FRÜHER
Endometriose.
Ein richtiger Zungenbrecher, stimmt’s? Ein kompliziertes Wort für eine relativ einfach zu verstehende Angelegenheit. Meine Gebärmutterschleimhaut bildet sich nicht nur in der Gebärmutter selbst, sondern dehnt sich bis auf die Eierstöcke aus. Im Gegensatz zu vielen anderen, die diese Krankheit haben, leide ich aber nicht unter anderen Symptomen. Fast nie fällt meine Periode übermäßig stark aus. Ich habe keine Schmerzen beim Sex. Die einzige negative Auswirkung, wenn auch eine sehr entscheidende, ist, dass ich nicht schwanger werden kann.
In manchen Fällen, wenn Endometriosegewebe sich über die Gebärmutter hinaus ausbreitet, kann eine Operation helfen.
Aber in meinem Fall gibt es keine Heilung.
»Jetzt wissen wir wenigstens Bescheid«, sagte Leo damals, als wir auf dem Bürgersteig vor der Arztpraxis standen. »Jetzt haben wir eine Erklärung.«
»Aber was nützt eine Erklärung ohne Lösung?«
Er sagte nichts mehr.
Stattdessen nahm er mich fest in den Arm und küsste mich auf den Scheitel, während ich die Arme hängen ließ.
Ich hörte Papier knistern, weil er einen dicken Stapel aus Blättern und Broschüren in der Hand hielt – über die Erkrankung, wie man damit umgehen sollte, über Selbsthilfegruppen und Medikamente, über operative Eingriffe und die nächsten Schritte, über Eizellenspenden, Leihmütter, Adoptionen. Der Arzt hat mir das Material angeboten, aber ich habe es nicht über mich gebracht, es zu nehmen. Das hat Leo für mich gemacht.
Ich würde es ohnehin nicht lesen. Welchen Sinn hätte das gehabt?
»Wir haben immer noch Möglichkeiten«, sagte Leo. »Das muss nicht das Ende sein.«
»Wir hatten einen Plan«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte er.
»Wir haben das Haus«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte er.
Es war ein herrlicher, sonniger Nachmittag. Ein strahlend blauer Himmel, geschmückt mit einigen wenigen Schäfchenwolken.
Warum musste es ausgerechnet so ein perfekter Tag sein? Warum konnte es nicht eiskalt sein? Warum tobte jetzt kein Unwetter oder wenigstens ein Sturm, der mir die Tränen in die Augen trieb?
So einen Tag hätte ich jetzt gebraucht. Aber doch nicht das. Alles, nur nicht das.
Fußgänger gingen in beide Richtungen an uns vorbei. Manche waren alt, manche jung, und manche irgendwo dazwischen. Ich sah Familien, Mütter und Väter mit ihren Kindern. Ich sah händchenhaltende Paare und malte mir aus, wie sie über ihre verschiedenen sozialen Medien die Geburt ihres ersten Kindes bekannt gaben und dafür massenhaft nach oben gereckte Daumen kassierten.
Ich hasste sie.
Ich hasste sie, wie ich noch nie zuvor gehasst hatte.
Wobei … das stimmt nicht. Es gab jemanden, den ich noch mehr hasste.
»Mein Immunsystem«, sprach ich meine Gedanken aus. »So viele Gründe wären denkbar … aber ich bin schuld daran. Ich habe mich gegen mich selbst gewendet.«
Leo sagte: »Es ist nicht deine Schuld. Das ist dir doch klar, oder? Du darfst dir auf gar keinen Fall selbst die Schuld daran geben.«
»Aber wie soll das gehen, Leo? Wie soll ich mich nicht schuldig fühlen?«
Er gab keine Antwort.
»Unser Haus hat drei Schlafzimmer«, sagte ich. »Drei.«
»Ich weiß.«
»Für uns zwei ist es viel zu groß.«
»Wir machen aus einem Zimmer ein Büro. Und das andere wird das Gästezimmer.«
»Gästezimmer?« In meiner Stimme lag mehr Sarkasmus, als mir lieb war. »Und wer genau soll uns besuchen kommen?«
»Freundschaften schließen gehört auch mit zu unserem Plan.«
»Der Plan«, beschied ich ihm, »ist Vergangenheit.«
»Ein Teil des Plans«, sagte er. »Ein Rückschlag. Ein sehr schwerer, zugegeben. Aber ansonsten hat sich doch nichts geändert, oder? Wir haben immer noch einander. So haben wir angefangen. So sind wir bis hierhin gekommen. Und es hat uns gereicht, oder nicht?«
»Bis du mich durch eine Frau ersetzt, die ihrer natürlichen Aufgabe gerecht werden kann.«
Es war eine unfaire Provokation, aber selbst jetzt blieb er ruhig. Obwohl ich ihn attackierte, dachte er nur an mich.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich keine Sekunde lang darüber nachgedacht habe, was die Nachricht für ihn bedeutete.
»Das kann ich absolut ausschließen«, sagte er. »Wir sind ein Team.«
Er sagte immer das Richtige. Vielleicht wusste er immer, was ich hören wollte. Vielleicht kannte er mich besser, als ich mich selbst kannte, vielleicht lag es auch daran, dass er so ein liebevoller, netter Mensch war. Aber ich glaubte ihm trotzdem nicht. Damals wusste ich das noch nicht, aber unsere vergeblichen Versuche, schwanger zu werden, hatten mich so sehr unter Stress gesetzt, dass ich den Druck jetzt einfach nicht mehr ertragen konnte. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es allein meine Schuld war, dass wir kein Baby bekommen konnten, und das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Doch auch wenn ich diese Schwelle nicht überschritten hätte, hätte ich seinen Beteuerungen nicht geglaubt. Sie waren nichts als Worte.
In diesem Augenblick wusste ich, dass er mich eines Tages verlassen würde.
Die Frage war nur:  Wann?
17.13 Uhr
Ich brauche eine Weile, um das, was ich soeben erfahren habe, zu verarbeiten. Leo: Weinhändler, Geldwäscher und Informant. Ich kann nicht leugnen, dass diese Erklärung in gewisser Weise plausibel klingt, aber noch bin ich nicht bereit, das alles wirklich zu glauben. Nicht ohne einen Beweis. Bis jetzt sind das alles nicht mehr als Spekulationen. Aber Wilks und Messer sind nicht zu mir gekommen, um mich einfach zu erschießen. Das wäre durchaus möglich gewesen. Ich könnte ohne Weiteres jetzt tot sein, aber sie haben mir Fragen gestellt. Sie haben von Informationen gesprochen.
»Was haben Wilks und Messer von mir gewollt?«, frage ich laut. »Welche Informationen haben sie gesucht?«
»Beweise«, sagt Trevor. »Stimmt’s oder hab ich recht, Herr Geheimagent?«
Carlson nickt, wenn auch ein wenig zögerlich. »Und vermutlich auch das belastende Material, das Leo über das Kartell zusammengetragen hat.«
Trevor und Carlson unterhalten sich eine Weile, während ich schweige. Ich höre ihnen zu, ohne ein Wort wahrzunehmen. Ich begreife gar nichts. Ich komme überhaupt nicht mehr klar. Ich bin wie taub, einfach nur taub. Trotz allem, was bis jetzt passiert ist, habe ich vermutlich immer noch gehofft, dass das Ganze eine Art Missverständnis war. Etwas, das sich erklären und aus der Welt schaffen lässt.
Aber ich kann keinen Ausweg erkennen, nicht für mich und nicht für Leo.
Nicht für uns.
Ich sage: »Wir müssen Leo finden. Ich weiß nicht, wie, aber wir müssen ihn finden, bevor er nach Hause kommt und mich sucht.«
»Das wird er nicht tun«, sagt Carlson.
Das macht mich wütend. »Natürlich wird er das tun. Er ist mein Mann. Er glaubt, dass ich in Gefahr bin.«
»Falls er wirklich nach Hause fährt, dann wird er es schlau anstellen. Er wird kein unnötiges Risiko eingehen. Ich arbeite schon lange mit ihm zusammen. Er weiß durchaus, wie er sich schützen kann.«
Unnötiges Risiko … Ich versuche, nicht darauf einzugehen. »Aber was sollen wir dann machen?«
»Heute können wir nichts anderes mehr tun, als in Deckung zu bleiben. Das gilt auch für Leo. Wir ziehen die Köpfe ein und versuchen morgen, Verbindung aufzunehmen. Dann bringe ich ihn in Sicherheit. Und Sie auch.«
Der Gedanke, eine ganze Nacht warten zu müssen, bis ich Leo wiedersehe, ist niederschmetternd. Trevor sieht mir meine Trostlosigkeit an.
»Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?«, schlägt er vor. »Weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich könnte eine vertragen.«
Ich mag keinen Kaffee, aber trotzdem möchte ich jetzt einen.
Carlson sagt: »Ja, warum nicht?«
Trevor nickt Carlson zu, ohne aufzustehen.
Carlson versteht, was er meint. »Ich soll ihn machen?«
Trevor zuckt mit den Schultern. »Kommt ganz drauf an. Kommt ganz drauf an, ob Sie es richtig finden, die Gastfreundschaft eines Mitmenschen in Anspruch zu nehmen, ohne selbst etwas beizutragen. Für die eigene Erziehung kann man zwar vermutlich nichts, aber dennoch ist es wichtig, sich über die Beschränkungen einer unkultivierten Kindheit und Jugend zu erheben und einen höheren Zivilisationsgrad anzustreben. Es sei denn, natürlich, Sie sind der Überzeugung, dass …«
Carlson steht auf. »Ich koche Kaffee.«
»Sehen Sie?«, sagt Trevor. »Ich hab doch gewusst, dass Sie gar nicht so schlechte Manieren haben, wie Sie uns vormachen wollen.«
Während Carlson sich in den Küchenbereich der Hütte trollt, rollt er mit den Augen. Trevor zwinkert mir zu. Es macht ihm unbändigen Spaß, Carlson zu schikanieren, und obwohl mir viel zu viel durch den Kopf geht, als dass ich Trevors Schuljungenhumor wirklich witzig finden könnte, liegt über dem Ganzen ein gewisser Charme, allein dadurch, dass es von einem alten Mann kommt.
Carlson sieht sich ratlos um und sucht nach der Kaffeemaschine.
Trevor schüttelt den Kopf und steht auf. »Zurück in die Kissen, Herr Geheimagent. Ich lasse mir doch nicht von einem FBI-Mann den Kaffee machen.«
Carlson lässt sich auf das Sofa neben mir plumpsen und flüstert mir zu: »Dass Sie uns ausgerechnet zu diesem Typen …«
Merlin klappt ein Auge auf und knurrt Carlson an, als hätte er jedes Wort verstanden.
Ich sage: »Er ist ein Goldstück. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich schon längst nicht mehr am Leben.«
Trevor kommt mit drei gefüllten Emaillebechern wieder. Er drückt mir einen in die Hand, und ich bedanke mich. Den zweiten stellt er so weit wie nur möglich von Carlson entfernt auf den Couchtisch, sodass Carlson sich nach vorne beugen muss, um ihn gerade noch zu erreichen.
Als Carlsons Hand in Merlins Nähe kommt, knurrt der Hund erneut.
»Er kann Schwäche riechen«, kommentiert Trevor das Ganze und lässt sich gegen seine Lehne sinken. »Wenn er sich bedroht fühlt, dann knurrt er natürlich sowieso, aber besonders knurrt er die Schwachen an. Er macht keinen Hehl daraus, was er von Ihnen hält. Er macht keinen Hehl daraus, dass er Sie als Abendessen auf dem Speiseplan hat.«
Merlin ist nicht größer als ein Brotkorb.
Carlson sagt: »Ich glaube, damit komme ich klar.«
»Das Interessante an kleinen Hunden ist ja«, fährt Trevor fort, »dass man sie leicht unterschätzt. Man hat keine Angst vor ihnen, weil man glaubt, dass sie einen nicht schlimm verletzen können, selbst wenn sie zubeißen. Tja, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass er nicht loslässt, wenn er sich einmal festgebissen hat. Und dann? Die Kiefer können Sie ihm unmöglich auseinanderdrücken, die sind wie ein Schraubstock, also fangen Sie an, ihn zu schlagen, stimmt’s? Und damit landen wir wieder bei meinem allerersten Satz. Kleine Hunde werden leicht unterschätzt, weil sie klein sind. Aber jetzt merken Sie plötzlich, dass ein kleiner Hund praktisch nur aus Muskeln und Knochen besteht. Kein Gramm Fett. Egal, wohin Sie auch schlagen, Sie tun sich selbst sehr viel mehr weh als ihm. Sie erreichen damit nur, dass Sie immer erschöpfter werden und dass Ihre Wunde immer größer wird. Und was bedeutet das? Sie haben wertvolle Energie verschwendet, wertvolle Flüssigkeit verloren. Und dieser kleine Hund beißt immer noch zu, schluckt immer noch Ihr Blut. Ihre Wunde wird dadurch auch nicht besser. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie sich entzündet? Wie lange, bis Sie eine Blutvergiftung bekommen?« Trevor lässt sich an die Sessellehne sinken. »Unterschätzen Sie niemals einen kleinen Hund!«
Ich stoße den Atem aus. »Ich wette, auf Partys waren Sie immer der schillernde Mittelpunkt, Trevor.«
Er wirft mir einen Blick zu. »Ich war eine Sensation, das kann ich Ihnen versichern. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, die Ihre Haare schlagartig weiß werden lassen.«
»Das glaube ich Ihnen sofort«, entgegne ich. »Aber vielleicht ein andermal.«
»Ist wohl das Beste. Erinnerungen sind ein gefährlicher Zeitvertreib. Ehe man sich’s versieht, ist man …« Er unterbricht sich. Schüttelt den Kopf. Setzt seinen Gedankengang nicht laut fort, sondern nimmt stattdessen einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
Carlson, der sich seinen Becher inzwischen auch genommen hat, hebt ihn an die Lippen. »Ich nehme an, er ist mit Rattengift gesüßt?«
»Ach, seien Sie doch nicht albern«, erwidert Trevor und fügt, als Carlson gerade den ersten Schluck nehmen will, hinzu: »Mit Batteriesäure.«
Carlson blickt ihm direkt in die Augen und trinkt.
»Na, endlich«, sagt Trevor. »Ein Hauch von Rückgrat.«
Ich trinke einen Schluck aus meinem Becher und muss husten. »Das wäre bestimmt auch ein prima Maschinenreiniger.«
Trevor sieht mich freudestrahlend an. »Vielen Dank.«
»Wird Leo ins Gefängnis müssen?«, wende ich mich an Carlson.
Er wackelt mit dem Kopf. »Da möchte ich mich lieber nicht festlegen.«
»Versuchen Sie’s.«
»Unsere Vereinbarung hat gewisse Grenzen. Falls er bewusst und ohne mein Wissen Straftaten begangen hat, dann könnte es durchaus sein, dass er vor Gericht gestellt wird.«
»Warum sagen Sie das? Es gibt kein ›Falls‹. Natürlich hat er das nicht getan. Diese Leute müssen ihn von Anfang an dazu gezwungen haben. Er würde niemals freiwillig etwas Illegales tun, schon gar nicht für ein Drogenkartell. Es gibt eine Erklärung für das alles. Ich weiß, dass es sie gibt.« Nach einer kurzen Unterbrechung fahre ich fort: »Wie komme ich bloß aus diesem Schlamassel wieder raus? Wie kann ich Leo da rausholen?«
Carlson gibt keine Antwort. Er weiß es nicht. Trevor fällt auch nichts ein. Ich starre in meinen Emaillebecher, in meinen Kaffee.
»Das Einzige, was ich Ihnen mit Gewissheit sagen kann«, lässt Carlson sich nach einer langen Stille vernehmen, »ist, dass wir, so fürchte ich, ganz auf uns allein gestellt sind, solange wir nicht wissen, wie weit diese Verschwörung reicht.«
17.21 Uhr
Trevor besteht darauf, uns etwas zu essen zu machen. Dazu erhitzt er auf seinem Küchenofen drei Dosen mit Bohnen und fügt dann irgendwelche Fleischklumpen hinzu. Er sagt nicht, wo das Fleisch herkommt, und ich beschließe, dass es besser ist, nicht zu fragen. Mehr als ein paar Bissen bekomme ich nicht hinunter, dann rebelliert mein Magen. Ich spüre immer noch genau die Stelle, wo Messers Faustschlag mich getroffen hat, und mir wird übel. Trevor macht das nichts aus. Er gibt Merlin meine Reste, und der macht damit kurzen Prozess. Als der kleine Hund fertig ist, sieht der Teller aus wie frisch gespült.
Es ist noch nicht spät, aber nach dem Essen verkündet Trevor, dass es an der Zeit sei, schlafen zu gehen. Carlson hat immer noch unter den Nachwirkungen seines Kampfes mit Wilks zu leiden und schläft auf dem Sofa ein. Ich bin mir nicht sicher, ob das seine Absicht war, aber seine Erschöpfung kann ich sehr gut nachempfinden.
Ich überlasse ihm das Sofa, damit er ein bisschen mehr Platz hat, und setze mich in Trevors Sessel. Im Verlauf der vergangenen neun Stunden habe ich mich immer wieder und aus unterschiedlichen Gründen schlapp und ausgelaugt gefühlt, aber müde bin ich jetzt nicht. Darum ist es auch kein Wunder, dass ich immer noch an die Decke starre, während Carlson bereits selig schnarcht.
Kurz nachdem Trevor sich in sein Schlafzimmer im Zwischengeschoss zurückgezogen hat, kommt er noch einmal die Treppe herunter. Ich höre, wie er sich nach Kräften bemüht, leise zu sein, aber ohne jeden Erfolg. Auf dem Weg zum Kühlschrank stößt er gegen Möbel und Bücherstapel. Jeder seiner Schritte ist deutlich zu hören. Ich freue mich, dass er sich so bemüht hat, mich nicht zu wecken, und bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es leider nicht geklappt hat.
Nach einem kurzen Zwischenstopp in der Küche geht er nach draußen.
Wenige Minuten später folge ich ihm.
Trevor sitzt auf der Veranda. Er nippt an einer Dose Bier und hat den Blick auf die Bäume und das helle silberne Mondlicht gerichtet, das durch die Blätter strömt.
»Wunderschön«, sage ich und setze mich zu ihm.
Er nickt. Und nippt.
»Danke noch mal, dass Sie uns aufgenommen haben.«
Er nickt. Und nippt.
Sein Schweigen ist mir unangenehm. Ich schätze, er will alleine sein, darum gehe ich in Richtung Haustür.
Kurz bevor ich sie aufstoßen will, höre ich ihn sagen: »Sie sollten ihm nicht trauen.«
Ich drehe mich um. »Carlson?«
Trevor nickt. Und nippt.
Ich schüttele den Kopf. »Ich hätte ihm schon vor der Polizeiwache trauen sollen. Dann hätte ich mir eine Menge Kopfschmerzen erspart und wäre auch nicht halb totgeprügelt worden.« Ich komme einen Schritt näher. »Carlson hat mir das Leben gerettet.«
»Aber warum?«
»Weil Wilks und Messer mich umbringen wollten. Er ist dazwischengegangen. Was ist denn los mit Ihnen?«
Trevor schnauft. »Ich denke bloß laut nach.«
»Sie können ruhig alles aussprechen, was Ihnen durch den Kopf geht. Auf Ihrem eigenen Grund und Boden sowieso. Und ganz besonders, weil Sie mir ein Dach über dem Kopf gewähren.«
Trevor lässt sich einen Augenblick lang Zeit, um seine Gedanken zu sammeln und die richtigen Worte zu finden. Er schafft es nicht, zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf.
»Bitte«, dränge ich ihn. »Ich möchte hören, was Sie zu sagen haben. Aber das eine sage ich Ihnen gleich: Ich glaube, Sie irren sich. Total. Wenn Carlson nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt tot, würde erdrosselt und zu Tode geprügelt in meinem eigenen Badezimmer liegen. So einfach ist das.«
»Tatsächlich?«
»Reden Sie mit mir, Trevor.«
Er sieht mich an. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich falschliege, aber dieser FBI-Agent ruft Sie genau in dem Moment an, wo zwei Ganoven in Ihrem Wohnzimmer sitzen?«
Ich nicke.
»Er sagt, dass Sie fliehen sollen, und Sie fliehen.«
Ich nicke erneut.
»Dann wartet er in der Nähe der Polizeiwache auf Sie und will, dass Sie zu ihm ins Auto steigen. Sie weigern sich aber.«
»Bis jetzt ist alles richtig. Alles unverdächtig.«
»Anschließend taucht er bei Ihnen zu Hause auf, als die beiden Ganoven gerade dabei sind, Sie umzubringen?«
»Ja. Ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Dieser Mann, den Sie überhaupt nicht kennen, lässt sich immer dann blicken, wenn Ihnen irgendwas Schlimmes zustößt.«
»Ja, und zwar Gott sei Dank. Gott sei Dank hat er mich immer noch nicht aufgegeben.«
Trevor winkt ab. »Also, für mich hört sich das sehr kalkuliert an.«
»Sie können ihn nicht leiden, weil er für die Behörden arbeitet.«
»Ganz genau. Ich kann ihn nicht leiden, weil er für die Behörden arbeitet. Die sind doch alle – alle  – nur ein Haufen Betrüger. Aber das meine ich gar nicht. Das will ich damit gar nicht sagen. Meine persönliche Meinung in Bezug auf den Staat und seinen Drang, meine Freiheiten einzuschränken, haben mit alledem überhaupt nichts zu tun, Jem. Streichen Sie den Staat aus der Gleichung und Carlsons sogenannten Behördenjob gleich mit. Und was bleibt dann übrig? Ein Mann, der immer zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt auftaucht. Das ist doch kein Freund. Das ist ein Dämon.«
Ich lege Trevor eine Hand auf die Schulter. »Ich sage das jetzt mit dem größtmöglichen Respekt, wirklich, aber könnte es sein, dass Sie schon ein bisschen zu lange alleine hier draußen leben? Vielleicht vertrauen Sie gar niemandem mehr. Liege ich damit dicht an der Wahrheit?«
»Vertrauen muss man sich verdienen.«
Ich nicke. »Das stimmt. Und Carlson hat sich mein Vertrauen verdient, Trevor, und zwar zehnfach. Genau wie Sie.«
Er wendet sich ab. Wenn es nicht so dunkel wäre und seine Haut so gebräunt, dann könnte ich vielleicht sogar eine leichte Röte sehen.
»Wie lange leben Sie schon hier?«
Er zuckt mit den Schultern, als hätte er noch nie darüber nachgedacht. »Mein halbes Leben lang, schätze ich.«
»Warum?«
»Wie meinen Sie das? Warum nicht?«
»Ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine. Warum leben Sie hier draußen in der Abgeschiedenheit, weit weg von allen anderen?«
»Das ist einfach zu erklären. Je besser ich die Menschen kennenlerne, desto weniger kann ich sie leiden.«
»Das klingt ja, als würden Sie alle Menschen für schlecht halten.«
»Sind sie das denn nicht?«
»Ich finde nicht. Ich hoffe es nicht.«
»Na bitte«, meint er. »Sie haben nur noch nicht genügend Menschen kennengelernt, um zu wissen, dass es sich nicht lohnt.«
»Ich will das nicht glauben. Die Menschen sind gut. Die meisten haben einen guten Kern, oder nicht? Wir tun das Richtige. Wir versuchen es zumindest. Die meiste Zeit versuchen wir, gute Menschen zu sein.«
»Wie viele gute Menschen haben Sie heute schon getroffen?«
»Das ist etwas anderes.«
»Wieso ist das etwas anderes?«
»Weil das keine guten Menschen waren. Weil sie nicht normal sind. Sie sind nicht wie alle anderen.«
»Aber was, wenn sie doch so sind wie alle anderen? Was, wenn jeder Mensch genau so werden würde, wenn man ihm nur einen Schubs in die richtige Richtung gibt?«
»Sie glauben wirklich, dass man einem guten Menschen nur einen Schubs geben muss, damit er anfängt, böse zu werden?«
Er nickt. »Ja, genau. Das habe ich mein ganzes Leben lang beobachtet.«
»Ihr halbes Leben lang.« Ich kann mich nicht zurückhalten.
»Mein halbes Leben lang«, gibt er etwas zögerlich zu. »Aber das reicht. Das war mehr als genügend Zeit, um zu erfahren, dass der Mensch von Grund auf egoistisch ist. Etwas Gutes zu tun ist nicht der natürliche Zustand des Menschen. Wir tun das, was für uns selbst am besten ist. Und gute Taten passieren normalerweise nur zufällig.«
»Ach, Trevor, was ist Ihnen bloß zugestoßen?«
Er ärgert sich über mein Mitgefühl. »Fangen Sie bloß nicht an, Mitleid mit mir zu haben, Jem. Ich bin froh, dass mir die Augen geöffnet wurden.«
Wir starren für eine Weile den Mond an, dann kommt mir ein Gedanke.
»Wissen Sie was?«, sage ich. »Ich kann Ihnen das Gegenteil beweisen.«
Er schnaubt. »Und wie wollen Sie das anstellen?«
»Gut, dass Sie fragen.« Ich komme mir sehr gerissen vor. »Weil Sie es mir nämlich selbst bewiesen haben.«
Er mustert mich misstrauisch.
»Sie haben sich selbst das Gegenteil bewiesen, Trevor. Sie haben das Gegenteil bewiesen, als Sie heute Morgen für mich angehalten haben, als Sie mich gerettet haben. Wenn Sie recht hätten, dann hätten Sie das doch nicht getan, oder?«
Er bleibt stumm.
»Sie sind ein guter Mensch, Trevor«, beharre ich. »Sie sind nicht egoistisch. Ich habe nichts anderes getan, als Ihnen den Tag zu versauen, aber Sie haben nicht einmal eine Gegenleistung von mir verlangt.«
Er überlegt angestrengt. Er ist verzweifelt auf der Suche nach einem Gegenargument.
»Geben Sie einfach zu, dass Sie falschliegen«, sage ich. »Danach fühlen Sie sich bestimmt besser.«
Er hält einen Finger in die Höhe. Ihm ist etwas eingefallen. »Vielleicht habe ich ja eine reiche Dame gesehen und mir gedacht, dass sie mir eine Belohnung gibt, wenn ich ihr helfe. Na bitte, da haben Sie’s. Ich bin doch nicht so gut, wie Sie dachten.«
Ich verdrehe die Augen. »Und etwas Besseres fällt Ihnen wirklich nicht ein?«
Er knurrt: »Geben Sie mir meine Belohnung, dann denke ich mir was Besseres aus.«
Ich lache. Es fühlt sich so gut an zu lachen.
Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich je wieder lachen würde.
22.28 Uhr
Ich versuche zu schlafen, aber ich kann nicht. Wie, um alles in der Welt, soll ich denn jetzt schlafen? Mir gehen so viele unbeantwortete Fragen durch den Kopf, dass jede, die ich beiseiteschiebe, hundert weitere aufwirft. Dazu kommt, dass Trevors Sofa wahrscheinlich das unbequemste je von Menschenhand gebaute Sitzmöbel ist. Ein mittelalterlicher Folterknecht hätte alles dafür gegeben, so ein Ding in seinem Besitz zu haben. Wobei diese Qual nicht einer gewissen Ironie entbehrt, weil das Sofa so weich ist, dass ich darin versinke. Das Problem ist: Ich höre gar nicht auf zu sinken. Ganz egal, welche Position ich ausprobiere, am Ende komme ich mir immer vor wie ein Holzscheit auf hoher See.
Außerdem ist es kalt. Trevor hat keine Zentralheizung, was nicht wirklich überraschend ist. Er liegt in seinem Bett und schnarcht zufrieden vor sich hin. Das ist ebenfalls nicht besonders hilfreich, wobei Carlson offensichtlich weniger darunter leidet als ich. Er hat sich aufrecht hingesetzt und seine Jacke zu einer behelfsmäßigen Decke umfunktioniert. Sein Kopf ist zur Seite gekippt, und aus seinem geöffneten Mund dringt in regelmäßigen Abständen ein zufriedenes Grollen. Es gibt nicht vieles, worum ich Männer beneide, aber für ihre Fähigkeit, immer und überall schlafen zu können, ganz egal, was um sie herum vorgeht, würde ich wirklich alles geben.
Wo mag Leo jetzt sein? Ob er schlafen kann? Oder ist er wach, so wie ich, und denkt an mich, so wie ich an ihn denke?
Hoffentlich geht es ihm gut, wenigstens jetzt gerade. Er muss sich schreckliche Sorgen um mich machen und weiß vermutlich selbst nicht aus noch ein. Normalerweise steckt er so voller Tatkraft und Entschlossenheit, dass ich mir noch nie Sorgen um ihn gemacht habe, dass ich noch nie auf die Idee gekommen bin, er könnte mit irgendeiner Situation nicht zurechtkommen. Das ist zumindest das Bild, das ich von ihm habe. Beruht dieser Eindruck auf Tatsachen, oder ist er eher das Ergebnis meiner eigenen Bedürfnisse? Braucht meine ängstliche Natur ein solches Gegenstück, damit ich mir wenigstens in dieser Hinsicht keine Sorgen machen muss? Könnte es sein, dass ich mir selbst in die Tasche lüge, dass ich meinen Mann nur deshalb als solch starken, einfallsreichen und unerschütterlichen Menschen wahrnehme, weil ich selbst das brauche?
Wie gesagt: Jede beiseitegeschobene Frage wirft hundert weitere auf.
Mein Pulsschlag wird wieder schneller. Noch mehr Herzrasen.
Ich konzentriere mich, atme sehr bewusst ein und aus, um mich wieder ein wenig zu beruhigen.
Nach einer gewissen Zeit hilft das, aber ich bin verärgert und wütend auf mich selbst, weil ich so bin, wie ich bin.
Es ist nicht so, dass ich damals die Arztpraxis verlassen und plötzlich unter dieser Angststörung gelitten habe. Aber ich habe wochenlang jeden Tag geweint. Ich konnte mich nicht aufraffen aufzustehen. Eine unglaubliche Traurigkeit hatte mich ergriffen, aber ich tat so, als sei alles in Ordnung. Ich wollte, dass alles in Ordnung war. Ich wollte stark sein, damit dieser eine Rückschlag nicht mein ganzes Leben bestimmte. Ich wollte nicht, dass die Unfruchtbarkeit mich als Mensch definierte.
Damals hätte ich mir Hilfe holen sollen. Ich hätte Leo nicht anlügen dürfen, sondern ihm gestehen müssen, wie nutzlos ich mir vorkam, wie sehr ich mich als Versagerin fühlte.
Diese Traurigkeit bin ich nie wieder losgeworden. Ich konnte die traumatische Erfahrung jenes Moments, als der Arzt mir die Sache mit meinen unfruchtbaren Eierstöcken und meiner ungastlichen Gebärmutter erklärte, niemals abschütteln. Zu viele Nächte habe ich hellwach gelegen und an die Decke gestarrt, während Leo schnarchend neben mir lag. Ich ignorierte mein Herz, das wie wild in meiner Brust umherhüpfte, und wenn sich die ganze Welt um mich drehte, sodass ich beinahe zusammengebrochen wäre, machte ich mir vor, es sei nur ein Schwindelanfall.
Mein Konzept war das der Vermeidung, und das ist das Schlimmste, was man machen kann. Ich hatte Angst davor, nach Kindern gefragt zu werden: Ob wir welche bekommen wollten, ob wir es probierten, ob ich vielleicht schon schwanger war? Allein den Gedanken an solche Fragen konnte ich nicht ertragen. Ich wollte nicht gezwungen sein, Antworten zu geben, wollte nicht entscheiden müssen, ob ich lügen und so tun sollte, als sei alles in bester Ordnung, oder ob ich die grässliche Wahrheit gestehen sollte. Darum habe ich angefangen, sämtlichen Begegnungen mit anderen Menschen auszuweichen. Ich habe alle Einladungen zum Mittagessen, zum Kaffeetrinken, zum Kneipenbesuch, zu Grillabenden und Partys und allem anderen, wo es zu Gesprächen mit Freunden, Bekannten oder Fremden gekommen wäre, ausgeschlagen. Fremde sind manchmal sogar die Schlimmsten, weil sie einen nicht kennen und darum nicht wissen, welche Fragen man stellen und welche man lieber umschiffen sollte.
Diese Vermeidungsstrategie führt natürlich zwangsläufig dazu, dass man ständig mehr vermeiden muss. Dadurch bestätigt man sich selbst immer wieder, wie richtig es ist, Angst zu haben, und das vergrößert wiederum die Angst. Wenn man sich einmal in diesem negativen Teufelskreis befindet, gibt es keinen Ausweg mehr.
Zu Anfang habe ich gedacht, dass ich den Verstand verliere. Dass ich sterben würde. Wenn man zu lange nur um die eigene Angst kreist, dann wird jeder Gedanke zum Feind. Pessimismus wird der Normalzustand, nur gelegentlich unterbrochen von einem Gefühl kläglicher Furcht.
Ich wollte mich nicht in Behandlung begeben. Nach dem letzten Mal konnte ich nicht einmal die Vorstellung ertragen, noch einmal einen Arzt aufzusuchen, aber für Leo habe ich es getan. Ich habe es mit kognitiver Verhaltenstherapie probiert. Ich habe Antidepressiva geschluckt. Die Therapie hat nicht funktioniert, weil ich noch so sehr versuchen konnte, meine Gedankengänge zu verändern, ich wäre trotzdem nicht fruchtbarer geworden. Ein neues Bewusstsein hätte keinerlei Einfluss auf meine verschrumpelten Eizellen und meine feindselige Gebärmutter gehabt. Schon nach der ersten Sitzung war mir klar, dass das reine Zeitverschwendung war, aber ich machte weiter, wegen Leo, um ihm zu demonstrieren, dass ich es zumindest versuchte. Ich wollte ihm versichern, dass ich mich bessern wollte. Ich sagte ihm nicht, dass das unmöglich war.
Ich setze mich auf. Da ich sowieso nicht schlafen kann, brauche ich auch nicht untätig hier herumzuliegen. Wenn ich schon keine Ruhe finde, dann kann ich mir wenigstens ein bisschen Bewegung, ein bisschen frische Luft verschaffen.
Meine Turnschuhe stehen auf dem Fußboden neben Trevors Bücherstapel-Couchtisch. Ganz in der Nähe sehe ich auch Carlsons Schuhe. Es sind gute Schuhe, stabil und bequem. Braune Halbschuhe aus geschmeidigem Leder mit einem hölzernen Absatz und Messingösen für die Schnürsenkel. Die Schuhe sind mir bisher noch nicht aufgefallen, aber jetzt sehe ich, wie schön sie sind. Ich nehme einen davon in die Hand, um ihn näher zu betrachten. Die Qualität ist offensichtlich. Ein Produkt erstklassiger Handwerkskunst. Sehr teuer.
Ich stelle den Schuh wieder zurück an seinen Platz und stopfe meine verbundenen Füße in meine Turnschuhe. Meine Füße sind immer noch wund, darum dauert es eine ganze Weile.
Ich stehe auf.
In der Stille kann ich meine Knie knacken hören. Haben sie das schon immer gemacht, oder werde ich alt?
Behutsam und leise schleiche ich zur Vordertür. Vorsichtig öffne ich sie und rechne jeden Augenblick damit, dass sie ein hässliches Quietschen von sich gibt. Doch das tut sie nicht. Sie lässt sich vollkommen lautlos bewegen. Ich hätte wissen können, dass Trevor seine Hütte vorbildlich in Schuss hält.
Draußen, in der nächtlichen Luft, bilden sich dichte Atemwolken vor meinem Mund. Es ist sehr kalt geworden, und ich fange an zu zittern. Das Mondlicht taucht die Hütte in einen silbernen Glanz. Bis auf meine eigenen Geräusche ist kein Laut zu hören. Ich stehe auf der Veranda und genieße die friedliche Stimmung, die tiefe Ruhe. Ich schlinge mir die Arme um die Brust und reibe mir die Oberarme, um mich ein bisschen zu wärmen. Ich habe eindeutig die falsche Kleidung an. Ich müsste wieder in die Hütte gehen.
Aber ich lasse es sein.
Dort, wo der Mond nicht scheint, sind die Bäume nur dunkle Schatten. Ich muss an den heutigen Morgen denken, an meine verzweifelte Flucht vor Messer durch den Wald. Mein Herz schlägt schneller, und dann tauchen noch andere Bilder vor meinem inneren Auge auf.
Messer, wie er im Badezimmer versucht, mich zu töten.
Messer mit der Schere im Hals.
Messer, erschossen von Carlson.
Noch bevor mir klar wird, was ich tue, gehe ich über die freie Fläche vor der Hütte, wie unter Zwang, als würde mich etwas anziehen.
Aber es gibt nichts zu sehen.
Nur Carlsons Wagen, den ich hinter der nächsten Biegung abgestellt habe, um im Notfall eine schnelle Abfahrt zu ermöglichen. Das Mondlicht spiegelt sich in der Karosserie. Aus irgendeinem Grund gehe ich zu dem Fahrzeug. Es ist nichts Besonderes, eine einfache Limousine. Der Dienstwagen eines Regierungsbeamten.
Warum zieht er mich bloß so an?
Eine Erinnerung, ein Gedanke, nur halb ausgebildet und unvollständig. Ein Bild. Ein Duft, vielleicht. Als ich vorhin damit gefahren bin, habe ich etwas gesehen … gehört … gespürt …
Nichts. Ich kann die Erinnerung nicht konkretisieren und kann sie auch nicht abschütteln.
Ich lasse mich von meinem Unterbewusstsein leiten, nähere mich dem Wagen, während die Turnschuhe meine empfindlichen Fußsohlen vor dem kalten, harten Untergrund schützen.
Ich streiche mit den Fingerspitzen über die Karosserie. Der Lack fühlt sich kühl und ein wenig feucht an. Der Wagen ist nicht abgeschlossen, was mich überrascht und gleichzeitig auch nicht. Trevor hat Carlson vorhin mit vorgehaltener Waffe zum Aussteigen gezwungen, und Carlson ist seither nicht wieder hier gewesen. Er hat die Hütte nur verlassen, um die Latrine aufzusuchen.
Meine Finger suchen sich den Weg bis zum Türgriff. Ich ziehe daran.
Die Tür springt auf.
Was machst du denn da, Jem?
Ich weiß es nicht.
Ich mache weiter.
Ich setze mich auf den Fahrersitz und ziehe die Tür behutsam hinter mir ins Schloss. Im Inneren ist es ein kleines bisschen weniger kalt als draußen, aber mein Atem kondensiert immer noch. Der Zündschlüssel steckt nicht im Schloss. Damit ist jede unausgegorene Wunschvorstellung, die ich vielleicht gehabt haben könnte, bereits im Keim erstickt. Ich kann nicht einfach wegfahren. Carlson muss, als Trevor ihn aus dem Auto geholt hat, den Schlüssel abgezogen haben. Ich lege trotzdem meine Hände ans Steuer und denke kurz nach.
Dann sehe ich mich im Innenraum um. Da ist es natürlich dunkel, aber der Mond scheint so hell, dass ich, nachdem meine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, trotzdem etwas sehen kann. Der Innenraum ist leer. Keine persönlichen Gegenstände. Kein Kleingeld in dem Becherhalter zwischen den Vordersitzen. Kein Kaugummipapier im Fußraum.
Und das Handschuhfach?
Ich beuge mich vor und ziehe am Riegel. Es klappt auf.
Da liegt etwas.
Ein Blatt Papier. Weiß. Zusammengefaltet.
Ich falte es auseinander.
Und halte den Atem an.
22.36 Uhr
Einen Rauchring zu produzieren ist schon schwer genug, aber einen perfekten Rauchring zu produzieren, das gelingt nur mit unendlicher Geduld und Hingabe. Dazu erfordert es eine gewisse Begeisterung für die Ästhetik des Rauchs. Diese Begeisterung muss groß und sie muss unerschütterlich sein, denn nur durch Beharrlichkeit lässt sich ein wirklich ästhetischer Rauchring hervorbringen.
Rusty ist eine hingebungsvolle Raucherin.
Nicht, dass sie sich irgendwie selbst loben wollte, aber den perfekten Rauchring hat sie schon vor langer Zeit gemeistert. Was sie bis jetzt noch nicht geschafft hat, ist, einen kleinen Ring durch einen großen zu schicken, aber sie weiß, dass das nicht mehr allzu lange dauern wird. Sie ist eine geduldige Raucherin, und eine beharrliche. Die Ästhetik des Rauchs ist ihr wichtig.
Rauchringe im Mondlicht. Das ist wahrhaftige Schönheit.
Nur in Begleitung des Rauchs und des Mondes sitzt Rusty im Schaukelstuhl auf ihrer Gartenveranda. Der Schaukelstuhl ist ein riesiges altes Ding, das sie einmal bei einem Garagenverkauf erworben hat, so billig, dass sie sich fast wie eine Diebin vorgekommen ist. Der Verkäufer hat ihr versichert, dass er froh war, das Möbel loszuwerden. Sie wollten das Haus so schnell wie möglich leeren. Rusty hat nicht gefragt, wieso. Sie wollte genauso wenig über die Probleme dieses Fremden erfahren, wie er sie ihr mitteilen wollte.
Manche Geheimnisse bleiben besser unter Verschluss.
Die Nacht fördert das Denken. Wenn der Großteil des Städtchens schläft und kilometerweit nichts als Stille herrscht, was soll man dann anderes tun als denken? Für einen ruhelosen Geist sind diese stillen Nächte die schlimmsten, weil die einzigen Geräusche die sind, die aus einem selbst kommen. Und diese Geräusche kann man nicht ignorieren. Man kann ihnen nicht entfliehen.
Sie denkt an die beiden grobschlächtigen Agententrampel, die heute Vormittag einen Stein in den Dorfteich geworfen haben. Sie weiß immer noch nicht – nicht wirklich  –, was eine magere Yogalehrerin und ihr Mann verbrochen haben könnten, um die Aufmerksamkeit des FBI auf sich zu lenken. Rusty ist nicht wichtig genug, um das Treiben ihrer Mitbürger verstehen zu müssen.
Vertrauen wir in unseren Staat und seine Institutionen.
Mit Wilks und Messer ist irgendetwas faul.
Sie weiß nicht genau, was, weil es nur ein Gefühl ist. Eine Ahnung. Ein angeborener Skeptizismus, der sie alles infrage stellen lässt. Rusty misstraut dem Offensichtlichen, ganz grundsätzlich, weil sie immer wieder erfahren hat, dass das Offensichtliche viel besser täuschen kann, als Worte je dazu in der Lage wären.
Nun sind zwei FBI-Agenten in Anzügen und stabilen Schuhen in ihrer Stadt aufgetaucht, und das ist so außergewöhnlich, dass Rusty sich unmöglich entspannen kann. Sie hat das Gefühl, nicht nur keine Informationen zu bekommen, sondern auch die Kontrolle zu verlieren. Ist es wirklich möglich, dass einer ihrer Bürger hier, direkt vor ihrer Nase, für ein Drogenkartell schmutziges Geld wäscht? Natürlich ist das möglich … Rusty ist auch klar, dass sie nicht alles wissen kann. Aber sie will es nicht glauben. Sie will nicht, dass sich die perfekte Beschaulichkeit dieses kleinen, paradiesischen Fleckens als Täuschung erweist.
Darum hat sie jemanden angerufen. Eine Freundin, die vielleicht in der Lage ist, die Hierarchien, die nur von oben auf sie herabblicken und sie ausgrenzen, zu umgehen.
»Hot Mama«, hatte ihre Freundin sich bei der Kontaktaufnahme gemeldet. »Wann kommst du mich endlich mal besuchen?«
»Wenn du irgendwo wohnst, wo ich auch hinfahren will.«
»Deine Worte sind scharf wie Rasierklingen, Hot Mama.«
»Bitte, nenn mich nicht so.«
»Komm und besuch mich, dann darfst du mich sogar dazu zwingen«, hatte ihre Freundin gesagt.
»So was mache ich nicht mehr«, hatte Rusty entgegnet. »Ich habe mich wieder einem etwas biblischeren Lebensstil zugewandt.«
»Selbst wenn ich dir das abkaufen würde«, hatte ihre Freundin geantwortet, »weißt du genau, dass ich deine Meinung ändern kann.«
»Ich fürchte, mein Anruf hat rein berufliche Gründe.«
»Ich habe Geld.«
»Könntest du bitte wenigstens neunzehn Sekunden lang mal ernsthaft sein?«
»Was regst du dich denn so auf?«
Rusty hat es ihr erklärt und ihre Freundin gebeten, sich ein bisschen umzuhören. Sie weiß nicht, ob es etwas bringen wird, und Ungewissheit ist etwas, womit Rusty nicht gut umgehen kann.
»Nur du und ich gegen den Rest der Welt«, sagt sie zum Mond.
Sie stößt noch einen Rauchring aus und lauscht der Stille.
Im Haus ist es nur in der Nacht ruhig und still. Darum ist das die Zeit, in der Rusty am liebsten wach ist. Sie braucht diese Stille. Dass sie morgens dann todmüde ist, ist ein geringer Preis für diese Augenblicke der Gleichmut.
Außerdem wäre es sonst ziemlich schwierig, Marihuana zu rauchen.
Nicht als Polizeichefin in einer Kleinstadt.
Die Leute reagieren in so einem Fall schnell komisch.
Rusty nimmt nie jemanden fest, weil er oder sie Gras geraucht hat, weil sie das zur Heuchlerin machen würde, aber sie muss die Illusion aufrechterhalten, dass sie es tun würde. Jugendliche müssen daran glauben, dass ein Gesetzesbruch Konsequenzen nach sich zieht, selbst wenn das Gesetz bescheuert ist. Außerdem muss sie auch an ihre Wachtmeister denken. Sie ist sich ziemlich sicher, dass Zeke sich in jeder dienstfreien Minute die Birne zuballert, was für sie völlig in Ordnung ist. Aber er darf das nicht wissen. Autorität ist eine Illusion, die darauf angewiesen ist, dass alle, die mit ihr zu tun haben, von ihrer vollkommenen Unverrückbarkeit überzeugt sind. In dem Moment, wo diese Unverrückbarkeit infrage gestellt wird, ist die Illusion zerstört.
Und was dann folgt, ist Anarchie.
Rusty bläst noch einen Ring in die Luft und fragt sich, welche dieser Gedanken aus ihr selbst kommen und welche dem Gras zu verdanken sind, das durch ihren Kopf kreist. Sie untersucht ihren Geist mit der Hartnäckigkeit einer Kriminalbeamtin, verhört ihn, sucht nach Antworten, bis ihr Geist sich in zwei voneinander getrennte Wesenheiten aufteilt, die parallel zueinander existieren, kommunizieren, diskutieren und streiten. Jeder ihrer Gedanken wird durch einen anderen Gedanken gekontert, so lange, bis beide Seiten eine Salve nach der anderen abfeuern, immer lauter und schneller, weil sie die gegnerische Seite übertrumpfen wollen und sie nicht mehr weiß, wer eigentlich wer ist.
Heißt das, dass es jetzt einen dritten Geist gibt, der den anderen beiden zuhört?
Sieht Rusty sich also selbst zu?
Und wenn das so sein sollte, können die beiden anderen, die ja denselben Raum wie sie bevölkern, sie hören?
Ja, sagt die eine.
Nein, sagt die andere.
Rusty klatscht sich auf die Wangen und sorgt so für eine schnelle Wiedervereinigung. Atmet tief aus und verlangsamt ihren rasenden Herzschlag. Sie legt den Joint auf den Rand ihres Aschenbechers.
Vielleicht hat sie jetzt erst mal genügend Gleichmut getankt.
Ihr Klapphandy vibriert, und sie zuckt zusammen.
Sabrowski ist am Apparat.
Was zum Teufel denkt der sich eigentlich dabei, sie mitten in der Nacht anzurufen? Rusty lässt es klingeln. Sie ist zu bekifft, um mit ihrem Wachtmeister zu sprechen oder ihn wegen dieser nie da gewesenen Respektlosigkeit zusammenzufalten.
Irgendwann hört es auf zu vibrieren, und Rusty fragt sich, ob Sabrowskis dürrer Hintern womöglich versehentlich den Anruf ausgelöst hat. Das kann mir mit meinem Klapphandy nicht passieren, denkt sie und aalt sich in Selbstgefälligkeit.
Dann vibriert das Telefon erneut. Und wieder ist es Sabrowski.
Also doch kein Arschanruf.
Rusty empfindet gleichermaßen Neugier und Angst.
Sie klappt ihr Handy auf und sagt: »Hier spricht der Chef.«
Sabrowskis Stimme klingt noch dünner, als er ist. »Tut mir leid, Rust, dass ich noch so spät anrufe, aber … also, das ist echt schlimm hier. Vielleicht wär’s besser … Da liegt eine Leiche. Wir brauchen dich … Ich …«
»Wo, Herr Wachtmeister?«
»Bei den Talhoffers.«
22.41 Uhr
Das zusammengefaltete Blatt Papier aus Carlsons Handschuhfach ist ein Computerausdruck mit einem Foto von einem Gesicht. Farbig. Akzeptable Qualität, wenn auch bei Weitem keine fotografische Auflösung.
Es ist Leos Gesicht.
Warum hat Carlson einen Computerausdruck mit dem Gesicht meines Mannes im Handschuhfach?
Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich sicher: Wenn er mit Leo zusammenarbeitet, wenn er Leo kennt, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, wieso er dieses Foto bei sich haben müsste. Oder?
Ich stelle mir vor, wie Carlson in seinem Auto sitzt. Irgendwo in der Stadt vielleicht, oder am Rand der Landstraße. Vielleicht in der Nähe der Kreuzung. Das Blatt Papier liegt auseinandergefaltet auf dem Armaturenbrett oder dem Beifahrersitz oder auf seinem Schoß. Jedes Mal, wenn ein Mann an ihm vorbeigeht, wirft er einen Blick darauf und vergleicht die Gesichter.
Leo arbeitet gar nicht für Carlson.
Carlson hat Leo noch nie gesehen.
Oh Gott, nicht auch noch Carlson.
Mein Atem geht so schwer, dass die Fenster bereits beschlagen. Ich falte das Blatt zusammen und will es wieder ins Handschuhfach zurücklegen, doch dann halte ich inne. Ich falte es noch einmal auseinander und sehe mir das Foto etwas genauer an.
Es zeigt Leos Gesicht, ist aber kein Passbild, sondern ein vergrößerter Ausschnitt aus einem größeren Foto. Im Hintergrund sind rote Backsteine zu erkennen, sodass ich annehme, es wurde irgendwo in der Stadt aufgenommen. Aber das kann nicht sein. Leos Haare sind anders, so lang wie seit Jahren nicht mehr, länger als in der ganzen Zeit, in der wir hier wohnen. Er sieht auch jünger aus. Gebräunt. Ich starre sein Gesicht und die roten Backsteine hinter ihm an. Ich kenne dieses Bild. Ich weiß es genau. Komm schon, Jem. Denk nach. Erinnere dich.
Rom.
Da ist es aufgenommen worden. Vor zehn Jahren, in Rom. Wo wir uns kennengelernt haben. Dieses Foto habe ich selbst gemacht. Leo hat auf einer Bank an einer Piazza gesessen. Wir kannten uns seit drei Tagen, und er war für mich noch nicht viel mehr als ein Fremder, der mich gefragt hatte, was ich lese.
Soweit ich weiß, klebt dieses Foto in einem Album bei mir zu Hause. Es ist eine richtige altmodische Fotografie aus der Zeit vor dem Smartphone. Ich habe es mit meiner kompakten Nikon aufgenommen. Die Kamera liegt ebenfalls zu Hause in ihrer Schutzhülle, auf der sich seit Jahren der Staub ablagert.
Wie ist Carlson da rangekommen?
Ich lege das Blatt mit dem Foto wieder an seinen Platz und klappe das Handschuhfach zu. Dann steige ich aus dem Auto ins Mondlicht. Es kommt mir jetzt noch kälter vor. Der Wald noch dunkler. Diese Nacht hat nichts Schönes, birgt nur Gefahr.
Ich muss von hier verschwinden.
Aber zu Fuß komme ich nirgendwo hin. Das habe ich auf die harte Tour erfahren. Ich könnte jetzt nicht einmal mit Turnschuhen durch den Wald laufen. Nicht einmal mit Carlsons guten Schuhen.
Carlsons gute Schuhe.
Natürlich! Warum ist mir das bloß vorher nicht aufgefallen?
Hohe Qualität. Hervorragende Handwerkskunst. Teuer. Zu teuer für ein Beamtengehalt.
Wenn ich wüsste, wie man ein Auto kurzschließt, dann könnte ich sofort losfahren. Im Kino habe ich schon öfter gesehen, dass man nur irgendwelche Kabel aufeinanderlegen muss, damit der Motor wie von Zauberhand zum Leben erwacht, aber so einfach wird es nicht werden. Ich wüsste ja nicht einmal, wie ich die Verkleidung der Lenksäule abbekommen soll, ganz zu schweigen davon, welche Drähte ich miteinander verbinden müsste.
Ich brauche Carlsons Autoschlüssel.
Sie sind in Trevors Hütte. Bei Carlson.
Ich gehe wieder zurück. Dieses Mal überquere ich die freie Fläche vor dem Haus noch behutsamer, weil ich noch weniger Lärm machen möchte. Außerdem bin ich mir absolut nicht sicher, ob das, was ich vorhabe, wirklich das Richtige ist. Mit jedem kleinen, zögerlichen Schritt werden meine Zweifel größer.
Vielleicht gibt es ja eine ganz vernünftige Erklärung für das Foto in Carlsons Handschuhfach. Vielleicht ist er in Leo verknallt.
Reiß dich zusammen, Jem. Keine Ausflüchte jetzt.
Ich mache die Haustür auf – völlig lautlos – und bin dieses Mal noch dankbarer als zuvor, dass Trevor seinen Haushalt so hervorragend in Schuss hält. Ich husche ins Innere und sehe Carlson schlafend und aufrecht auf dem Sofa sitzen. Er sieht ganz harmlos aus. Vertrauenswürdig.
Soll ich ihn direkt fragen? Soll ich eine Erklärung für das Foto meines Mannes verlangen?
Nein, ich will ihn nicht in die Ecke drängen. Schließlich weiß ich nicht, wie er dann reagieren würde.
Vielleicht wird er gefährlich, wenn er sich bedrängt fühlt.
Ich denke an Trevor.
Eigentlich möchte ich auch ihn nicht mit Carlson alleine lassen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Ich kann unmöglich die Treppe hinaufschleichen und ihn aufwecken und warnen, ohne dabei auch Merlin wach zu machen. Von wütendem Hundegebell begleitet komme ich sicher nicht unbemerkt wieder nach draußen.
Da fällt mir etwas ein. Trevor hat eine Waffe, ein Gewehr. Er kann sich verteidigen, sollte das wirklich notwendig werden, was ich nicht glaube, weil Carlson sich garantiert unverzüglich an meine Fersen heften wird, sobald er gemerkt hat, was los ist.
Ich lasse die Tür einen Spalt breit offen stehen, um im Notfall möglichst schnell verschwinden zu können.
Carlsons Kopf hängt schief auf einer Seite, und sein Mund steht noch genauso offen wie vor wenigen Minuten. Trotzdem bin ich sehr nervös. Ich schleiche über die Bodenbretter und verziehe beim kleinsten Geräusch das Gesicht. Meine behutsamen Schritte kommen mir vor wie wütendes Stampfen.
Ich nähere mich dem Couchtisch. Carlsons Sachen liegen auf der halbierten Tür, direkt neben seinem Schlafplatz, sein Handy ebenso wie sein Portemonnaie.
Und seine Autoschlüssel.
Ich atme sehr kontrolliert ein und aus und komme näher, setze einen Fuß vor den anderen. Es dauert eine Ewigkeit, um am Sofa vorbeizukommen. Ich bleibe für einen Moment stehen und blicke auf Carlson hinab.
Schläft er fest?
Tut er nur so?
Ich schlucke. Ich schiebe mich näher. Ich strecke die Hand nach dem kleinen Stapel mit seinen Sachen aus. Zuunterst liegt das Telefon, dann das Portemonnaie und ganz oben die Autoschlüssel. Ich schlucke noch einmal. Meine Fingerspitzen rücken näher.
Carlson zuckt.
Der Atem bleibt mir im Hals stecken.
Ich reiße meine Hand zurück, aber seine Augen bleiben geschlossen. Er atmet regelmäßig weiter. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich wieder ruhiger werde, bis ich meine Angst im Griff habe. Ich versuche es noch einmal. Ich strecke die Hand aus und lasse Carlson keinen Moment aus den Augen, während meine Finger sich den Schlüsseln nähern.
Ich berühre sie. Meine Finger greifen zu wie eine Pinzette.
Ich weiß, dass sie ein Geräusch machen werden, wenn ich sie hochhebe. Sie werden klirren. Nur ein leises Geräusch, aber wird Carlson davon aufwachen? Vielleicht hat er ja einen leichten Schlaf. Vielleicht schläft er überhaupt nicht.
Er hat dir eine Falle gestellt, Jem.
Er hat die Schlüssel bewusst da hingelegt, um dich auf die Probe zu stellen.
Er will wissen, ob du ihm seine Geschichte abkaufst. Er will wissen, ob er sich auf dich verlassen kann. Er will wissen, ob du ein Problem bist, das er besser beseitigen sollte.
Ich versuche, diese Stimme in meinem Kopf zum Verstummen zu bringen. Diese endlosen, allgegenwärtigen Zweifel, die jede meiner Entscheidungen, jede meiner Handlungen sabotieren, tun mir selbst im besten Fall nicht gut. Und jetzt schon gar nicht.
Ich konzentriere mich.
Ich versuche es zumindest.
Du schaffst das, Jem.
Ich hebe die Schlüssel hoch.
Das metallische Klirren ist leise, das weiß ich, aber in der Stille der Hütte kommt es mir vor wie eine ganze Steel-Drum-Band. Ich zucke zusammen. Ich verziehe das Gesicht. Ich versuche, meine Hand möglichst gleichmäßig zu bewegen, und lasse die Schlüssel zu mir schweben.
Dabei blinzele ich kein einziges Mal. Meine Augen bleiben geöffnet, und mein Blick ist ununterbrochen auf Carlsons Gesicht gerichtet. Zittern seine Augenlider? Gibt es sonst irgendeine Reaktion zu sehen?
Nichts.
Ich schlucke und schließe die Hand fest um die Schlüssel, während ich mich vorsichtig zurückziehe. Bis ich bei der Tür bin, kann ich kein einziges Mal blinzeln, weil ich immer noch damit rechne, dass Carlson überraschend vom Sofa aufspringt. Aber er tut es nicht.
Er simuliert nicht. Er stellt mich nicht auf die Probe. Er schläft tatsächlich.
Draußen merke ich die Kälte gar nicht. Ich ziehe die Tür zu und gehe rückwärts über die freie Fläche. Erst als ich bei der Biegung des Waldwegs, im Schutz der Bäume, angelangt bin, wage ich es, mich umzudrehen. Ich haste die letzten Meter bis zu Carlsons Auto, reiße die Fahrertür auf und setze mich ans Steuer.
Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel: niemand.
Ich zittere so heftig, dass ich den Schlüssel nicht ins Zündschloss bekomme, nicht beim ersten Versuch und auch nicht beim dritten.
Ich mache die Augen zu, hole tief Luft und versuche krampfhaft, ruhiger zu werden. Doch je mehr ich nachdenke, desto heftiger zittere ich.
Leo.
Ich denke an Leo. Ich stelle mir sein Lächeln vor. Ich erinnere mich an seine warmen Umarmungen, an das Glück und den Frieden, die ich nur in seiner Gegenwart empfinde. Das funktioniert.
Meine Finger erlangen ihre Beweglichkeit zurück, der Schlüssel gleitet ins Schloss, und ich drehe ihn um.
Der Anlasser jault, aber der Motor springt nicht an.
»Oh nein, tu mir das nicht an.«
Liegt es an der Kälte? An etwas anderem? Ich habe keine Ahnung. Ich bin kein Mechaniker.
Ich versuche es noch einmal. Der Anlasser jault so laut, dass ich garantiert den ganzen Wald damit aufwecke. Doch der Motor macht keinen Mucks.
Ich blicke in den Rückspiegel: wieder niemand.
Auf dem Armaturenbrett ist keine blinkende Warnleuchte zu entdecken. Der Tank ist voll. Öl ist auch noch reichlich vorhanden. Alles sieht gut aus. Ich kann absolut keinen Grund erkennen, wieso der Motor nicht anspringen will.
Vielleicht hat Carlson das Auto ja sabotiert, damit ich nicht entkommen kann.
Oh Gott, das ist die Probe.
Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn auf dem Sofa unruhig werden, als er das Jaulen des Anlassers hört, sehe, wie er aufspringt, zur Tür eilt, mit der Pistole in der Hand über die Freifläche stürmt und jeden Moment hinter der Wegbiegung auftauchen kann.
Ich drehe noch einmal den Zündschlüssel. Der Motor springt an.
Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel: Da ist jemand.
22.50 Uhr
Eine dunkle Silhouette vor dem Hintergrund der Bäume. Im silbernen Mondlicht lassen sich Einzelheiten erahnen. Ein Mann nähert sich. Ich bin gelähmt vor Angst, aber nur für einen Moment.
Nicht Carlson. Trevor.
Er kommt auf den Wagen, auf mich zu.
»Was haben Sie vor?«, frage ich ihn.
Trevor knurrt: »Was ich vorhabe? Was haben Sie denn vor?«
»Keine Zeit«, lautet meine Antwort. »Wir müssen verschwinden. Steigen Sie ein.«
Er ist verwirrt. Wie sollte es auch anders sein? »Und warum müssen wir verschwinden?«
»Sie haben recht gehabt, wegen Carlson«, sage ich. »Da ist was faul. Er kennt Leo gar nicht, obwohl er das behauptet hat. Ich habe jetzt keine Zeit für ausführliche Erklärungen. Steigen Sie einfach ein. Bitte.«
»Was ist denn passiert?«
»Trevor, wir haben keine Zeit! Steigen Sie ein. Wir müssen weg, bevor er aufwacht.«
Trevor schüttelt den Kopf. »Ich lasse mein Zuhause nicht im Stich. Wenn tatsächlich irgendetwas nicht stimmt, dann gehen wir am besten zurück und finden raus, was es ist.«
Ich bedeute ihm einzusteigen. »Bitte, Trevor. Wenn Sie jetzt nicht einsteigen, dann lasse ich Sie hier stehen.«
»Sie meinen, so, wie Sie es sowieso vorgehabt haben, bevor ich Ihr Vorhaben durchkreuzt habe?«
»Ich wollte Sie nicht alleinelassen, ich schwöre. Aber ich habe schreckliche Angst, Trevor. Wenn ich Ihnen gesagt hätte, was ich vorhabe, dann hätte ich Carlson gewarnt. Er ist ja hinter mir her, nicht hinter Ihnen.«
Trevor denkt kurz nach, dann sagt er: »Sie kommen hierher, zu meiner Hütte, zusammen mit diesem Mann. Sie versichern mir, dass er vertrauenswürdig ist, und jetzt haben Sie Angst vor ihm? Jem, das ergibt doch wirklich keinen Sinn.«
»Ich kann Sie sehr gut verstehen, ganz bestimmt. Aber das bedeutet nicht, dass ich unrecht habe. Trevor, mein Tag bis jetzt war wirklich die Hölle. Man hat versucht, mich umzubringen. Ich verstehe immer noch nicht, warum, und ich weiß absolut nicht, wem ich noch vertrauen kann und wem nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr, nur, dass ich sofort von hier verschwinden muss. Ich möchte Sie nicht allein mit Carlson zurücklassen. Und ich schwöre, dass ich ganz bestimmt nicht einfach so weggefahren wäre, wenn ich irgendeine Möglichkeit gesehen hätte, Sie zu wecken, ohne dass er es merkt. Aber diese Möglichkeit gab es nicht. Ich will Sie wirklich nicht zurücklassen, also bitte, zwingen Sie mich nicht dazu. Steigen Sie endlich ein. Kommen Sie mit. Ich versuche, Ihnen alles zu erklären, so gut ich nur kann, und falls Sie danach wirklich nicht neben mir sitzen bleiben wollen, dann halte ich sofort an und lasse Sie aussteigen. Oder ich bringe Sie in die Stadt oder sonst wo hin. Aber nur falls. Es dauert zehn Minuten, und ich fahre jetzt los. Also bitte, vertrauen Sie wenigstens einmal im Leben einem anderen Menschen und steigen Sie in dieses verdammte Auto.«
Trevor gehorcht.
»Danke«, sage ich und gebe Gas.
Während ich den gewundenen Waldweg entlangfahre, schaut Trevor ununterbrochen zum Heckfenster hinaus.
»Machen Sie sich keine Sorgen um Merlin«, sage ich. »Der Hund ist Carlson doch völlig schnuppe. Sobald er begriffen hat, dass wir weg sind, schnappt er sich Ihren Pick-up und fährt uns hinterher. An Merlin wird er keinen Gedanken verschwenden. Wir müssen zusehen, dass wir möglichst viel Vorsprung gewinnen.«
»Ich verstehe«, sagt Trevor und versucht, seine Besorgnis vor mir zu verbergen. »Ich mache mir allerdings viel mehr Sorgen darüber, dass Carlson von der Straße abkommen könnte. Mein Pick-up zieht wie verrückt nach links.«
Sobald wir auf dem Highway sind, beuge ich mich über Trevor hinweg und öffne das Handschuhfach. Dann drücke ich ihm das gefaltete Blatt Papier in die Hand.
»Wer ist denn der hübsche Knabe?«, will er wissen.
»Das ist Leo. Das ist mein Mann.«
»Bisschen zu jung für Sie, finden Sie nicht?«
»Also, erstens ist das ein altes Foto. Zweitens, selbst wenn es das nicht wäre, geht Sie unser Altersunterschied überhaupt nichts an. Wo sind eigentlich Ihre Manieren geblieben?«
»Tut mir leid«, sagt er. »Was ist denn in Sie gefahren?«
»Ich bin nicht in Stimmung, kritisiert zu werden, Trevor.«
»Sie haben doch gesagt, es ist ein altes Foto.«
»Darum geht es nicht«, fauche ich ihn an. »Jedenfalls, was will Carlson mit einem Foto von Leo, wenn er Leo persönlich kennt?«
Trevor gibt keine Antwort.
»Das braucht er dann doch gar nicht, oder?«
»Vielleicht will er es anderen Leuten zeigen?«, wagt Trevor sich vor.
Ich schüttele den Kopf. »Dann würde er ja kein altes Foto nehmen. Nicht, dass Leo sich in den letzten zehn Jahren entscheidend verändert hätte, aber wenn man jemandem ein Foto zeigt, um eine andere Person zu identifizieren, dann nimmt man doch ein aktuelles, oder? Sie etwa nicht? Also, ich auf jeden Fall.«
»Ich auch.« Trevor nickt. »Nicht, dass ich überhaupt Fotos hätte, die ich irgendjemandem zeigen könnte.«
»Nicht mal von einer Ex-Freundin?«
»Nein.«
»Nicht einmal von Merlin?«
»Wozu brauche ich ein Foto von meinem Hund? Den sehe ich doch sowieso ununterbrochen.«
Am liebsten würde ich ihm sagen, dass Merlin nicht ewig leben wird, aber ich bringe es nicht über mich, ihm zu erklären, dass ihm ein Foto von Merlin vielleicht helfen könnte, über den Verlust hinwegzukommen. Ich weiß auch nicht, ob Trevor tatsächlich so ignorant ist oder ob er solche Gedanken schlichtweg nicht zulassen will. So oder so, ich lasse das Thema fallen.
»Trevor«, sage ich stattdessen. »Wieso sind Sie überhaupt auf, und warum sind Sie komplett angezogen?«
»Ich musste mal pinkeln, wenn Sie’s genau wissen wollen«, erwidert er achselzuckend.
»Und dazu ziehen Sie sich an?«
»Nein. Aber ich schlafe angezogen, damit ich mir, wenn ich die Latrine benutzen muss, nicht erst was überziehen muss. Hier oben wird es nachts nämlich ganz schön kalt, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.«
Er unterbricht sich kurz, dann sagt er: »Wissen Sie, Sie hätten mir auch einfach sagen können, dass Carlson ein Foto von Ihrem Mann im Handschuhfach hat. Das wäre schneller gegangen als dieser scharfsinnige Vortrag zum Thema Vertrauen.«
»Ja, ja.« Ich gebe nur ungern zu, dass er recht hat. »Das ist mir auch gerade aufgefallen.«
»Trotzdem, guter Vortrag.«
Ich lächele ihn an. Er erwidert mein Lächeln.
»Wo fahren wir denn hin?«, will er wissen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Wir fahren zunächst einmal in Richtung Stadt, weil ich an der Kreuzung, wo der Waldweg auf die Straße trifft, automatisch nach Süden abgebogen bin. Das macht mich nervös, aber da ich sowieso nicht weiß, was ich machen soll und wohin ich fahre, müsste eigentlich jede Richtung so gut sein wie die andere.
»Da«, sage ich und beuge mich nach vorne.
»Was meinen Sie?«, erwidert Trevor.
Ich zeigte über das Lenkrad hinweg. »Neben dem Stoppschild.«
Ein Münzfernsprecher.
Mir war bisher nicht aufgefallen, wie rar sie geworden sind oder womöglich immer schon waren. Und ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen benutzt habe. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ob ich jemals einen benutzt habe. Aber es gibt sie immer noch, als Überbleibsel aus einer früheren, einfacheren Zeit.
Einer besseren Zeit.
»Warten Sie hier«, sage ich zu Trevor, während ich am Straßenrand anhalte.
»Wo soll ich denn hin?«, fragt er zurück.
Ich werfe mehrere Vierteldollarmünzen in den Schlitz. Ich weiß gar nicht, wie viele man braucht. Ich weiß nicht, wie, aber das Ding funktioniert trotzdem. Ich tippe Leos Handynummer ein, das ist wohl die einzige Nummer, die ich mir merken kann.
Es klingelt und klingelt und klingelt.
»Hier ist Leo, Nachrichten nach dem Piep.«
Ich warte auf den Piep und sage: »Leo, Liebling, ich weiß nicht, was los ist, aber du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten. Mich wollte heute sogar jemand umbringen. Oh Gott, ich … ich bin so durcheinander. Ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll. Traue niemandem. Traue niemandem namens Wilks oder Carlson. Geh nicht nach Hause. Komm nicht in die Stadt. Ich habe mein Handy nicht dabei. Ich rufe von einem Münztelefon aus an. Den ganzen Tag lang habe ich nach so einem Ding gesucht. Wieso findet man die so selten? Liebling, ich versuche rauszukriegen, was das alles soll. Mehr will ich am Telefon nicht sagen. Könnte sein, dass sie uns abhören. Ich melde mich wieder, sobald ich kann. Oh Gott, ich hoffe bloß, dass dir nichts zugestoßen ist. Eigentlich müsstest du …«
Die Leitung wird unterbrochen. Der Münzvorrat ist aufgebraucht.
Ich überlege, ob ich welche nachwerfen soll, aber ich habe alles gesagt, was ich sagen muss. Er wird ohnehin schon längst Bescheid wissen. Ich bin sicher, dass er ganz genau weiß, was hier los ist. Er muss es wissen.
Und ich muss ihn finden.
0.00 Uhr
Leichen sind wirklich seltsame Dinger. Sie sehen so lebensecht aus, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Die meisten Leute begegnen dem Tod ja hauptsächlich in Filmen und nicht im wirklichen Leben, darum kann der frontale, ungefilterte Anblick eines Leichnams eine ziemlich schockierende Wirkung haben. Manche kommen überhaupt nicht damit klar, schon gar nicht beim ersten Mal. Und dann gibt es noch die Fälle, wo eine gewisse Brutalität mit im Spiel war …
»Wie geht’s Zeke?«, erkundigt sich Rusty.
Sabrowski zuckt mit den Schultern. »Ich glaube, er ist jetzt fertig damit zu kotzen.«
»Bitte sag, dass er das draußen erledigt hat, ohne mir meinen Tatort zu versauen, ja?«
Er erwidert: »Könnte schon sein, dass die Eingangstreppe auch ein paar Spritzer abgekriegt hat.«
Rusty seufzt, aber viel lässt sich daran jetzt auch nicht mehr ändern. Leider hat sie ihre Zeitmaschine wieder mal zu Hause liegen lassen. Messers Leichnam liegt im Hausflur und bildet dort eine einzige große, aufgedunsene Schweinerei.
»Was kannst du mir sagen?«, will Rusty wissen.
»Er ist nicht friedlich im Schlaf gestorben.«
Der Gerichtsmediziner ist schlecht gelaunt, weil er drei Dörfer weiter wohnt und fest geschlafen hat, als der Anruf kam. Darum weist Rusty ihn auch nicht in die Schranken. Für sie ist es auch ziemlich spät, so wie für alle. Niemand ist freiwillig hier.
Rusty betrachtet Messer.
»Er am allerwenigsten«, sagt sie zu sich selbst.
Sabrowski schaut sie an, weil er ihr Gemurmel gehört, aber nicht verstanden hat. Rusty schüttelt den Kopf, was so viel bedeutet wie »Vergiss es«.
»Ist das ein Fettfleck da an deinem Hemdkragen, Herr Wachtmeister?«
Da ist zwar keiner, aber Sabrowski versucht trotzdem, ihn wegzuwischen. Rusty lässt ihn stehen. Sie muss ununterbrochen blinzeln, weil sie sich seit seinem Anruf vermutlich sechzehntausend Mal Tropfen in die Augen geträufelt hat. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie trotzdem immer noch röter sind als eine Bloody Mary. Ihr ist auch klar, dass da höchstwahrscheinlich nur die Paranoia aus ihr spricht, aber wer als zugedröhnte Dienststellenleiterin zum Schauplatz eines Mordes gerufen wird, hat jedes Recht, paranoid zu sein.
Sie ist sich sicher, dass er sie misstrauisch beäugt. Sie täuscht ein Gähnen vor. Müde oder high, das ist in vielen Fällen kaum zu unterscheiden.
»Wie geht es Ihnen?«, wendet sich Rusty an Wilks, um sich von der wissenden Neugier in den kugelrunden Augen ihres Wachtmeisters abzulenken.
Wilks hat ein paar Eiswürfel in ein Handtuch gewickelt und drückt es sich gegen den Schädel. »Hab schon Schlimmeres erlebt.«
Rusty hebt die Augenbrauen. »Tatsächlich? Dann würde ich vorschlagen, Sie suchen sich einen Job, wo Sie nicht regelmäßig eine Tracht Prügel beziehen, oder?«
Wilks bleibt stumm.
Rusty hat ein schlechtes Gewissen. Es ist nicht ihre Art, jemanden, der am Boden liegt, zu treten, aber sie ist müde und bekifft und paranoid und ihr Blutzuckerspiegel niedrig. Unter solchen Bedingungen könnte selbst eine Heilige ein wenig reizbar werden.
Sie macht den Mund auf und will sich entschuldigen, da wendet Wilks sich bereits ab und geht weg, vielleicht um zu telefonieren, vielleicht um etwas zu überprüfen oder einfach, um einen Moment lang alleine zu sein.
»Was hältst du davon, Herr Wachtmeister?«
Sabrowski hört nicht zu und setzt eine ratlose Miene auf, als sie ihn auffordernd anschaut.
»Was hältst du davon?«, wiederholt sie. »Was glaubst du, was sich hier abgespielt hat?«
»Irgendjemand hat den Dicken da erschossen. Also, nicht da auf dem Boden, sondern schon vorher. Deswegen liegt er ja da auf dem Boden.«
»Vielen Dank für die Erläuterung, Herr Wachtmeister.«
Der Gerichtsmediziner ist genauso müde und gereizt wie Rusty und schickt ihr ein leises Grinsen, weil sie beide ähnlich sarkastisch veranlagt sind. Sie revanchiert sich mit einem Augenzwinkern.
Rustys Handy klingelt. Sie wirft einen Blick auf die Anruferkennung und geht nach draußen, wobei sie sorgfältig darauf achtet, nicht in die gelblichen Flecken mit Zekes Mageninhalt auf der Eingangstreppe zu treten.
»Hier spricht Rusty.«
Am anderen Ende der Leitung ist ihre Freundin von der Westküste. Auch sie ist noch spät bei der Arbeit, wenn auch nicht ganz so spät wie sie hier.
Rusty hört zu.
»Soll das ein Witz sein?«, fragt sie, nachdem ihre Freundin fertig ist.
Sabrowski sieht Rustys Gesichtsausdruck und weiß, dass irgendetwas im Busch ist, aber nicht, worum es geht. Darum wartet er auf eine Erklärung, nachdem Rusty aufgelegt hat. Sie beachtet ihn nicht.
Sie entdeckt Wilks in der Küche, wo sie sich noch mehr Eiswürfel für ihren Kopf besorgt. Rusty steht einen Augenblick stumm vor ihr und sucht nach den richtigen Worten.
»Was gibt es denn?«, will Wilks wissen.
»Was es gibt?«, wiederholt Rusty. »Die Frage ist viel eher, was es nicht gibt, Agentin Wilks.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich habe eine Freundin«, erläutert Rusty. »Von früher. Also, tiefstes Mittelalter, meine ich. Ich wette, Sie haben auch solche Freundinnen, stimmt’s? Man hat das eine oder andere zusammen durchgestanden, und daraus entsteht ein stabiles Band, das niemals reißt, egal, wie weit man voneinander entfernt ist, egal, wie viel Zeit vergeht. Freundinnen, die man aus heiterem Himmel anrufen kann und die dann alle Hebel in Bewegung setzen, nur um einem zu helfen. Haben Sie solche Freundinnen?«
Wilks bleibt stumm.
»Also, ich schon«, fährt Rusty fort. »Sie war schon beim Militär und bei der Strafverfolgung. Sie hat alle möglichen Jobs gemacht, über die sie mit mir nicht sprechen darf, und hat dabei alle möglichen Leute kennengelernt. Sie hat für so viele Menschen so vieles geleistet, dass sie schneller einen Termin beim Präsidenten bekommen könnte, als Sie oder ich bei unserem Bankberater. Diese Freundin, diese gut vernetzte Freundin also, habe ich heute im Lauf des Tages angerufen. Gleich nachdem Sie und Ihr frisch verstorbener Kollege mein Büro verlassen haben. Ich habe sie angerufen, weil ich ein seltsames Gefühl hatte, was ich aber nicht so richtig zu fassen bekommen habe. Ich erzähle ihr also von den beiden FBI-Agenten, die am Morgen zu mir auf die Wache gekommen sind, obwohl ich in meiner ganzen Zeit als Polizeichefin noch nicht ein Mal erlebt habe, dass irgendjemand vom Bureau auch bloß gegen die Wand meiner Wache gepisst hat. Ich erzähle dieser guten Freundin, dass da irgendwas faul ist, dass irgendwas nicht richtig zusammenpasst, trotz Ihrer Dienstmarken und Ihrer Anzüge und Ihrer selbstgerechten Attitüde. Ich frage sie, ob sie sich ein bisschen nach zwei Agenten namens Wilks und Messer umhören kann. Und dass ich mich sehr freuen würde, wenn sie mir Bescheid sagt, was sie rausgekriegt hat.« Rusty hält kurz inne. »Möchten Sie vielleicht mal raten, was sie herausgefunden hat?«
Wilks schweigt.
»Ganz genau«, fährt Rusty fort. »Gar nichts. Zwei FBI-Agenten namens Wilks und Messer gibt es nämlich gar nicht. Und für eine einfache junge Frau wie mich ist das wirklich außerordentlich verwirrend.« Sie drückt sich die beiden Daumen gegen die Schläfen, um ihre Aussage zu unterstreichen. »Also dann, Special Agent oder was immer Sie sein mögen Wilks … möchten Sie mir vielleicht verraten, wer Sie in Wirklichkeit sind und was Sie in meiner Stadt zu suchen haben, bevor ich Sie wegen Amtsanmaßung in einem besonders schweren Fall festnehme?«
»Ich nehme an, wir sollten die ganze Angelegenheit unter vier Augen besprechen.«
Rusty nickt. »Also, warum bloß hatte ich das seltsame Gefühl, dass Sie genau das sagen würden?«
0.05 Uhr
Abgesehen von einem kurzen Zwischenstopp in einem Nachtcafé – oder war es vielleicht ein Diner? – bleiben wir immer in Bewegung. Das fühlt sich sicherer an als die Alternative. Trevor redet nicht viel, und ich auch nicht. Uns gehen viel zu viele Gedanken durch den Kopf, und das Schweigen besitzt eine erdrückende Intensität. Ich sehne mich nach einem langweiligen, oberflächlichen Gespräch über das Wetter oder etwas Ähnliches, um meine Angst in den Griff zu bekommen, aber wir sind beide absolut nicht zum Plaudern aufgelegt.
Es dauert nicht lange, dann müssen wir eine Tankstelle ansteuern, weil die Tankanzeige knapp über der roten Markierung schwebt. Mit einem leeren Tank irgendwo auf offener Strecke liegenzubleiben ist wirklich das Letzte, was ich will. Trevor bleibt in Carlsons Wagen, während ich hineingehe, um zu bezahlen.
Ich komme mir dabei irgendwie merkwürdig vor. Mir ist klar, dass ich nichts Schlimmes getan habe, dass ich nur in Notwehr gehandelt habe, aber trotzdem fühle ich mich wie eine Schwerverbrecherin, wie eine Flüchtige. Das bin ich wohl auch, da ich eine Straftat nicht gemeldet habe oder einen Tatort verlassen habe oder was auch immer. Ich weiß wirklich nicht, welche Gesetze in so einem Fall gelten oder welche ich vielleicht gebrochen habe und immer noch breche. Unwissenheit schützt nicht vor Strafe, auch das ist mir klar, aber im Augenblick gehen mir einfach zu viele andere Dinge durch den Kopf.
Ich kaufe Wasser und ein paar Snacks – wer weiß, wann wir wieder etwas zu essen bekommen. Eine ganze Weile streife ich durch die Gänge, weil ich das Sandwich mit gegrilltem Käse vorhin so gut wie gar nicht angerührt habe und beim Anblick dieser ganzen Leckereien Hunger bekomme. Aber natürlich sorgt mein unruhiger, verängstigter Geist dafür, dass ich nicht weiß, was ich will. Obwohl, eigentlich weiß ich ganz genau, was ich will. Ich will ein leckeres, warmes Essen, frisch zubereitet in meiner eigenen Küche mit meinen Küchengeräten und selbst gezogenem Gemüse, und dann will ich mich zusammen mit Leo an meinen eigenen Tisch setzen und mit ihm essen und über unseren verrückten Tag reden und lachen, weil es alles vorüber ist.
So eine einfache Fantasie und gleichzeitig so weit außerhalb meiner Reichweite, dass ich mich frage, ob ich das je wieder erleben werde.
Wo bist du, Leo?
Was machst du gerade?
Ich halte mich so lange auf, dass die Angestellte an der Kasse mich ansieht, als würde sie mich für eine nervöse Ladendiebin halten. Kaum bemerke ich das, schaltet meine Angst in den nächsten Gang, und ich werde beinahe panisch, als würde ich bis zum Beweis des Gegenteils als schuldig gelten. Verkrampft wie ich bin, stoße ich gegen ein Regal mit Snack-Packungen, sodass etliche davon auf dem Fußboden landen.
Trotz meiner Ungeschicklichkeit stehen sie gleich darauf wieder im Regal, und ich entscheide mich für eine Tüte Tortilla-Chips und zwei Flaschen Wasser, angereichert mit Vitaminen. Die bringe ich zur Kasse.
Während ich das Kleingeld einstecke, sage ich: »Gibt es hier vielleicht ein Münztelefon?«
Die junge Frau starrt mich entgeistert an. »Ein Münztelefon?«
»Ja, genau. Ein Telefon, das man mit Münzen füttert, damit man telefonieren kann.«
»Haben Sie denn kein Handy?«
»Nicht dabei. Genau deswegen brauche ich ja ein Münztelefon.«
»Aha«, sagt sie daraufhin.
»Und …«
»Und?«
»Haben Sie ein Münztelefon?«
Sie schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, erwidere ich.
Als ich zum Wagen zurückkomme, sagt Trevor: »Wieso hat das so lange gedauert?«
Ich lasse mich auf den Fahrersitz gleiten und schüttele den Kopf. Dann drücke ich ihm die Tortilla-Chips und eine Wasserflasche in die Hand. Er beäugt die Flasche misstrauisch und lässt sie in den Fußraum plumpsen, dann wendet er sich den Chips zu.
»Haben sie die scharfen nicht gehabt?«
»Ich … ich weiß nicht. Ich war ziemlich durcheinander, Trevor. Tut mir leid.«
Er signalisiert mir mit einem Knurren, dass es nicht weiter schlimm ist.
»Wir brauchen einen Plan«, sagt er dann.
Ich mache meine Wasserflasche auf. »Das ist der Grund, wieso ich so durcheinander bin.«
Trevor reißt die Chipstüte auf. »Sie wollen nicht zur Polizei gehen?«
»Nein«, erwidere ich mit fester, nachdrücklicher Stimme. »Ich habe keine Ahnung, wer für das FBI arbeitet und wer nicht, oder wer für ein Kartell arbeitet und wer nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Behörden auf meiner Seite stehen und welche nicht. Wenn ich jetzt zu Rusty gehe, dann kann ich mir gleich eine Leuchtreklame um den Hals hängen, damit die nächsten Wilks und Messer oder von mir aus auch der nächste Carlson mich auf keinen Fall übersehen können.«
Trevor grummelt zustimmend. »Hab ich doch gleich gesagt. Diesen Regierungstypen kann man nicht trauen.«
Wolken schieben sich vor den Mond.
Er knabbert Chips und starrt zur Windschutzscheibe hinaus. Ich betrachte sein Spiegelbild, bin fasziniert von der Intensität seines Blicks und der Entschlossenheit in seinen silbrig-blauen Augen.
»Es ist unmöglich«, sagt er zwischen zwei Bissen. »Also geben Sie sich keine Mühe.«
»Was ist unmöglich?«
Er lässt den Blick nach draußen gerichtet. »Meine Gedanken zu lesen. Keine Chance, also können Sie Ihre Versuche auch einstellen. Hab mir einen Mikrochip einpflanzen lassen, damit der Staat mit seinen Gammastrahlen meine Gedanken nicht analysieren kann.«
Beinahe – beinahe  – hätte ich den Köder geschluckt.
Er lächelt und freut sich, dass ich mich um ein Haar zum Affen gemacht hätte.
»Sie sind ein Rätsel, Trevor«, sage ich. »Und zwar eines, das ich unbedingt lösen will.«
»Vielleicht sollten Sie Ihre Zeit lieber damit verbringen rauszukriegen, wer Sie eigentlich umbringen will und warum die Ihrem Mann auf den Fersen sind.«
»Zur Kenntnis genommen.«
Ich versuche es. Und scheitere.
Trevor leckt sich Salz von den Fingern. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf …«
Ich schlucke. Nicke nachdrücklich. »Bitte sehr, ich bin ganz Ohr.«
»Was wollen diese Leute eigentlich?«
»Soweit ich es beurteilen kann, kann ich kein Wort von allem, was ich heute zu hören bekommen habe, glauben. Leo ist ein Geldwäscher, ein Dieb … er besitzt Informationen über ein Kartell, ist ein FBI-Informant.«
»Okay.« Er hält inne und setzt noch einmal neu an. »Was haben sie alle gemeinsam?«
»Sie suchen nach Leo.«
»Warum?«
»Weil er ein Geldwäscher oder Dieb oder heimlich Busfahrer ist.«
Trevor nickt. »Na bitte, da haben Sie’s.«
»Da habe ich was?«
»Das müssen Sie rauskriegen. Was stimmt? Was ist Leo? Und sobald Sie das wissen, können Sie rauskriegen, was die anderen wirklich von ihm wollen.«
»In der Theorie klingt das großartig, Trevor, aber wie soll ich das denn rausfinden?«
Achselzuckend kaut er auf seinen Chips herum. »Er ist ja Ihr Mann, nicht meiner. Sie sollten ihn eigentlich besser kennen als jeder andere.«
»Im Moment kommt es mir so vor, als würde ich ihn überhaupt nicht kennen. Was immer er ist, was immer er macht, er hat es mir auf jeden Fall schon lange verheimlicht.« Ich schüttele den Kopf. »Ich komme mir total dämlich vor. Als hätte er mich von Anfang an hintergangen, sodass ich ihn für jemanden halte, der er gar nicht ist.«
»Sie wissen doch gar nicht, was er Ihnen vorenthalten hat, also gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht.«
»Zu hart mit mir selbst ins Gericht zu gehen, das ist eigentlich mein Standardprogramm. Wenn es in diesem ganzen Durcheinander einen Menschen gibt, dem ich am allerwenigsten traue, dann bin ich das selbst.«
»Das ist doch Fernsehgequatsche.«
»Fernsehgequatsche?«
»Ja, genau«, stößt er mit Nachdruck hervor. »Fernsehgequatsche. Der Blödsinn, mit dem sie heutzutage ihre Sendezeit füllen. Alle haben sie dieses Problem oder jene Krankheit, und niemand hat mehr einfach einen schlechten Tag, weil sie alle stattdessen deprimiert sein müssen. Wissen Sie, woran das liegt?«
Ich rolle mit den Augen. »Sie erzählen es mir bestimmt gleich.«
»Und ob! Alle müssen immer irgendwas haben, weil ein schlechter Tag nämlich keinen Gewinn abwirft. Solange Sie keine Krankheit haben, kann Ihnen ein Quacksalber auch kein Fläschchen mit Wundermittel andrehen. Und die Leute saugen das alles auf wie wild, weil sie dadurch nämlich eine Ausrede haben. Sie tragen keine Verantwortung mehr für ihr Handeln, weil sie nämlich dieses Leiden haben oder jenes. Wie sind die Leute bloß früher klargekommen, ohne Diagnose, ohne Behandlung? Die Zivilisation hätte eigentlich schon vor Ewigkeiten zum Stillstand kommen müssen.«
Das Blut schießt mir in die Wangen. »Bloß weil Sie keine direkte Erfahrung mit etwas gesammelt haben, heißt das noch lange nicht, dass es das nicht gibt.«
»Manchmal ist ein schlechter Tag eben nicht mehr als ein schlechter Tag.«
»Das ist wirklich unglaublich unsensibel, was Sie da sagen.«
Er schnaubt. »Unsensibel …«
»Ja, genau. Unsensibel.«
»Gegenüber wem?«
»Na, zunächst einmal mir gegenüber, aber auch gegenüber vielen anderen Menschen. Kann ja sein, dass Sie mit einem widerstandsfähigen, gesunden Gehirn gesegnet sind, aber das trifft nicht auf jeden zu. Das Gehirn ist ein menschliches Organ, genau wie alle anderen auch. Manchmal geht etwas schief. Wenn jemand einen Herzfehler hat, dann sagen Sie dem doch auch nicht, dass alles in Ordnung ist, bloß weil Ihr eigenes Herz keine Probleme macht, oder?« Er zögert zu lange mit der Antwort auf meine rechtschaffene Empörung. »Oder?«
Er murmelt etwas vor sich hin, was ich als Eingeständnis interpretiere.
»Zeigen Sie wenigstens ein bisschen Mitleid mit denen, die weniger Glück gehabt haben als Sie, ich bitte Sie.«
»Ich sage doch bloß, dass ein schlechter Tag manchmal nicht mehr ist als ein schlechter Tag.«
»Ja, manchmal, das ist richtig«, pflichte ich ihm bei. »Heute, zum Beispiel. Heute war ein richtig schlechter Tag.«
Er streckt mir die Tüte mit den Chips entgegen. »Nehmen Sie sich ein paar. Danach geht es Ihnen besser.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich esse keine MUFS.«
»Was zum Teufel soll das denn sein?«
»Mehrfach ungesättigte Fettsäuren«, antworte ich.
Trevors Gesichtsausdruck verrät mir, dass er sich nicht besonders für Ernährungslehre interessiert.
»Pflanzenöl«, erkläre ich ihm. »Na ja, es wird Pflanzenöl genannt, auch wenn es in Wirklichkeit Samenöl ist. MUFS werden sehr schnell ranzig und verursachen im Körper jede Menge oxidativen Stress, lösen Entzündungsprozesse aus, die die verschiedensten Probleme verursachen können, angefangen bei Herzkrankheiten bis hin zu Diabetes.«
Trevor starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Sie sagen zwar alles Mögliche, aber ich verstehe kein Wort.«
»Gift, Trevor«, sage ich. »Diese Chips sind in Gift frittiert worden.«
Jetzt steht sein Mund genauso weit offen wie seine Augen.
»Scheiß drauf«, sage ich und greife in die Tüte. »Diabetes ist im Moment das geringste meiner Probleme.«
Trevor lächelt. »Na, bitte. Jedes Ding hat eben zwei Seiten.«
Ich knuspere eine Weile vor mich hin. Die Chips schmecken wirklich köstlich.
»Ich hab’s«, sage ich dann.
Trevors Augenbrauen zucken wie zwei buschige Raupen. »Diabetes? Das ging aber schnell.«
»Ha, ha.« Ich lächele ihn schief an. »Nein, nicht Diabetes. Ich habe einen Plan.«
Trevor wischt sich Salzkörner von den Fingerspitzen. »Ich höre.«
»Wir machen bei Leo eine Steuerprüfung.«
»Wir machen was?«
Ich nicke. »Was immer diese Leute wollen, wo immer die Wahrheit liegen mag, wir wissen, dass es mit Leos Weinhandel zusammenhängt. Ob es nun als Fassade für die Geldwäsche dient oder sonst etwas, sein Unternehmen spielt jedenfalls die entscheidende Rolle.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Also werfen wir mal einen Blick in Leos Bücher.«
»Wieso?«
»Weil die Zahlen nicht lügen.«
»Verstehe ich nicht.«
»Das kommt schon noch«, versichere ich ihm. »Und jetzt nehmen Sie die Tüte da wieder weg, bevor ich sie alleine leer futtere.«
Trevor zieht seine Hand zurück und wirft einen Blick in die Tüte. »Da haben Sie aber ordentlich zugeschlagen. Ich weiß nicht, ob noch genügend übrig sind, damit …«
»Das kann warten, Trevor. Das kann warten.«
Trevor kann nicht still sitzen. Nervös rutscht er auf seinem Sitz hin und her. Ich merke, dass etwas in ihm arbeitet, dass er nach Worten sucht, und lasse ihn in Ruhe. So habe ich mehr Zeit, um alles zu durchdenken.
Schließlich sagt er: »Jem, ich …«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, unterbreche ich ihn. »Das, was Sie da über das Fernsehgequatsche gesagt haben … schon vergessen.«
Er nuschelt: »Also, eigentlich wollte ich bloß sagen, dass ich auch fahren kann, falls Sie zu müde sind.«
Ich blicke ihn von der Seite her an. Auf seinem Gesicht liegt ein kleines, schiefes Lächeln.
»Bleiben Sie genau so, wie Sie sind, Trevor«, sage ich zu ihm. »Bleiben Sie genau so.«
Ich hingegen, ich muss mich ändern. Ich darf nicht immer alles glauben, was die Leute mir erzählen.
Wie Trevor gesagt hat: Ich kann nur mir selbst trauen. Ich kann mich nicht auf die Worte der anderen verlassen. Ich muss dieser Sache ganz alleine auf den Grund gehen.
Dann, und nur dann, werde ich erfahren, wer die Wahrheit gesagt hat.
0.17 Uhr
Wir sind lange unterwegs, bis wir zu Leos Lagerhalle kommen, und somit haben wir viel Zeit zum Nachdenken, viel Zeit, uns Sorgen zu machen. Mir gehen unzählige beunruhigende Dinge gleichzeitig durch den Kopf, darum kann ich es kaum fassen, dass das, was mich am stärksten aufwühlt, ein mürrischer alter Hund ist.
»Ich mache mir Sorgen um Merlin«, sage ich zu Trevor.
Er nicht.
»Nicht nötig«, sagt er. »Er ist eine ausgesprochen selbstständige kleine Töle. Ab und zu verschwindet er einfach im Wald, und ich bekomme ihn eine ganze Woche lang nicht zu sehen, und wenn er dann zurückkommt, sieht er immer noch genauso aus wie vorher. Ich weiß zwar nicht, wie er das macht, aber er kann sehr gut für sich selber sorgen. Falls ich einen Herzinfarkt kriege und tot zusammenbreche, würde ihm das auch nichts ausmachen. Ich würde ihm nicht mal fehlen.«
Ich boxe ihn sanft auf den Arm. »Sagen Sie das nicht.«
»Wieso denn nicht? Er ist ein Hund.«
»Das doch nicht. Ich meine das mit dem Herzinfarkt.«
»Wieso denn nicht?«, wiederholt Trevor. »Ich bin ein alter Mann, älter, als ich je erwartet habe. So, wie ich das sehe, ist jede Sekunde, die ich noch aufrecht stehen kann, ein Triumph. Aber es ist ein Kampf, den ich nicht gewinnen kann. Selbst der größte Trottel kann ihn nicht gewinnen, aber nur echte Trottel akzeptieren das nicht.«
»Ich weiß beim besten Willen nicht, ob Sie einfach nur pragmatisch veranlagt oder schon ein Nihilist sind.«
»Vielleicht ja keines von beiden. Haben Sie sich das schon mal überlegt? Vielleicht bin ich einfach nur ich.«
Ich halte erneut bei einem Münzfernsprecher an und wundere mich, dass wir abermals bei einem vorbeikommen. Als wären alle Münzfernsprecher des Landes plötzlich an unsere Strecke verlegt worden. Ich rufe Leos Handynummer an und bekomme, wie schon beim letzten Mal, nur seine Mailbox. Ich hinterlasse ihm keine Nachricht.
Vielleicht ist sein Akku alle, denke ich.
Ich werfe noch mehr Münzen in den Schlitz und rufe zu Hause an. Ich kann gar nicht genau sagen, wieso, aber ich habe so ein Gefühl. Ist das Hoffnung? Oder schon Illusion?
Es klingelt dreimal, dann meldet sich eine weibliche Stimme: »Hier bei Talhoffer. Wer spricht da?«
Ich sage: »Wer ist da?«
»Jem?«, fragt die Frauenstimme.
»Wer ist da?«, wiederhole ich meine Frage.
»Jem, hier spricht Rusty. Die Polizeichefin.«
Mit ihr habe ich nicht gerechnet. Ich weiß auch nicht, mit wem ich gerechnet habe, wenn nicht mit Leo, aber jetzt kommt es mir sehr einleuchtend vor, dass Rusty sich gemeldet hat. Wer denn sonst?
Ich hole einmal Luft. »Sie würden mir vermutlich gerne ein paar Fragen stellen, nehme ich an.«
»Falls es einen Preis für die Untertreibung des Jahres geben würde, dann hätten Sie ihn gerade gewonnen.«
»Ich habe Angst, Rusty. Ich habe richtig Angst.«
»Ich bin der Meinung, Sie sollten nach Hause kommen, Jem. Oder zu mir auf die Wache, falls Ihnen das lieber ist. Mir ist beides recht. Aber wir müssen uns unterhalten. Je früher, desto besser.«
»Das kann ich nicht«, sage ich.
»Und wieso nicht?«
»Weil es Leute gibt, die mich umbringen wollen, Rusty.«
»Genau deshalb sollen Sie ja zu mir kommen. Ich kann Sie beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen jemand etwas antut, versprochen.«
Ich blicke mich um, für den Fall, dass schon die ersten Streifenwagen angeschlichen kommen. »Das habe ich ja schon einmal ausprobiert, wissen Sie noch? Und jetzt bin ich hier.«
Nach einer kurzen Pause sagt Rusty: »Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist?«
»Wilks und Messer«, setze ich an. »Sie sind nicht die, als die sie sich ausgeben. Die wollten mich umbringen.«
»Und weiter?«, sagt sie.
»Sie suchen irgendetwas, was Leo gehört. Als sie mich heute Vormittag nach Hause gebracht haben, haben sie auch danach gesucht und ich … Leo hat angerufen. Ich hab ihn gewarnt. Sie wollten … Messer ist tot.«
»Das weiß ich, Jem«, entgegnet Rusty sachlich und nüchtern. »Sein Leichnam liegt direkt vor mir. Und es ist eine wirklich hässliche Leiche. Er hat etliche Einschusslöcher, und in seinem Hals steckt eine Schere. Da wird mir fast ein bisschen mulmig, das gebe ich ohne Umschweife zu. So was habe ich in der ganzen Zeit, seit ich die Uniform trage, noch nie gesehen.«
»Ist Wilks noch am Leben?«
Schweigen. Sie weiß nicht genau, was sie darauf antworten soll.
»Ja«, sagt sie schließlich. »Sie ist hier bei mir.«
»Und genau deshalb kann ich nicht zurückkommen. Sie wird mich umbringen.«
»Wilks steht auf unserer Seite«, sagt Rusty.
Ich lache. Ein bitteres, sarkastisches Lachen. »Dann hat sie Sie genauso ausgetrickst, wie sie mich ausgetrickst hat.«
»Wir sollten uns alle an einen Tisch setzen und das Ganze in Ruhe besprechen. Sie können mir Ihre Sicht der Dinge schildern. Sie können mir sagen, weshalb Sie Messer getötet haben, und ich höre Ihnen zu. Das verspreche ich. Ich bin eine gute Zuhörerin, Jem, wirklich gut.«
»Ich habe Messer doch nicht umgebracht«, protestiere ich. »Das war Carlson.«
»Carlson«, sagt Rusty.
»Ja, Carlson.«
»Wo ist er jetzt? Ist er bei Ihnen?«
»Bis vorhin noch, ja«, berichte ich ihr. »Aber er hat mich angelogen. Er ist … ich weiß nicht, wo er jetzt steckt. Irgendwo da draußen jedenfalls. Sie müssen ihn finden, bevor er mich findet.«
Rusty erwidert: »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen, Jem. Aber Sie müssen mir auch helfen. Sie müssen sich stellen, bevor die ganze Angelegenheit noch mehr außer Kontrolle gerät. In Ihrem Haus liegt ein toter Mann, Jem. Da liegt ein Toter, und Sie sind flüchtig. Sie haben sich vom Schauplatz eines Mordes entfernt. Das ist nicht in Ordnung.«
»Ich bin nicht auf der Flucht«, entgegne ich. »Ich meine, ich bin nicht auf der Flucht vor Ihnen.«
Rustys Tonfall wird jetzt sehr ernst und feierlich. »Sie werden wegen Mordes gesucht, Jem, und jede Sekunde, die Sie länger unterwegs sind, anstatt hierherzukommen, macht Ihre Situation nur schlimmer und macht es mir schwerer, Ihnen wirklich zu helfen.«
Suchen sie etwa schon nach mir? Hat Rusty eine Großfahndung eingeleitet oder wie das heißt? Ich hole tief Luft und versuche, all diese Fragen beiseitezuschieben. Es gibt nichts, was ich besser kann, als mich zu sorgen und zu grübeln, aber das bringt mich im Moment überhaupt nicht weiter.
»Ich habe niemanden umgebracht« , brülle ich ins Telefon.
»Ich möchte Ihnen gerne glauben«, erwidert Rusty. »Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen soll, dann müssen Sie sich stellen. Im Moment steht Ihr Wort gegen das von Wilks, und wem würden Sie an meiner Stelle wohl eher glauben?«
Sie hat recht, und das weiß ich auch, aber es widert mich an. Es widert mich an, dass ich im Augenblick nicht das Geringste daran ändern kann. Aber wenn ich mich stelle und ihr meine Sicht der Dinge schildere, dann gebe ich die Kontrolle aus der Hand. Dann gehe ich freiwillig in die Falle. Dann hält Wilks alle Macht in ihren Händen.
»Ganz egal, was sie Ihnen erzählt hat, es ist gelogen. Sie gehört nicht zu den Guten, Rusty. Vielleicht ist sie ja sogar eine FBI-Agentin, aber trotzdem ist sie korrupt. Sie will Sie gegen mich aufhetzen.«
Rusty sagt: »Sie ist nicht beim FBI, Jem. Sie arbeitet für den Heimatschutz.«
»Ach ja? Tja, heute früh war sie noch beim FBI. Und was ist sie morgen?«
»Es geht hier um nationale Sicherheitsinteressen. Sehr sensible Angelegenheit. Sie hat mir ausführlich erklärt, weshalb es ihr nicht möglich war, mit Ihnen über die Zusammenhänge zu sprechen, und ich habe ihre Geschichte sehr sorgfältig überprüft. Ich kann Ihnen versichern, dass jedes Wort der Wahrheit entspricht.«
»Messer wollte mich umbringen, Rusty. Er wollte mich erdrosseln. Das denke ich mir doch nicht aus.«
»Welche Rolle spielt Carlson bei alledem?«
Sie spricht den Namen »Carlson« aus, als würde sie nicht glauben, dass er überhaupt existiert.
»Carlson hat mich vor Wilks und Messer gerettet. Wenn er nicht wäre, dann wäre ich schon tot.«
»Er hat Ihnen also geholfen, richtig?«
Ich zögere. »Nein. Ich meine, ja, schon. Aber … ich bin vor ihm weggelaufen. Ich kann ihm nicht trauen. Er ist auch nicht der, der er behauptet zu sein. Er hat mir erzählt, dass er Leo kennt, aber das war gelogen.«
»Mm-hmm«, sagt Rusty.
Mir wird klar, dass meine Worte sich völlig paranoid und unberechenbar anhören. Unzurechnungsfähig. Am Telefon kann ich Rusty nicht überzeugen. Mein Wort steht gegen das von Wilks, und sie ist eine eiskalte Lügnerin. Eine professionelle Lügnerin. Egal, ob sie für das FBI, für den Heimatschutz, für beide oder für keinen von beiden arbeitet, sie weiß genau, was sie tut. Sie hat einen klaren Plan.
Ich hingegen muss ständig immer nur improvisieren.
»Ich beweise es Ihnen«, sage ich zu Rusty. »Ich beweise Ihnen alles.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, lautet ihre Antwort. »Kommen Sie zu mir, und ich höre Ihnen mit offenen Ohren zu. Meine Ohren sind riesig, Jem, und sie lassen sich nicht täuschen. Sie erkennen die Wahrheit. Ich schwöre Ihnen, dass Sie jede Chance bekommen werden, mir Ihre Sicht der Dinge ausführlich darzustellen.«
»Das weiß ich, Rusty. Ich weiß, dass Sie sich jedes meiner Worte genau anhören werden, aber ich weiß auch, dass das überhaupt keinen Sinn haben wird, solange ich sie nicht mit Beweisen untermauern kann.«
»Jem, bitte, hören Sie …«
»Nein, Rusty, jetzt hören Sie mir zu. Ich werde mich nicht stellen. Ich werde mich nicht mit Ihnen an einen Tisch setzen und alles in Ruhe besprechen, weil Sie sich bereits entschieden haben. Und daran kann ich nichts mehr ändern, oder?«
»Ich werde alles versuchen, um Sie zu verstehen. Wie wäre das als Anfang? Und dann sehen wir, wo wir am Ende landen.«
»Ich beschaffe Ihnen Beweise, Rusty. Ich werde mich selbst von jedem Verdacht reinwaschen, und ich werde meinen Mann beschützen.«
»Haben Sie etwas von Leo gehört?«
»Seit dem Nachmittag nicht mehr«, erwidere ich. »Da habe ich ihn vor Wilks und Messer gewarnt.«
Es folgt eine lange Pause. Ich nehme an, Rusty redet mit Wilks oder sonst jemandem und hat die Hand über das Mikro gelegt.
Dann sagt sie: »Wissen Sie, wo Leo jetzt ist?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Als ich mit ihm gesprochen habe, war er am Flughafen. Er wollte eigentlich eine Maschine nach England nehmen, aber die konnte nicht starten. Er …«
»Jem«, unterbricht Rusty mich mit leiser Stimme. »Leo hatte kein Ticket für einen Flug nach England gebucht.«
»Was soll das denn heißen? Ich verstehe nicht.«
Sie schweigt. Ich werde allmählich unruhig. Was wird sie als Nächstes sagen? Ist das ein Trick?
»Jem.« Rustys Stimme klingt sanft und mitfühlend. »Ich habe doch gesagt, dass ich meine Arbeit sehr gewissenhaft erledige, nicht wahr? Nun, ich habe mit verschiedenen Fluggesellschaften gesprochen. Ich habe mir die Passagierlisten angesehen. Ich habe das Personal an jedem Flughafen in Autoentfernung kontaktiert. Nirgendwo hat Leo gebucht, und kein einziger Flug ist ausgefallen. Alle Maschinen nach England sind pünktlich gestartet, und in keiner davon hat Leo gesessen, weil er sich nämlich gar kein Ticket gekauft hat.«
Ich starre hinaus in die Nacht. »Aber er hat doch gesagt …«
»Er hat Sie belogen, Jem. Ihr Mann hat Sie schon seit sehr langer Zeit belogen.«
»Was reden Sie denn da?«
»Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen. Wenn Sie die ganze Wahrheit hören wollen, dann müssen Sie zu mir kommen.«
»Na, klar«, sage ich und lege auf.
0.32 Uhr
Nachts bin ich noch nie gerne Auto gefahren. Die Gefahr, dass ich mich zu sehr auf die Dunkelheit, die Einsamkeit konzentriere, ist einfach zu groß. Aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann schalte ich eben das Radio ein, damit die Songtexte meine Gedanken verdrängen und ich nicht ständig diesen übermächtigen Drang verspüre, mich umzudrehen und nachzusehen, ob sich womöglich jemand auf der Rückbank versteckt hat. Inzwischen sitzt Trevor am Steuer, und ich hänge schlapp auf dem Beifahrersitz. Ich bin müde, aber schlafen kann ich auch nicht. Er sagt nichts, um mich nicht zu stören. So ein netter Mann. Der einzige Mensch, der mich nicht angelogen, der nicht versucht hat, mich irgendwie auszutricksen. Wie soll ich ihm das, was er für mich getan hat, jemals vergelten? Ich habe keine Ahnung.
Aber irgendwie werde ich es schaffen. Wenn – falls – das alles endgültig vorbei ist.
Ich suche nach der Lösung für ein Problem, das ich gestern noch gar nicht hatte. Ich suche nach der Antwort auf eine Frage, die ich nicht einmal formulieren kann.
Hat Rusty in Bezug auf Leo gelogen, oder war es Leo, der mich belogen hat?
Ich möchte nicht wahrhaben, dass ich Rusty nicht vertrauen kann, aber genauso wenig möchte ich glauben, dass ich Leo nicht vertrauen kann.
Ich bespreche das alles mit Trevor. Ich berichte ihm jedes von Rustys Worten, aber auch all meine Gedanken und Ängste. Als ich fertig bin, ist er lange Zeit still. Er macht einen nachdenklichen und zugleich weisen Eindruck, und ich möchte wissen, was er davon hält. Ich möchte seine Meinung hören. Selbst an meinen besten Tagen kann ich mir selbst nicht trauen, darum brauche ich jetzt jemanden, der ruhig ist, bei klarem Verstand.
»Und?«, sage ich. »Was halten Sie davon?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob meine Meinung hier irgendetwas zu sagen hat.«
»Auf jeden Fall, Trevor. Genau deshalb will ich sie ja hören. Es kann schließlich sein, dass Rusty mich angelogen hat, oder nicht? Es kann doch sein, dass sie mir irgendwas erzählt hat, nur weil sie mich dazu bringen will, mich zu stellen.«
Er stößt einen langen Atemzug aus und schüttelt dabei ununterbrochen den Kopf. »Ich habe die Polizeichefin bisher immer als rechtschaffenen Menschen kennengelernt. Im traditionellen Sinn, meine ich.«
»Stimmt«, sage ich. »Sie ist eine grundanständige Person.«
»Aber ich habe bisher auch noch nie Anlass gehabt, sie sozusagen bei der Arbeit zu erleben.«
»Sie wollen damit sagen, dass sie mir vielleicht nicht unbedingt die Wahrheit sagt, wenn sie mich für eine Verbrecherin, vielleicht sogar eine Mörderin hält?«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit. Was sagt denn Ihr Gefühl? Darauf kann man sich in der Regel verlassen.«
»Mein Gefühl? Mein Gefühl sagt mir, dass die ganze Situation so verworren ist, dass sie gar nicht wahr sein kann. Dass ich bloß aufzuwachen brauche, dann ist alles wieder in Ordnung.«
»Na ja, wenn ich’s mir überlege … vielleicht sollten Sie doch nicht auf Ihr Gefühl hören.«
»Nun kommen Sie schon, Trevor. Ich tappe vollkommen im Dunkeln und weiß überhaupt nicht mehr weiter. Ich brauche eine Außenperspektive, jemanden, der mich aus dieser Wildnis wieder rausführen kann. Damit ich wieder nach Hause finde. Buchstäblich.«
»Dann würde ich sagen, Rusty sagt Ihnen die Wahrheit, so gut sie sie selbst kennt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie sich auch irren könnte?«
Er schnaubt. »Legen Sie mir nicht irgendwelche Worte in den Mund, Jem. Sie kennen Ihren Mann, ich nicht. Ich bin bloß Ihr Reisebegleiter.«
»Tut mir leid. Ich sollte Sie nicht mit meinen Fragen belästigen. Das ist nicht fair. Sie müssten jetzt eigentlich schön eingemummelt in Ihrem Bett liegen.«
»Er ist Ihr Mann«, sagt Trevor. »Sie lieben ihn. Bis heute Morgen war alles noch in schönster Ordnung. Danach ist Ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt worden, und Sie wollen nicht, dass das noch ein zweites Mal passiert. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir das alles leidtut.«
»Mal rein theoretisch betrachtet«, sage ich. »Wenn meine Welt einmal auf den Kopf gestellt worden ist und dasselbe dann noch mal passiert, dann müsste ja alles wieder in Ordnung sein.«
Er gibt ein Geräusch von sich, ein leises, missbilligendes Grollen aus den Tiefen seiner Kehle.
»Tut mir leid«, sage ich.
»Sie müssen sich nicht alle fünf Sekunden entschuldigen.«
»Ich kann es auch nicht ändern.«
»Stammen Sie etwa aus Kanada?«
Ich schlage die Hände vors Gesicht.
»Ach, nun kommen Sie schon«, sagt Trevor. »Dann sind Sie eben Kanadierin. So schlimm ist das nun auch wieder nicht.«
Ich reibe mir die Augen. »Soll so mein Leben in Zukunft aussehen? Dass ich keinem Menschen, keinem einzigen Wort mehr trauen kann?«
»Ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen«, meint er.
»Aber Sie können nicht?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich mache es nicht. Ich mache es nicht, weil Sie in eine tiefe Grube gefallen sind, Jem, und mehrere Leute Ihnen ein Seil zugeworfen haben. Alle versprechen Ihnen, Sie rauszuziehen. Aber wenn Sie sich für das falsche Seil entscheiden, dann kann es passieren, dass Sie auf halbem Weg wieder fallen gelassen werden. Glauben Sie nichts, was Sie nicht mit eigenen Augen sehen, mit Ihren eigenen Händen berühren können. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie das alles durchstehen können: Sie müssen sich selbst vertrauen.«
Wir fahren schweigend weiter.
Jedes Mal, wenn vor uns oder hinter uns ein Scheinwerferpaar auftaucht, jagt mein Pulsschlag in die Höhe. Das Licht ist mein Feind, die Dunkelheit meine Verbündete.
Es ist nicht mehr weit bis zu Leos Lagerhalle. Ich war bis jetzt erst einmal hier, vor Jahren, als er sie frisch angemietet hatte. Er war Unternehmer und stolz auf das, was er erreicht hatte. Und ich war stolz auf ihn. Ich glaube, das bin ich immer noch.
Ich hoffe, dass ich es auch am Schluss noch sein werde.
Die Lagerhalle steht in einem Industriegebiet am Stadtrand von New York. An die Adresse kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, wie man hinkommt. Ich habe das Gebäude vor Augen. Ich habe die Nachbargebäude vor Augen. Trevor habe ich gebeten, einfach in Richtung Stadt zu fahren, bis ich ihm den Weg zur Halle zeige.
»Normalerweise zieht es mich nicht gerade in die Großstadt«, sagt er.
»Wir fahren gar nicht nach New York, Trevor.«
»Da zieht es mich erst recht nicht hin.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal den Bundesstaat verlassen?«
»Da waren Sie vermutlich noch gar nicht geboren.«
Wenigstens fange ich langsam an, das Mysterium Trevor zu enträtseln.
Um diese Zeit ist der Highway eine Geisterstraße. Nur gelegentlich begegnet uns ein Lastwagen. Jeder normale Mensch liegt im Bett. Ich vermisse mein Bett so sehr. Ich sehne mich danach, mich in meine Decke zu kuscheln.
Ob Rustys Mitarbeiter die Straßen nach mir absuchen? Großer Gott, ich bin auf der Flucht. Sie halten mich für eine Verbrecherin. Bin ich das? Ich habe bestimmt gegen ein paar Gesetze verstoßen. Und Wilks hat Rusty garantiert eingeflüstert, dass ich noch ganz andere Straftaten begangen habe. Aber ich sehe keinen einzigen Streifenwagen. Höre keine einzige Sirene. Wenn sie also wirklich nach mir suchen, dann nicht so weit südlich.
Als wir das Industriegebiet erreichen, ist es kurz vor eins. Vor dem Abzweig gibt es eine Verkehrsinsel. Ob das seelenlose, moderne Kunstwerk in der Mitte der Verkehrsinsel schon von Anfang an dort gestanden hat, kann ich nicht sagen. Jedenfalls ist es scheußlich, so oder so. Ein nur andeutungsweise geformter Klumpen aus Metall, der irgendetwas darstellen soll, was ich beim besten Willen nicht erkennen kann. Ich bin mir sicher, dass es Trevor ganz genauso geht, aber ich frage ihn nicht danach. Ich bin viel zu sehr mit der Frage beschäftigt, was wir vorfinden werden, wenn wir unser Ziel erreicht haben.
Um diese Uhrzeit liegt das Industriegebiet still und verlassen da. In einigen der größeren Hallen gibt es bestimmt irgendwelche Aktivitäten, davon gehe ich aus, aber ansonsten ist es wirklich sehr ruhig und wie ausgestorben. Ich sehe keinen einzigen Menschen. Gut so. Ich möchte auch nicht gesehen werden, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.
Leos Halle ist schwerer zu finden, als ich gedacht habe. Ich habe zwar ein ziemlich klares Bild vor Augen, aber die unzähligen gewundenen Straßen, die ein unüberschaubares Labyrinth aus Kurven und Sackgassen bilden, bringen meine Orientierung völlig durcheinander.
»Sind wir hier nicht schon einmal durchgekommen?«
»Ja, Trevor. Sehr gut beobachtet.«
Sind wir hier rechts oder links abgebogen? Fahren wir dieselbe Straße entlang, oder sehen die Gebäude sich einfach nur sehr ähnlich?
Endlich habe ich das Ziel unserer Fahrt gefunden. Vor uns taucht ein großes, rechteckiges Gebäude auf, in dem damals irgendein Start-up-Unternehmen untergebracht war. Inzwischen ist es aber, wie ich sehe, in ein Mietlager umgewandelt worden. Mit unschlagbaren Preisen, wenn man den Plakaten glauben darf.
Zwei Häuser weiter steht Leos Halle.
»Da ist es«, sage ich zu Trevor, nachdem wir daran vorbeigefahren sind.
»Und warum sagen Sie mir das nicht, bevor ich daran vorbeifahre?«
»Für den Fall.«
»Für welchen Fall?«
»Dass sie sie beobachten?«
»Dass wer sie beobachtet?«
Ich sehe ihn mit gerunzelter Stirn an. »Wilks. Carlson. Rusty. Oder sonst jemand …«
»Wie hätten die es vor uns hierher schaffen sollen?«
»Weiß ich doch nicht«, fauche ich ihn an. »Ich bin eben vorsichtig. Ich will mich nicht einfach direkt davorstellen und alle Welt darauf aufmerksam machen, dass wir hier sind, auch wenn wir nicht erwartet werden.«
»Hmm. Schlau.«
»Ich habe meine lichten Momente.«
Ein Parkplatz ist schwieriger zu finden, als mir lieb ist. Ich will nicht direkt vor Leos Halle halten, aber auch nicht zu weit entfernt, zum einen, weil wir zu Fuß sehr angreifbar wären, zum anderen, weil wir unter Umständen sehr eilig wieder aufbrechen müssen. Ich suche den goldenen Mittelweg zwischen meinen diversen Parkplatzansprüchen.
Ich sage Trevor, er soll sich auf die freie Fläche vor einer Finanzdienstleistungsfirma stellen. Die knallbunten Schilder legen die Vermutung nahe, dass diese Firma schnelle Kredite an arme Schlucker vergibt, und zwar zu exorbitanten Zinsen. Ich habe nicht das geringste schlechte Gewissen, dass wir unerlaubt ihr Grundstück betreten.
Ich bin mir sicher, dass Carlsons Auto, Trevor und ich von Überwachungskameras aufgenommen werden. Dagegen kann ich nichts machen, nur beten, dass im Moment gerade niemand hinschaut. Aber irgendwo sitzt garantiert ein Wachmann vor irgendwelchen Monitoren. Ich hoffe, dass er viel zu sehr mit der Sportübertragung auf seinem Handy beschäftigt ist, um auf uns aufmerksam zu werden.
Trevor stellt den Motor ab, und abgesehen von meinem eigenen Atem höre ich kein einziges Geräusch mehr.
Trevor sagt: »Sind Sie bereit?«
»Nein, aber wir gehen trotzdem los.«
0.57 Uhr
Es ist eine kalte Nacht. Ich spüre die Kälte auf meiner nackten Haut, aber aus irgendeinem Grund stört mich das nicht. Die Kälte kann mir nichts anhaben. Ich gehe langsam, weil Trevor nur langsam vorankommt. Er ist schließlich ein alter Mann. Jeder Meter, den er gehen muss, tut mir leid, und ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen, besonders in einer kalten Nacht wie dieser. Er beklagt sich nicht. Ich sehe ihn an und frage mich, wieso er bei diesem wirren Abenteuer überhaupt an meiner Seite bleibt. Er kennt mich noch keine vierundzwanzig Stunden. Ich könnte schließlich auch eine Verbrecherin sein. Oder völlig durchgeknallt.
Er bemerkt meinen Blick. »Was gibt es?«
»Warum sind Sie hier, Trevor? Warum helfen Sie mir? Sie kennen mich nicht. Und das alles geht Sie überhaupt nichts an.«
»Das sehe ich anders, junge Dame«, entgegnet er. »In dem Moment, als ich angehalten und Sie mit meinem Pick-up mitgenommen habe, habe ich auch die Verantwortung für Sie übernommen.«
»Sprechen Sie etwa von Ritterlichkeit?«
»Das hört sich nach meinem Geschmack ein bisschen zu europäisch an. Ich würde eher sagen, es ist die gute alte amerikanische Höflichkeit.«
»Wie immer Sie es nennen wollen, ich bin froh darüber. Ich glaube nicht, dass ich das alleine schaffen könnte.«
»Jetzt geht das schon wieder los mit diesem selbstzweiflerischen Fernsehgequatsche. Sie schaffen das alleine. Ich bin bloß ein Beobachter.«
»Ich glaube kaum, dass die Behörden das auch so sehen werden, falls ich verhaftet werde. Die würden Sie bestimmt als Komplizen betrachten. Unterstützung und Beihilfe zur Flucht vor dem Gesetz oder so was.«
»Sie fliehen vor dem Gesetz?«
»Behauptet Rusty. Ich habe einen Mann mit einer Schere verletzt und auf ihn geschossen.«
»Das war Notwehr. Kein Geschworenengericht im ganzen Land würde Sie deswegen schuldig sprechen. Kann schon sein, dass wir gerade so was wie einen moralischen Seiltanz vollführen, aber bis jetzt sind wir noch nicht runtergefallen. Und außerdem … wenn die mich wirklich ins Gefängnis stecken und mir auf Staatskosten drei vollwertige Mahlzeiten am Tag servieren wollen, dann bitte sehr. Und herzlichen Dank auch.«
»Das Letzte nehme ich Ihnen nicht eine Sekunde lang ab«, erwidere ich. »Sie wollen mich bloß aufmuntern, aber das freut mich.«
Er entgegnet mürrisch: »Will ich gar nicht.«
»Da wären wir«, sage ich und mache eine Handbewegung.
Vor Leos Lagerhalle gibt es Stellplätze für ein halbes Dutzend Autos. Zwischen dem Gebäude und dem Bürgersteig befindet sich ein schmales hügelförmiges Rasenbankett, auf dessen Scheitel ein paar Blumen sprießen. Wer kümmert sich um sie? Ist die Verwaltung des Industriegebiets dafür zuständig, oder sind das die einzelnen Unternehmen? Bezahlt Leo jemanden dafür? Wenn ich schon eine so einfache Frage aus seinem Leben, zu seinem Geschäft nicht beantworten kann, wie kann ich da überrascht sein angesichts all dessen, was heute geschehen ist? Rusty hat gesagt, dass Leo mich schon lange belogen hat, aber was, wenn ich einfach nur das Offensichtliche übersehen habe?
Ist mein Ehemann ein Fremdling, und ich habe es nur nie bemerkt?
Ich hole Luft und versuche, meine Ängste wieder in den Griff zu bekommen.
»Was ist denn los?«, will Trevor wissen.
»Fernsehgequatsche.«
»Manchmal ist ein schlechter Tag …«
»Jaja, ich weiß.«
Wir nähern uns der Halle, und ich komme mir schutzlos vor. Der Parkplatz ist klein, aber auf mich wirkt er, als wäre er einen ganzen Kilometer breit. Die Straßenlaternen und die anderen Gebäude sorgen für ausreichende Beleuchtung, aber trotzdem gibt es um uns herum noch mehr als genug tiefe Schatten. Und überall könnte sich jemand verstecken. Ich versuche, mir einzureden, dass Trevor recht hat: dass weder Wilks noch Carlson vor uns hierhergelangt sein können.
Und was, wenn es noch andere Gegner gibt? Gegner, von denen ich bis jetzt noch gar nichts weiß?
Wilks und Carlson könnten ja Kollegen haben. Und beide hätten sie dafür sorgen können, dass diese Kollegen jetzt hier auf uns warten.
Ich schaue nach oben, zum Dach der Lagerhalle.
Ein perfekter Standort für einen Heckenschützen.
Ich schüttele den Kopf. Was weiß ich schon über Heckenschützen?
Nichts, wie es scheint, weil nämlich kein Schuss fällt. Selbst in Trevors Schneckentempo schaffen wir es unbeschadet über die leere Asphaltfläche. Wenn ich nicht wüsste, dass ich tatsächlich in Lebensgefahr schwebe, dann wäre die alberne Vorstellung, dass da ein Scharfschütze auf dem Dach lauern könnte, wirklich zum Lachen.
»Ich wollte vorhin nichts sagen«, meint Trevor jetzt, »aber ich hatte ein bisschen Angst, dass vielleicht ein Scharfschütze auf dem Dach lauern könnte.«
Ich schlage ihm mit dem Handrücken auf den Arm. »Ganz genau, oder?«
An der Vorderfront des Gebäudes befindet sich ein großes Rolltor aus Metall, das für Fahrzeuge gedacht ist, und daneben eine normale Eingangstür. Vielleicht gibt es seitlich oder hinten noch mehr Türen, aber ich kenne nur diese eine hier.
»Sie haben nichts von einem Schlüssel gesagt«, bemerkt Trevor, während wir uns dem Eingang nähern.
»Das liegt daran, dass ich keinen habe.«
»Aber wie sollen wir dann …«
Ich zeige auf das elektronische Tastenfeld. »Zahlenkombination.«
»Sind Sie sicher, dass Sie die richtige kennen? Sie sagen doch, dass Sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen sind.«
»Natürlich kenne ich die Kombination, Trevor. Es ist mein Geburtsdatum.«
Ich gebe den sechsstelligen Code ein.
Nichts rührt sich.
Trevor macht den Mund auf.
»Ja«, falle ich ihm ins Wort, noch bevor er etwas sagen kann. »Leo hat den Code geändert. Vielleicht ist es ja sein Geburtstag.«
Ich versuche es. Nichts rührt sich.
»Was machen wir jetzt?«
Ich mustere Trevor mit einem schiefen Blick. »Wir brechen ein.«
»Wie?«
»Ich … ich habe keine Ahnung, aber so schwer kann das doch nicht sein, oder? Einbrecher sind ja normalerweise keine Genies, oder? Sonst wären sie ja schließlich nicht Einbrecher geworden.«
»Stimmt auch wieder, schätze ich. Aber zumindest wissen sie, was sie zu tun haben.«
»Lassen Sie mir meine Träume, Trevor, okay? Ein bisschen mehr positives Denken, bitte. Eine kleine Ermutigung oder so was könnte ich gerade ganz gut gebrauchen.«
»Ich soll Sie ermutigen, zur Diebin zu werden?«
»Wir wollen ja nichts stehlen. Wir wollen bloß einbrechen.«
»Ich glaube an Sie«, sagt er monoton.
»Ist das wirklich schon alles?«
»Vielleicht könnte ich ja auch ein bisschen Ermutigung vertragen.«
Ich seufze. »Sie müssen deswegen nicht gleich so selbstgefällig grinsen.«
Er nickt. »Muss ich nicht, will ich aber. Wie geht es mit dem Einbruch voran?«
»Ich muss mir noch ein paar Details überlegen. Sie haben in Carlsons Auto nicht zufällig ein Stemmeisen gesehen, oder?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein.« Dann macht er eine ausschweifende Handbewegung. »Es gibt hier garantiert eine Alarmanlage, das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Ja. Ich hoffe sehr, dass sie den gleichen Code hat wie unsere Anlage zu Hause.«
»Und wenn nicht?«
»Dann laufen wir so schnell wie möglich zurück zum Auto.«
»Ich weiß ja nicht, ob Sie’s bemerkt haben, aber die Zeiten, in denen ich schnell laufen konnte, liegen schon lange, sehr lange hinter mir.«
»Guter Punkt«, erwidere ich. »Das bedeutet, dass ich dann zurück zum Auto laufe und Sie hier abhole.«
Er knurrt zufrieden. »Viel besser.«
Ich nehme die Tür ein wenig genauer in den Blick. Sie besteht aus Milchglas. Ich gehe über den Parkplatz und stelle mich auf den kleinen Grashügel mit den Blumen. Das Beet hat einen Rand aus Backsteinen. Aus halbierten Backsteinen, um genau zu sein.
Ich löse einen davon aus der Erde. Er passt genau in meine Hand. Fühlt sich gut an.
Trevor sieht mich fragend an, während ich wieder zu ihm komme. Er wirft einen Blick auf die Backsteinhälfte in meiner Hand. »Was haben Sie denn vor?«
»Das«, sage ich und schleudere den Stein gegen die Milchglastür.
Er prallt ab und kommt direkt auf mich zugeflogen. Ich bringe mich mit einem Sprung in Sicherheit.
»Sicherheitsglas«, sagt Trevor. »Ich hätte Sie warnen können, wenn Sie nicht …«
Er hält inne. Er hält inne, weil ich ihn mit tödlichen Blicken bombardiere.
Er bückt sich und nimmt den Stein in die Hand. Es fällt ihm schwer, und als er sich aufrichtet, verzieht er schmerzhaft das Gesicht.
Er wirft den halbierten Backstein ein paar Zentimeter in die Luft und fängt ihn wieder auf.
»Also, gegen Sicherheitsglas hat man damit keine Chance, aber ich wette mit Ihnen um ein nagelneues Zehncentstück, dass dieses Gebäude irgendwo noch andere Fenster hat.« Ein Funkeln blitzt in seinen Augen auf. »Und die sind aus ganz normalem, gutem alten Glas. Aus gutem, altem, zerbrechlichem Glas.«
»Na, bitte«, sage ich. »Genau so eine Art der Ermutigung habe ich gemeint.« Ich nehme ihm den Backstein ab. »Also los. Machen wir etwas kaputt.«
0.59 Uhr
Nachdem sie den Tatort hinter sich gelassen hat, ist Rusty todmüde. Das Gras hat natürlich auch seinen Teil dazu beigetragen. Dank jeder Menge Kaffee und großzügigen Gaben von Augentropfen scheint niemand bemerkt zu haben, dass die Dienststellenleiterin bekifft ist. Allerdings nur ein bisschen, weil nichts der entspannenden Wirkung des Marihuanas so sehr entgegenwirkt wie die Tatsache, dass sie einen Dienstauftrag hat und sich absolut nichts anmerken lassen darf. Sie hätte Sabrowskis Anruf einfach ignorieren sollen, sagt sie sich jetzt. Aber dieses nagende Gefühl eines herannahenden Unheils, das hatte sich nicht ignorieren lassen. Vielleicht war daran auch nur das Marihuana schuld – ein bisschen altmodische Paranoia –, aber seit diese beiden Behördenfuzzis mit ihrem wirren Gequatsche in ihrem Büro aufgetaucht sind, ist sie nicht mehr sie selbst.
Sie starrt in den Rückspiegel und beschließt, ihre Augen noch einmal zu beträufeln. Nachdem sie die Überreste der Flüssigkeit weggeblinzelt hat, stößt sie die Fahrertür auf und stemmt sich aus dem Fahrersitz ihres Streifenwagens ins Freie.
Sie hat in der Nähe des Diners geparkt, aber nicht direkt davor. Sie will nicht länger zu Fuß gehen als nötig, aber die eine Minute Abstand kann sie gut gebrauchen, um sich ein bisschen zu sammeln, ohne unter Beobachtung zu stehen.
Die Beleuchtung ist nach ihrem Geschmack viel zu grell, wie sie beim Näherkommen feststellt.
Und im Inneren ist es noch schlimmer. Sie kneift die Augen zusammen und legt die Stirn in Falten, widersteht dem Drang, die Sonnenbrille aufzusetzen oder sich schützend hinter einer Hand zu verstecken. Gegen ein solches Überangebot können keine Augentropfen dieser Welt etwas ausrichten.
Sie fragt sich, wieso der Laden die ganze Nacht geöffnet hat, wenn allem Anschein nach nur so wenige Kunden das Angebot nutzen. Ein paar einsame Lastwagenfahrer – keine Einheimischen – und eine junge Frau im Collegealter, die voll ist wie eine Strandhaubitze.
Rusty geht zu der einzigen Kellnerin.
»Hallo, Dana, was sagen Sie zu diesem Abend, alles in allem?«
»Ist es nach Mitternacht immer noch Abend?«
»Ausgezeichnete Frage«, erwidert Rusty. »Wenn Sie die richtige Antwort wissen, schicken Sie uns eine Postkarte.«
»Eine was?«
»Vergessen Sie’s«, meint Rusty. »Das haben sie früher im Fernsehen öfter mal gesagt, anno dazumal.«
»Anno was?«
Rusty presst für einen Moment die Lippen aufeinander. »Sie haben uns angerufen?«
»Na, klar«, sagt Dana und winkt Rusty weiter von der jungen Frau weg, die so betrunken ist, dass sie ihre Neugier nicht verbergen kann. »Ich habe vor einer Stunde ungefähr was erlebt, was Sie bestimmt interessieren wird.«
»Ich höre.«
»Es war genauso ruhig wie jetzt. Nachts kommen immer mehr oder weniger die gleichen Leute hier rein, und ich mache diesen beschissenen Job jetzt schon lange genug, sodass ich sie praktisch alle kenne.«
»Garantiert.«
»Nicht namentlich, natürlich«, erläutert Dana. »Aber ich meine so grundsätzlich, die Typen, die hier reinkommen.«
»Ich weiß, was Sie gemeint haben. Bitte, fahren Sie fort.«
»Also, genau wegen dem, was ich grad gesagt habe, sind mir die beiden gleich aufgefallen. Ein Mann und eine Frau. Sie sind reingekommen und haben sich hingesetzt. Er bestellt einen Burger mit Speck und sie ein Sandwich mit gegrilltem Käse, aber so wie sie beim Bestellen die ganze Zeit die Lippen zusammenpresst …«, Dana macht es vor, »… weiß ich sofort, dass sie das eigentlich gar nicht haben will. Als müsste sie sich überwinden.«
»Er hat sie dazu gezwungen?«
»Nein, nein, doch nicht so. Eher, dass sie sich zu fein dafür ist.«
Rusty kneift sich in die Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Sie haben uns wegen eines gegrillten Käsesandwichs angerufen?«
Dana ist nicht besonders erfreut über Rustys mangelnde Geduld. »Nein, habe ich nicht. Ich wollte Ihnen bloß ein bisschen Hintergrund liefern.«
»Es ist spät, Dana, und ich bin müde. Würden Sie mir den Gefallen tun und auf den Hintergrund verzichten? Ich bin überhaupt nur deshalb persönlich hergekommen, weil meine Abteilung gerade ziemlich überlastet ist. Wie ein zum Zerreißen gespanntes Gummiband. Aber behalten Sie den Hintergrund im Hinterkopf. Vielleicht können wir den später noch einmal gebrauchen.«
»Na gut.« Danas Tonfall ist scharf und hart. »Ihr dürrer Wachtmeister, Sabrowski, ist reingekommen und hat das Übliche bestellt. Hat sich an den Tisch neben der Tür gesetzt, wie immer, und versucht, mich nur so oft anzustarren, wie es gerade noch vertretbar ist. Da fragt die Frau mich, ob ich ihr einen Gefallen tun kann, weil sie nicht will, dass er sie beim Rausgehen sieht, warum auch immer. Ich sage, dass sie mir hundert Prozent Trinkgeld geben soll, dann will ich sehen, was ich machen kann.«
Das muss kurz bevor Sabrowski wieder zum Dienst beordert wurde, gewesen sein.
»Und das haben Sie gemacht?«, hakt Rusty nach.
Dana nickt. »Na, klar. Ich hab Ihrem Wachtmeister ein bisschen zusätzliche Aufmerksamkeit gegönnt, und er hat die beiden nicht gehen sehen. Er hat nichts anderes mehr gesehen als mich.«
»Warum haben Sie das gemacht?«
»Warum denn nicht?«
Rusty gibt keine Antwort. »Und jetzt verraten Sie mir, wieso Sie mich angerufen haben.«
»Weil ich gewusst hab, dass sie irgendwas angestellt haben muss, wenn sie ungesehen wieder verschwinden will«, erläutert Dana. »Ich hab natürlich nicht gewusst, was. Ich hab gedacht, vielleicht hat sie ihre Steuern nicht bezahlt oder irgend so was.«
»Das wäre dann kein Fall für die Polizei, Dana.«
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich kein Juraprofessor bin, aber wie gesagt, das war ja ganz spontan. Ich hatte nicht viel Zeit, die Vor- und Nachteile meiner Reaktion ausführlich abzuwägen. Erst als ich dann mit Ihrem dürren Wachtmeister gesprochen habe und er eine Schießerei erwähnt hat …«
»Sabrowski hat mit Ihnen über eine laufende Ermittlung gesprochen?«
Dana rudert zurück. »Nein, nicht direkt. Das habe ich … erschlossen.«
»Das haben Sie erschlossen?«
»Darf eine Kellnerin das nicht?«
Rusty sagt: »Sie haben also zwei und zwei zusammengezählt und erschlossen, dass die Frau, die Sie gebeten hat, ihn abzulenken, genau die Frau war, nach der er gesucht hat?«
»Genau so war’s.« Voller Stolz spreizt Dana die Schultern.
»Und dann haben Sie mich eine knappe Stunde später angerufen?«
Ihre Schultern fallen wieder ein bisschen ein. »Na ja, ich war mir nicht ganz sicher.«
»Ich verstehe.«
Verunsichert stemmt Dana die Hände in die Hüften. »Bekomme ich jetzt Schwierigkeiten?«
»Wegen Beihilfe und Vorschubleistung zum Vorteil einer flüchtigen Person?«
Dana hat keinen Sinn für Sarkasmus. »Und?«
Rusty lässt sie mit dem Schrecken davonkommen. »Nein, Dana, Sie bekommen keine Schwierigkeiten, weil das Schicksal Ihnen wundersamerweise mich als Polizeichefin serviert hat und nicht irgendeinen Korinthenkacker. Aber Sie hätten ihr wirklich nicht helfen dürfen.«
Dana zieht eine Schnute.
»Aber es war richtig anzurufen«, fügt Rusty hinzu. »Ich bin froh, dass Sie Ihrem Herzen einen Stoß gegeben haben.«
»Ist ein Herz überhaupt ein Herz, wenn es sich nicht ändern kann?«
Rusty hebt die Augenbrauen. »Ehrlich gesagt, darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Ich auch nicht«, meint Dana. »Aber vorhin habe ich das in einem Song gehört.«
»Hat sie irgendeine Andeutung gemacht, wo sie hinwollte?«
»Nee, und ich hab sie auch nicht gefragt.«
Rusty nickt. »Haben Sie zufällig gesehen, mit was für einem Fahrzeug die beiden unterwegs waren?«
»Ja, schon, aber für mich sieht ein Pick-up aus wie der andere.«
»Natürlich«, erwidert Rusty. »Farbe?«
»Blau, schwarz, rot, weiß … ich hab nicht drauf geachtet«, erklärt Dana achselzuckend.
Rusty deutet auf den Parkplatz vor dem Diner und die Straße dahinter. »Haben Sie vielleicht gesehen, in welche Richtung sie gefahren sind?«
Dana überlegt.
»Nach rechts oder nach links?«
»Ich glaube«, sagt Dana, »sie sind nach rechts gefahren.«
»Wie sicher sind Sie?«
»So sicher, dass ich es Ihnen sage.«
Rusty fragt weiter: »Was ist mit dem Mann, der bei ihr war? Hat er etwas gesagt?«
»Er hat gesagt, dass er noch nie so einen guten Kaffee getrunken hat wie meinen.«
»Hat er auch etwas gesagt, was nichts mit Ihrem Kaffee zu tun hatte?«
Dana presst die Lippen aufeinander und denkt nach. »Nein, ich glaube nicht.«
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Er hat ganz normal ausgesehen, alt, aber normal.«
Leo ist nicht alt, aber er könnte sich verkleidet haben, denkt Rusty.
»Haben Sie vielleicht einen Namen aufgeschnappt? Leo, womöglich?«
Dana schüttelt den Kopf. »Vielleicht hat er ja einen falschen Namen benutzt.«
»Hat er Ihnen denn überhaupt einen Namen genannt?«
»Nein.«
»Woher könnten Sie dann wissen, ob er einen falschen Namen benutzt hat?«
Dana zieht die Stirn kraus. »Ich glaube, das ist Ihr Job, nicht meiner.«
Rusty zeigt Dana ein Foto von Leo. Einen Ausdruck, den sie aus ihrer Tasche zieht und auseinanderfaltet. »Hat er vielleicht so ausgesehen?«
Dana nimmt Rusty den Ausdruck ab und betrachtet ihn ausführlich.
»Und?«, will Rusty wissen.
»Nicht mal annähernd.«
»Dafür haben Sie aber ganz schön lange gebraucht.«
Dana schüttelt den Kopf. »Man müsste schon von der Hüfte ab taub sein, wenn man so ein ansehnliches Exemplar nicht würdigen könnte.«
»Mm-hmm.« Rusty nimmt ihr das Blatt wieder ab. »Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfällt. Und falls die beiden noch mal bei Ihnen aufkreuzen, dann lassen Sie sich auf nichts mehr ein.«
Dana wartet, bis Rusty kurz vor der Tür angekommen ist, dann ruft sie ihr hinterher: »Das käme drauf an, wie viel sie mir bieten.«
Rusty verlässt den Diner und spürt sofort das eisige Prickeln der nächtlichen Luft. Da sie zu übermäßigem Schwitzen neigt, freut sie sich über die erfrischende Brise. Sie kostet jeden Luftzug aus und starrt auf den Highway, der um diese Zeit schwarz und schweigend vor ihr liegt.
Rechts bedeutet Süden. Süden bedeutet New York City mit all seinen Flughäfen. Ob Jem Talhoffer womöglich in der großen Stadt untertauchen will? Oder per Flugzeug fliehen? Letzteres wäre zwar eine ziemlich dumme Idee, aber Menschen auf der Flucht haben schon größere Dummheiten begangen. Wer auf der Flucht ist, steht ununterbrochen unter Druck, unter einer unbarmherzigen Anspannung. Unter solchen Bedingungen kann niemand wirklich gut funktionieren. Angst macht dumm.
Aber aus irgendeinem Grund glaubt Rusty nicht, dass Jem Talhoffer dumm ist.
Und wer ist ihr Begleiter? Könnte ein unschuldiger Unbeteiligter sein, den sie in ihre Pläne hineingezogen hat. Ergibt auch Sinn. Als Hälfte eines Paares ist sie viel unauffälliger als einzeln. Oder könnte es sein, dass er doch tiefer in die Sache verstrickt ist? Rusty ist sich nicht sicher. Aber wenn die beiden den Diner gemeinsam betreten und wieder verlassen haben, dann deutet das darauf hin, dass sie sich kennen.
Rusty gibt diese neue Information weiter und erkundigt sich bei Zeke: »Wo liegt Leos Lagerhalle?«
Sie hört eine Tastatur klappern.
»Bei New York«, sagt er und nennt ihr die Adresse.
»Dachte ich mir«, sagt Rusty und lässt ihr Klapphandy zuschnappen.
Sie benützt seit Ewigkeiten kein anderes. Smartphones mit all diesen fummeligen Apps schrecken sie eher ab. Und Touchscreens jagen ihr eine Heidenangst ein. Sie hat beobachtet, dass Sabrowski seine dürren Finger wie ein Pianist darüber hinwegflitzen lässt, und weiß, dass sie dazu nicht in einer Million Jahren in der Lage wäre. Sie will nicht so viel Geld ausgeben, bloß damit ihre Nachrichten wie das reinste Kauderwelsch aussehen, weil sie immer drei Buchstaben gleichzeitig antippt. Also bleibt sie bei ihrem Klapphandy, auch wenn die Wachtmeister sie deswegen bei jeder Gelegenheit aufziehen. Sie bekommt schließlich regelmäßig auch ihre Chance, und zwar jedes Mal, wenn sie in Panik ausbrechen, weil ihre Akkus mal wieder den Geist aufgeben. Männer und ihre Spielzeuge …
Sie fährt los und wäre beinahe nach rechts abgebogen, in Richtung von Leos Lagerhalle. Aber wem will sie hier eigentlich etwas vormachen?
Sie ist müde. Sie ist kaputt. Sie gehört ins Bett.
Soll sich doch jemand anderes darum kümmern.
1.07 Uhr
Einzubrechen ist nicht ganz so einfach, wie ich gedacht habe, weil keines der Fenster vom Boden aus zu erreichen ist. Aber auf der Rückseite des Gebäudes steht ein Müllcontainer, und nachdem ich ihn erklommen habe, liegen tatsächlich etliche Fenster in Reichweite. Trevor sieht mir zu und gibt sich nicht die geringste Mühe, seine Vorbehalte zu verbergen. Er verzieht das Gesicht und zieht zischend die Luft ein.
»Sie sind mir keine Hilfe«, sage ich, nachdem ich eine einigermaßen stabile Position gefunden habe.
»Das war auch nicht meine Absicht.«
»Tun Sie wenigstens so, Trevor. Stellen Sie sich vor, ich bin Spiderman.«
»Wer?«
»Mein Gott, Trevor, wo haben Sie in den letzten Jahrzehnten eigentlich gesteckt?«
»Da, wo man den Namen des Herrn nicht vergeblich führt, genau da habe ich gesteckt.«
Ich zeige mich angemessen zerknirscht. »Entschuldigung.«
»Das ist eine Entschuldigung, die ich annehme.«
Müllcontainer sind nicht dafür gemacht, dass sich jemand draufstellt, wie ich jetzt feststelle. Die Räder sind auch nicht gerade förderlich, genauso wenig wie der abgerundete Deckel, auf dem man nicht nur schlecht stehen kann, sondern der sich auch so anfühlt, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Irgendwie komme ich aber klar. Mit einer Hand stütze ich mich an der Wand ab, und mit der anderen umklammere ich den halbierten Backstein. Das Fenster befindet sich ungefähr auf Höhe meiner Schultern, und es sieht aus wie ein ganz normales Fenster, das ohne Weiteres zersplittern müsste.
»Was meinen Sie? Ob es hier Patrouillen gibt?«, rufe ich zu Trevor hinab.
»Falls ja, dann haben sie bis jetzt zwei Leute übersehen, die hier eindeutig nichts zu suchen haben und sich verdächtig benehmen. Ich würde mir also keine allzu großen Sorgen machen.«
»Auch wieder wahr«, sage ich. »Wird schon schiefgehen.«
Ich halte den Backstein mit den Fingerspitzen fest und schlage damit gegen das Fenster, mit wenig Wucht, nur als Test. Ich bin nervös und unsicher, weiß nicht, wie viel Kraft ich dafür aufwenden muss.
Kracks.
Der Backstein durchschlägt die Scheibe mühelos, sodass auch meine Hand durch das Loch rutscht.
»Gut gemacht«, ruft Trevor mir zu.
Ich muss aufpassen, dass ich mir beim Zurückziehen nicht an den zahlreichen Spitzen das Handgelenk aufschlitze. Ein paar Scherben brechen weg, aber ich bin unverletzt. Nicht einmal einen Kratzer habe ich abbekommen. Vielleicht ist Einbrecherin ja meine unerkannte Berufung.
Nach etlichen vorsichtigen Schlägen mit dem Backstein besteht die Fensterscheibe nur noch aus glitzernden Splittern. Ich schlage das ganze Ding aus dem Rahmen und beseitige sorgfältig sämtliche Überreste aus dem unteren Teil. Schließlich will ich mich nicht aufschlitzen, wenn ich gleich da durchklettere.
Da ich nicht weiß, was ich mit dem Backstein anfangen soll, werfe ich ihn Trevor zu und sage: »Auffangen.«
Er mag vielleicht nicht mehr gut zu Fuß sein, aber er fängt das Ding mit einer Hand auf, ganz beiläufig und ohne mit der Wimper zu zucken.
»Was soll ich denn damit?«, will er wissen.
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Bewahren Sie ihn auf. Als Souvenir.«
Er sagt kein Wort, sondern sieht mich wieder einmal mit weit aufgerissenen Augen und kopfschüttelnd an. Ich beachte ihn nicht. Ich habe einen Lauf. Ich packe den Fensterrahmen mit beiden Händen, stelle einen Fuß dazwischen und stemme und schiebe mich durch die Öffnung, in der bis vor Kurzem noch die Fensterscheibe war. Dann lande ich mit den Füßen voraus auf der anderen Seite.
Glasscherben knirschen unter meinen Sohlen.
Ich stehe in einem leeren Zimmer, einem gesichtslosen Würfel, der nur durch das zerbrochene Fenster ein wenig Charakter bekommt. Der Raum gehört zu dem kleinen Bürotrakt, der an die Lagerhalle anschließt und nicht benutzt wird, da Leo keine Angestellten hat. Bei größeren Weinlieferungen arbeitet er mit Lieferanten zusammen, aber soweit ich es verstanden habe, kommt so etwas nicht oft und auch nicht regelmäßig vor. Es handelt sich vielmehr um gelegentliche große Lieferungen. Er könnte keine Festangestellten bezahlen, und selbst wenn, hätte er bei Weitem nicht genügend Arbeit für sie.
Bis jetzt ist keine Alarmanlage angesprungen.
Aber warum nicht? Vielleicht habe ich zur Abwechslung einfach nur Glück. Von außen fällt gerade so viel Licht ins Zimmer, dass ich etwas sehen kann, aber ich weiß nicht, wie es ist, wenn ich weiter ins Innere des Gebäudes vordringe. Ich will auf keinen Fall das Licht einschalten, damit alle sehen können, dass ich hier bin.
Ich gehe zur Zimmertür, mache sie auf und trete auf einen Gittersteg aus Metall, von dem man das gesamte Innere der Lagerhalle im Blick hat.
Das Dach ist an einigen Stellen durchsichtig, sodass ich genügend sehen kann, um zu erkennen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Der Gittersteg führt nach rechts, wo etliche weitere Bürotüren zu sehen sind. Zu meiner Linken führt eine steile, schmale Treppe hinunter in die Halle. Ich steige hinab und suche eine offene Tür, um Trevor hereinzulassen.
»Hallo«, rufe ich. Ich muss es mehrfach versuchen, bis meine Stimme laut genug ist. Ich will schließlich nicht, dass jemand anderes auf uns aufmerksam wird. Endlich hört er mich.
»Gut gemacht«, sagt er beim Näherkommen.
»Gibt es etwas zu berichten?«
Er schüttelt den Kopf. »Hab nichts gesehen und nichts gehört.«
»Gut«, erwidere ich und mache Platz, damit er eintreten kann.
Ich ziehe die Tür hinter Trevor ins Schloss, und er betritt die Halle und sieht sich um. Er dreht sich einmal um die eigene Achse, wendet den Blick in alle Richtungen und verschafft sich ein umfassendes Bild.
»Wo ist denn der ganze Wein?«, fragt er dann.
»Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort.«
Die Lagerhalle ist leer.
Ich sehe zwar mehrere Reihen mit riesigen Regalen dort stehen, aber keine einzige Flasche Wein.
»Haben Sie nicht gesagt, Ihr Mann ist Weinhändler?«
»Ja, stimmt«, sage ich. »Ist er. War er.«
Trevor sieht mich fragend an.
»Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum die Halle leer ist. Ich weiß nicht, wo der ganze Wein ist. Ich weiß nicht, was zum Teufel hier vor sich geht.«
»Hat er noch eine andere Halle?« Trevor greift nach dem letzten Strohhalm, das wissen wir beide. »Vielleicht hat er seine Vorräte verlegt.«
»Das bezweifle ich wirklich sehr, Trevor. Wozu bräuchte er dann das hier, wenn er noch eine hat? Und wenn er wirklich noch eine andere Halle hat und seinen Wein dort aufbewahrt, warum hat er mir dann nichts davon erzählt?«
Trevor zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht gehen die Geschäfte schlecht, und er wollte nicht, dass Sie sich Sorgen machen?«
Ich verstumme. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich starre die leeren Regale an, in denen Hunderte Weinkisten, Tausende und Abertausende von Flaschen gelagert werden könnten. Warum stehen sie leer?
»Na, na«, sagt Trevor, als er merkt, wie nervös ich werde. »Vielleicht gibt es ja immer noch eine ganz harmlose Erklärung für das Ganze.«
»Da fällt mir beim besten Willen keine ein.« Ich gehe zur Treppe. »Aber ganz egal, wie die Antwort lautet, hier, zwischen diesen leeren Regalen, werden wir sie garantiert nicht finden.« Ich gehe wieder nach oben. »Wie geht es Ihren Knien?«
Trevor stößt ein leises Knurren aus, während er näher kommt. »Besser als Ihrem Respekt gegenüber Älteren.« Er erklimmt die ersten Stufen. »Haben Sie die Alarmanlage ausgeschaltet?«
»Es gibt keine.«
Trevor deutet auf die Bewegungsmelder hoch oben an den Wänden. »Oh doch, es gibt sehr wohl eine. Warum ist sie dann nicht eingeschaltet?«
»Hmm …« Ich schnaufe. »Na ja, es gibt ja auch nichts zu stehlen.«
Dass ich so vieles über Leo nicht weiß, belastet mich sehr. Ich klammere mich immer noch an die vage Hoffnung, dass es für all das eine Erklärung geben könnte, dass es sich nur um irgendein harmloses Missverständnis handelt, das außer Kontrolle geraten ist. Aber es kommt mir mehr denn je wie eine völlig aberwitzige Hoffnung vor.
Ich merke, dass ich die Handflächen aneinanderreibe.
Meine Hände, meine Finger, sie kribbeln. Tausend kleine Nadeln, die meine Ängste vergrößern. Wenn ich genügend Reibung erzeuge, genügend Wärme, dann kann ich vielleicht …
»Verdammt!«
»Was ist denn?«, erkundigt sich Trevor.
Meine Hände sind völlig verkrampft, meine Finger gekrümmt und lassen sich nicht mehr bewegen. Die Sehnen auf meinen Handrücken stülpen sich gegen die Haut. Ich kann die bis zum Zerreißen gespannten Muskeln in meinen Handgelenken und bis hinauf zu den Ellbogen sehr gut spüren.
Nicht, dass es besonders schmerzt, aber es ist frustrierend.
Es macht mich wütend.
»Ich muss einfach warten, bis es vorbei ist«, sage ich zu Trevor.
»Können Sie die Hände nicht einfach entspannen?«
»Nein!«
Es klingt eher wie ein Fauchen als wie ein Wort. Kehlig und primitiv. Trevors Bagatellisierungen kann ich jetzt gerade überhaupt nicht gebrauchen. Die machen meine Probleme nur schlimmer. Ich bin schon vorsorglich wütend auf ihn, weil ich mit einer abfälligen Antwort rechne, doch zu meiner Verblüffung kommt nichts dergleichen. Mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen starrt er meine Hände an. Er sieht, dass ich mir das nicht einbilde, dass es echt ist. Nicht einmal er kann behaupten, dass ein körperliches Symptom sich nur in meinem Kopf abspielt.
Überrascht registriere ich, dass meine Finger sich allmählich wieder entspannen. Meine Unterarme werden lockerer.
»Das ging aber schnell«, sage ich. »Normalerweise dauert es viel länger.«
»Was war dieses Mal anders?«
»Ich habe meine ganze Wut auf Sie gerichtet anstatt auf mich. Hat anscheinend prima geklappt.«
»Freut mich, dass ich helfen konnte.«
Was sind wir doch für Narren , denke ich.
Selbst wenn Leo kein Geldwäscher ist, selbst wenn er kein Informant für das FBI war, das alles hier steht für so viel Heimlichtuerei, so viele Lügen, dass wir unmöglich zu unserem bisherigen Leben zurückkehren können.
Wenn der Mensch, der einem am meisten bedeutet, so viel vor einem verbergen kann, was sagt das über die Beziehung zu diesem Menschen aus?