stresssituationen oder banalen Befürchtungen. Selbst die kleinste Abweichung von der Normalität hat extreme Auswirkungen. Noch das unbedeutendste Problem kann ein lähmendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit auslösen. Alltagshindernisse können zu unüberwindlichen Hindernissen werden. Selbst heutzutage können die meisten Menschen das Phänomen der Angststörung nicht verstehen, weil jeder Mensch sich gelegentlich Sorgen macht, weil alle ab und zu Angst empfinden. Das ist ganz natürlich, das ist sogar etwas Gutes. Ohne Angst wären wir hemmungslos verwegen. Der Unterschied zwischen dem Gefühl der Angst und einer Angststörung liegt darin, dass Letzteres chronisch ist. Dass es keinen guten Grund braucht, um Angst zu haben. Dass man unter Umständen vor etwas Angst hat, vor dem man keine Angst zu haben bräuchte. Dass man weiß, dass man keine Angst zu haben bräuchte, sie aber dennoch hat. Dass man die Angst nicht unter Kontrolle bringen kann.
Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen eine Angststörung entwickeln – als Nebenwirkung einer langfristigen Erkrankung beispielsweise, oder infolge einer sehr belastenden Erfahrung. Manchmal ist ein körpereigenes Ungleichgewicht zwischen den Hormonen Serotonin und Noradrenalin der Auslöser. Vielleicht liegt es auch an einer genetischen Disposition, an übermäßigem Drogenkonsum oder an einem unüberwindlichen Trauma.
Insofern habe ich sogar Glück gehabt. Ich weiß, was bei mir der Auslöser war. Es gibt auch andere, die die Antwort auf diese Frage nicht kennen. Die unter einer Angststörung leiden, ohne zu wissen, warum.
Wahrscheinlich sollte ich für diese kleine Gnade sogar dankbar sein.
Rusty kocht mir einen Kaffee. Sie überlässt es nicht einem ihrer Mitarbeiter, und ich weiß nicht, ob sie mir eine Art Sonderbehandlung gönnt oder ob es einfach ihre Art ist. Wenn ich Polizeichefin wäre, ich würde meine Leute ständig nach meiner Pfeife tanzen lassen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich keinen Durst habe. Ich mache mir, ehrlich gesagt, nicht einmal besonders viel aus Kaffee. Eine Tasse Matcha-Tee wäre mir wesentlich lieber.
Sie lässt sich viel Zeit. War das mit dem Kaffee vielleicht nur eine Ausrede, weil sie mit jemand anderem sprechen oder irgendetwas überprüfen will? Ich weiß nicht, was ich in der Zwischenzeit machen soll, also bleibe ich einfach auf dem unbequemen Stuhl sitzen und hoffe, dass sie vor Wilks und Messer wieder da ist. Ich habe jetzt keine Angst mehr vor den beiden, aber ich will mich auch nicht von ihnen anschnauzen lassen, weil ich das mit Carlson nicht früher erzählt habe. Ist schließlich nicht meine Schuld, oder? Nach einem so außergewöhnlichen Vormittag kann ich doch wohl ein bisschen Verständnis erwarten.
Jetzt merke ich, dass ich sehr schnell und flach atme.
Ich fühle, wie das Herz in meiner Brust schlägt. Es trommelt einen ungleichmäßigen Rhythmus, und ich spüre den Pulsschlag in meinen Schultern und meinen Ohren. Ich höre die flatternden Schläge meines Herzens und kann es fast vor mir sehen, wie es auf und ab hüpft und keine Sekunde stillstehen kann. Ein seltsames Gefühl in meinem Hals macht sich bemerkbar, als wollte mein Herz sich durch meine Kehle zwängen.
Ich sage mir, dass das nur das Herzklopfen ist. Dass das meine Panik ist.
Ich bin in Sicherheit, sage ich mir.
Ich bin in Sicherheit.
Als Rusty zurückkommt, hat mein Herz sich wieder ein bisschen beruhigt, und sie reicht mir einen weißen Plastikbecher. Er ist geriffelt, was ihm ein wenig mehr Stabilität verleihen soll, aber trotzdem muss ich aufpassen, dass ich nicht zu fest zugreife. Der Kaffee dampft, und obwohl ich zuerst zur Kühlung auf die Oberfläche puste, verbrenne ich mir beim ersten Schluck die Zungenspitze. Rusty hat eine große Keramiktasse in der Hand, allem Anschein nach ihre eigene, da mit großen Buchstaben »ICH CHEF, DU NICHT« daraufsteht. Vermutlich ist ihr Gaumen mit Asbest ausgekleidet, denn sie schlürft den dampfenden Kaffee ohne erkennbares Zögern.
»Tja«, sagt Rusty. »Wie wird man eigentlich Yogalehrerin?«
»Es ist eines der wenigen Dinge, die mir Freude machen.«
»Haben Sie eine Ausbildung gemacht?«
»Eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, am College habe ich Rechnungswesen studiert.«
»Im Ernst? Von Dezimalzahlen zu Yoga? Das ist ein ziemlich weiter Weg, stimmt’s?«
Ich nicke. Ich stimme ihr zu, aber ich will nicht darüber reden.
»Tja«, sagt Rusty noch einmal, aber jetzt in einem anderen Ton. »Was halten Sie davon?«
Ich stelle meinen Kaffeebecher auf ihren Schreibtisch. »Ich glaube es nicht.«
Sie nimmt Platz. »Sie glauben, dass Ihr Mann übers Wasser gehen kann?«
»Oh, er glaubt das mit Sicherheit. Aber ich glaube nicht, dass er so etwas vor mir geheim halten könnte. Ich meine, ich hätte zumindest geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich hätte gemerkt, dass er schlecht schläft oder gereizt oder gestresst ist oder wahnsinnige Angst hat. Aber da war nichts dergleichen. Er ist Leo, der Weinhändler. Mehr nicht. Da muss irgendeine Verwechslung vorliegen.«
»Manche Menschen beherrschen die Kunst, ihr Inneres zu verbergen, besser als die meisten anderen.«
Das kommt mir angesichts meiner persönlichen Probleme sehr bekannt vor, aber ich bin anders. Ich bin ja nicht normal, ganz im Gegensatz zu Leo. Mit ihm ist alles in Ordnung.
Ich erwidere: »Aber Leo nicht. Er versteckt seine Gefühle nicht, hat er noch nie gemacht.«
Rusty schlürft ihren Kaffee.
»Was immer Wilks und Messer zu wissen glauben, sie irren sich. Sie haben den Falschen im Visier. Vielleicht ist dieser Carlson ja der eigentliche Geldwäscher. Vielleicht hat er mich genau deswegen heute Morgen angerufen. Hat sich vielleicht schon jemand darum gekümmert? Ist jemand der Sache nachgegangen?«
Rusty sagt: »Ihnen ist aber schon klar, Jemima, dass bis vor Kurzem noch niemand außer Ihnen überhaupt von der Existenz dieses Carlson gewusst hat, oder?« Es ist bewundernswert, wie sie es schafft, ihrer Stimme einen subtil, aber unmissverständlich tadelnden Tonfall zu verleihen. Obwohl sie das sofort zu bereuen scheint, weil sie sagt: »Aber Sie haben auch eine Menge durchgestanden, also machen Sie sich keine allzu großen Vorwürfe deswegen.«
Das hatte ich auch nicht vor. »Keine Angst.«
Rusty schnaubt und nippt noch einmal an ihrem Kaffee.
»Trinken Sie«, sagt sie dann. »Nicht, dass er kalt wird.«
Wilks und Messer waren nicht lange weg, aber jetzt kommen sie mit enttäuschten Gesichtern wieder. Messer sieht mich sehr bewusst nur ein einziges Mal an, dann gar nicht mehr. Ich nehme an, Wilks hat ihn sich vorgeknöpft und ihn gebeten, seine Frustration im Zaum zu halten, zumindest vorübergehend, zumindest so lange, bis sie nicht mehr unter Rustys kompromissloser Aufsicht stehen.
Wilks sagt zu Rusty, nicht zu mir: »Wenn er überhaupt da war, dann ist er schon längst über alle Berge.«
»Er war da«, beharre ich.
»Und er ist längst über alle Berge«, wiederholt Wilks.
»Was brauchen Sie?«, wendet Rusty sich an sie.
Wilks schüttelt den Kopf. Sie weiß nicht so recht, was sie als Nächstes unternehmen soll. »Zeit«, sagt sie nach einer kurzen Pause. »Mehr brauche ich im Moment nicht. Ich muss viel telefonieren. Alle möglichen Quellen anzapfen … das Ganze ist viel zu schnell viel zu auffällig geworden. Ich muss versuchen, da wieder den Deckel draufzukriegen. Diese Carlson-Sache ändert alles. Ich muss sehr vorsichtig sein, mit wem ich worüber spreche.«
Rusty sagt: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Im Moment gar nicht. Ich weiß Ihre Bereitschaft zu schätzen, aber ich glaube, hier endet unser gemeinsamer Weg. Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber im Moment fällt mir einfach nichts ein.«
Rusty zieht ihre Mundwinkel nach unten. »Na ja, da richte ich mich ganz nach Ihnen. Sind Sie sicher, dass ich keinen Streifenwagen vor das Haus der Talhoffers stellen soll, falls dieser Carlson sich dort blicken lässt?«
Wilks schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Aber falls Leos Geschäftspartner sich aus irgendeinem Grund dort blicken lassen und den Streifenwagen sehen, dann wüssten sie sofort, dass er aufgeflogen ist. Das würde unsere gesamte Ermittlungsarbeit mit einem Schlag zunichtemachen und ihn in tödliche Gefahr bringen.«
»Bitte, tun Sie das nicht«, sage ich.
Rusty nickt. Keine Überwachung.
Wilks beugt sich über den Schreibtisch und streckt die Hand aus. Rusty ergreift und schüttelt sie.
Anscheinend haben sie mich alle vergessen.
Darum sage ich: »Und was wird aus mir?«
»Sie können tun und lassen, was Sie wollen«, sagt Wilks.
Ich drehe meine Handflächen nach außen. »Einfach so?«
Wilks sieht mich an, als würde ich eine fremde Sprache sprechen.
»Nach allem, was heute Morgen passiert ist?«
Meine Stimme wird lauter.
»Ja, genau«, sagt sie. »Sie können Ihren Tag wieder genießen.«
»Ich kann meinen Tag genießen«, wiederhole ich.
»Ja, genau«, bestätigt sie. »Wir müssen natürlich irgendwann noch einmal mit Ihnen sprechen, das ist klar. Aber nicht jetzt, nicht heute. Zunächst einmal müssen wir rauskriegen, wer dieser Carlson sein soll.«
Rusty gibt mir ein Handzeichen. »Gehen Sie nach Hause, Jem. Legen Sie sich in die Wanne. Versorgen Sie Ihre Füße. Gönnen Sie sich ein Glas Wein. Oder zwei. Entspannen Sie sich. Und überlegen Sie sich schon mal, wie Sie diese Geschichte bei Ihrer nächsten Grillparty zum Besten geben wollen.«
Ich nicke. »Was ist mit Leo?«
Wilks erwidert: »Wann soll er denn in Europa landen?«
»Kurz nach sechs, heute Abend.«
Wilks und Messer wechseln einen Blick. Sie gestikulieren hin und her, führen ein ganzes Gespräch nur mit Gebärden.
»Wir melden uns bestimmt vorher bei Ihnen«, wendet sich Wilks dann an mich. »Aber in den kommenden Stunden lassen wir Sie in Ruhe. Leo kann warten, bis er wieder zurückkommt.«
Ich komme mir vor wie ausgebremst. Erst erfahre ich, dass mein Mann ein Geldwäscher ist, dann laufe ich um mein Leben, weil ein Fremder namens Carlson versucht, mich zu manipulieren, aus Gründen, die niemand verstehen kann … und jetzt ist alles vorbei. Ende. Aus.
Ich stehe auf und bin verunsichert, weiß nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll.
»Dann gehe ich mal«, sage ich und steuere die Tür an. »War mir ein Vergnügen.«
Beim Auftreten belaste ich eine verletzte Stelle und schreie auf. Ich muss mich an Wilks festhalten, damit ich nicht ins Straucheln gerate.
Sie sagt: »Sollen wir Sie nach Hause bringen?«
Ich werfe einen Blick auf meine schmutzigen, blutverschmierten Füße. Der Gedanke, auch nur einen Zentimeter weiter zu gehen, ist vollkommen unerträglich.
»Natürlich, gern«, sage ich, ohne zu ahnen, wie sehr ich diese beiden Worte noch bereuen würde.