FRÜHER
»Und, was hältst du davon?«
Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Die Lagerhalle kam mir riesig vor. Wie eine Höhle. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu wir so viel Platz brauchten. Weit über tausend Quadratmeter, hatte er gesagt.
»Nun sag doch was. Lass mich nicht so hängen«, drängelte Leo.
Aufgeregt führte er mich durch das leere Gebäude, wie ein Schuljunge, der ein neues Spielzeug bekommen hat. Er hätte es gerne gehabt, wenn ich ähnlich viel Aufregung empfunden hätte, aber das fiel mir sehr schwer.
»Die Regale habe ich mitgemietet.«
»Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«
Es gab hier nichts zu sehen, keinen wirklichen Anlass für eine Führung, aber ich war glücklich darüber, dass er glücklich war. Sein Geschäft wurde größer. Er empfahl jetzt nicht mehr nur Weine, sondern verkaufte sie auch, suchte sie selbst aus, importierte sie und übernahm die Lieferung an Restaurants und Hotels.
Er brauchte den Platz.
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zu der hohen Decke. »Es ist nur so … riesig.«
»Wir müssen große Träume haben«, erwiderte er. »Wir haben uns entschieden, also warum sollten wir uns begrenzen? Wollen wir wirklich jetzt schon eine gläserne Decke über unseren Köpfen einziehen, bevor wir wissen, wie hoch wir wachsen können? Möchtest du nicht, dass wir wachsen?«
»Doch, schon«, sagte ich, »aber das Risiko ist zu groß. Die Miete ist eine gewaltige Belastung, und wir setzen uns dadurch sehr stark unter Druck.«
Er ließ sich von meinen Worten nicht im Geringsten bremsen. Wenn überhaupt, dann wurde er dadurch noch aufgeregter und enthusiastischer, weil er unbedingt wollte, dass ich die Sache genauso sah wie er.
»So sind wir nun mal, Jem. Wir sind Unternehmer. Wir gehen Risiken ein. Wer seine Chancen nicht beim Schopf packt, der wird niemals reich.«
»Interessant, wie du Risiken in Chancen umdeutest, damit es ein bisschen weniger gefährlich klingt.«
»Was ist das Schlimmste, was passieren könnte?«
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Du weißt genau, was passieren kann. Hier steht alles auf dem Spiel.«
»Nur großer Einsatz schafft großen Gewinn.«
Ich streichelte ihm den Arm.
»Ich dachte, du wärst in unserer Beziehung der Vernünftige und ich der Heißsporn?«
Er schenkte mir sein charakteristisches, perfektes Lächeln. »Dann wird es Zeit, dass du mal mit meinem Heißsporn Bekanntschaft machst.«
Ich sah ihn an.
Er hob die geöffneten Handflächen. »War keine Absicht, ich schwöre.«
»Und warum grinst du dann so anzüglich vor dich hin?«
Er wies mit einer großzügigen Armbewegung auf die leere Halle, die in seiner Fantasie eine Vielzahl von Möglichkeiten bot.
»Weil ich mich freue, über das hier, über uns. Darüber, wie weit wir es gebracht haben.«
Ich ließ den Blick durch das höhlenartige Innere schweifen. »Ist das nicht zu viel? Geht es nicht zu schnell?«
Er gab keine Antwort.
»Wie viel ist genug?«, fragte ich ihn.
Die Frage machte ihn nachdenklich, nicht, weil er sie als Angriff betrachtete, sondern weil er bisher noch nicht darüber nachgedacht hatte. Er hatte seine Ziele noch nie hinterfragt, und das machte mir Angst. Ich musste wissen, ob er zuverlässig war, musste mich absolut auf ihn verlassen können, wenn das hier funktionieren sollte.
»Das werde ich schon merken, sobald der Punkt erreicht ist«, sagte er.
»Das ist doch keine Antwort auf meine Frage. Nicht einmal im Ansatz.«
Ich war wütend. Nicht genug damit, dass ich die Vergewisserung, auf die ich gehofft hatte, nicht bekommen hatte, jetzt stellte ich auch den Sinn dieses ganzen Unterfangens infrage.
»Ich stamme aus ärmlichen Verhältnissen«, sagte Leo. »Das weißt du. Mir ist nie etwas in den Schoß gefallen, aber das habe ich auch nie als Ausrede benutzt. Ich habe mit aller Kraft darum gekämpft, der Armut zu entkommen. Habe ich dabei immer das Richtige getan? Nein. Habe ich nie einen Fehler gemacht? Doch, natürlich. Im Gegenteil, ich habe viele Fehler gemacht. Aber ich will dafür kein Mitleid haben, genauso wenig wie Lob.«
»Jaja, hör auf, um den heißen Brei herumzureden. Wie viel Geld ist genug?«
Er sah mich durchdringend an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
»Was ich meine, ist: Ich werde immer mehr wollen. Als Kind war ich froh, wenn ich genügend Geld hatte, um mir am Kiosk ein Comicheft zu kaufen, anstatt es stehlen zu müssen. Vor zehn Jahren war ich froh, dass ich die Miete immer pünktlich überweisen konnte. Ich meine, wir ändern uns doch ununterbrochen, nicht wahr? Was immer wir haben, irgendwann wird es uns nicht mehr genug sein. Ich will deiner Frage gar nicht ausweichen. Ich glaube sogar, dass ich so ehrlich zu dir bin wie nur irgend möglich. Ganz egal, wie gut das hier laufen wird, ganz egal, wie viel Geld wir damit verdienen, es wird der Tag kommen, wo mir das nicht mehr genügt, und dann werde ich noch mehr wollen. Für mich. Für uns.«
Ich muss an meine Reisejahre denken und wie ich mein Erbe Penny für Penny verbraucht habe, so lange, bis kein einziger mehr übrig war. Ich habe das angenehme Leben, in das ich hineingeboren worden war, erst zu schätzen gewusst, als ich es verloren hatte. Ich wollte es wieder angenehm haben. Ich musste ihm vertrauen.
»Ich vertraue dir«, sagte ich.
Er lächelte. »Rom ist schon lange her, nicht wahr?«
»Eine Ewigkeit.«
Er legte die Hände auf meine Schultern und fing an, sie zu massieren. »Wir schaffen das. Das würde ich nicht sagen, wenn ich nicht fest daran glauben würde.«
1.15 Uhr
Abgesehen von dem leeren Zimmer, in das ich eingestiegen bin, gibt es noch einen Besprechungsraum, eine Küche, mehrere Toiletten und ein Großraumbüro. Nur dort sind Spuren menschlichen Lebens festzustellen. Die anderen Räume sehen aus, als seien sie noch nie benutzt worden, oder zumindest so selten, dass es kaum zählt. Da Leo das Geschäft ganz alleine führt, ist es kein Wunder, dass der Besprechungsraum unberührt geblieben ist. Der Großteil seiner Arbeit findet ohnehin in Übersee oder wenn er unterwegs ist statt. Und wenn er nicht verreist ist, dann ist er bei mir.
Mir wird klar, dass ich mir eine Menge einrede. Ich versuche, die Lücken zu füllen und alles das wegzuerklären, was zum Bild eines Mannes beitragen würde, den ich immer weniger erkenne.
Das Großraumbüro bietet Platz für mehrere Schreibtische. Leos eigentlicher Arbeitsplatz liegt abgetrennt hinter einer Glasscheibe. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und ich mache sie auf. Es ist ein kleiner quadratischer Raum mit einem Schreibtisch, einem Aktenschrank, einem Computer und einem Whiteboard an der einen Wand. Als Stuhl hat er sich einen dieser unfassbar kostspieligen ergonomischen Sessel mit Netzrücken ausgesucht. Ich setze mich hin, während Trevor sämtliche Jalousien herunterlässt.
»Machen Sie die Augen zu«, sagt er.
Ich bin so sehr in meine Gedanken an Leo vertieft, dass ich gar nicht registriere, was Trevor vorhat, bis die Neonleuchten aufflammen und mich blenden.
Ich verziehe das Gesicht und schließe die Augen. »Trevor …«
»Was denn?«, erwidert er. »Ich hab Sie doch gewarnt.«
»Was soll denn das? Schalten Sie das wieder aus.«
»Was sollen wir denn Ihrer Meinung nach im Dunkeln finden?«
»Ich habe das ungute Gefühl, dass es hier überhaupt nichts zu finden gibt.«
Trevor schnaubt nur. »So schnell geben wir nicht auf. Wir sind bis hierher gekommen, und jetzt sollten wir nicht gleich die Flinte ins Korn werfen.«
Ich nicke und stoße vernehmlich den Atem aus. »Ja, Sie haben recht. Ich muss mich konzentrieren. Muss mir ein bisschen was von dieser zupackenden Trevor-Energie zulegen.«
»So ist es richtig.«
»Warum sind wir hier? Was suchen wir? Ich möchte wissen, wer nun eigentlich die Wahrheit über Leo gesagt hat, Wilks oder Carlson. Oder vielleicht liegen sie alle beide falsch? Wobei, angesichts des auffälligen Mangels an Wein in diesem Weinlager wage ich mich einfach mal vor und sage: Da ist was faul im Staate Dänemark.«
Trevor nickt. »Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns einig.«
Ich betrachte Trevors alte Jeans, seine alten Tattoos, sein altes Gesicht. »Lassen Sie mich raten: Sie halten nicht viel von Computern, stimmt’s?«
»Ihr Leute von heute, ihr glaubt wirklich, dass sich alles nur um Technologie dreht. Ihr vergesst …«
»Was habe ich gerade gesagt?«
Er grummelt etwas vor sich hin.
»Na bitte«, sage ich und zeige auf den Aktenschrank. »Sie nehmen sich den da vor.«
»Wonach soll ich suchen?«
»Alles, wo Rom erwähnt wird.«
»Was genau meinen Sie mit ›alles‹?«
»Alles.«
Er runzelt die Stirn.
»Wir tappen völlig im Dunkeln, Trevor. Heute Morgen hat Messer von Rom gesprochen, und das Bild von Leo, das Carlson im Handschuhfach hatte, ist auch in Rom aufgenommen worden. Das kann kein Zufall sein. Ich nehme also an, dass es irgendwelche Quittungen oder andere Papiere geben wird, die sich auf Rom beziehen. Geld hinterlässt immer eine Spur.«
»Ich dachte, der Sinn und Zweck von einer Geldwäsche liegt gerade darin, die Spur zu verschleiern.«
»Das stimmt nicht ganz. Das Geld soll dadurch legitimiert werden, oder nicht? Man wäscht schmutziges Geld sauber, damit es nicht mehr versteckt werden muss.«
»Und wie funktioniert das?«
»Als hätte ich davon auch nur den leisesten Schimmer«, entgegne ich. »Aber dass Sie mir das zugetraut haben, fasse ich als Kompliment auf.«
Er zuckt mit den Schultern. »Na ja, könnte ja ein Familienunternehmen sein.«
»Das ist nicht witzig.«
»Ich finde schon.«
»Haben Sie schon eine Akte gefunden, in der Rom erwähnt wird?«
Er macht sich an die Arbeit.
Ich tippe eine Taste auf der Tastatur an und wecke den schlafenden Computer auf. Der Startbildschirm verlangt ein Passwort. Ich rate ein bisschen herum: Leos Lieblings-Baseball-Team, Basketball-Team, Fußball-Team. Es überrascht mich nicht, dass keines davon funktioniert. Er hat sich garantiert irgendeine alphanumerische Kombination ausgedacht, die unmöglich zu erraten ist.
Ich gebe auf. Dass ich hier nicht weiterkomme, ist vermutlich so normal, dass ich mich wirklich nicht darüber aufregen sollte. Leo kennt das Passwort für meinen Laptop schließlich auch nicht, also welches Recht habe ich jetzt, empört zu sein? Andererseits gibt es jetzt eben noch ein weiteres Geheimnis. Was weiß ich denn noch alles nicht über ihn? Wie viele Geheimnisse müssen noch enthüllt werden, bis das alles endlich aufhört?
Ich brauche nur daran zu denken, schon werde ich wütend.
Mein Wutanfall ist zwar heftig, dauert aber nur wenige Sekunden, weil mein Blick auf ein Foto auf Leos Schreibtisch fällt. Ein richtiges Foto, mit einer richtigen Kamera auf Film gebannt und von Profis in einem richtigen Fotolabor entwickelt. Es steckt in einem massiven Silberrahmen, weil dieses Foto etwas Besonderes ist. Ich habe es meinem Ehemann geschenkt. Es zeigt uns gemeinsam, lächelnd und glücklich. Er hat einen Arm um mich gelegt, und ich lehne mich an ihn, habe meinen Kopf an seiner Brust. Wir sind sonnengebräunt und mehr als nur leicht beschwipst, weil wir gerade eben in einem belebten, kleinen Bistro zu Abend gegessen haben, und zwar so viel, dass wir beide unsere Gürtel weiter schnallen mussten. Leos rechte Gesichtshälfte hat ein bisschen zu viel Sonne abbekommen. Sie ist leicht gerötet. Trotzdem sieht er immer noch aus wie ein Filmstar, noch mehr als sonst sogar. Die untergehende Sonne taucht uns in ein perfektes, orange-pinkfarbenes Licht. Ein älteres Paar hat uns damals angesprochen und gesagt, dass wir ein wunderschönes Paar abgeben. Leo hat sie gefragt, ob sie uns fotografieren würden, und sie waren sofort dazu bereit, ja, sie haben sich beinahe gestritten, wer uns mit Leos erstklassiger Nikon fotografieren durfte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Frau damals gewonnen. Sie hat in ihrem Schnellfeuer-Italienisch etwas zu uns gesagt, was wir nicht verstanden haben, und wir haben uns daraufhin verwirrt angeschaut. Als wir die entwickelten Fotos dann abgeholt hatten, haben wir gemerkt, dass sie genau in dem Moment auf den Auslöser gedrückt hatte, als wir nicht die Kamera geblickt, sondern einander angeschaut hatten. Zuerst war ich sauer deswegen, aber Leo gefiel das Bild genau aus dem Grund, aus dem es mir nicht gefiel: Weil es uns so zeigt, wie wir waren: zwei herumalbernde Trottel, die Grimassen schneiden, anstatt sich hübsch brav in Pose zu werfen. In unserem Element, so sagte er. Unsere entgleisten Gesichtsausdrücke perfekt eingefangen. Mit der Zeit habe ich gelernt, dieses Bild zu lieben.
In Rom.
Ich sage zu Trevor: »Sie können wahrscheinlich gleich wieder aufhören zu suchen.«
»Wie bitte?«
Ich wiederhole meinen Satz nicht noch einmal, sondern greife nach dem Bilderrahmen. Er ist verdächtig schwer. Ich drehe ihn um und öffne mit meinen Fingernägeln die Abdeckung. Das ist nicht leicht, weil ich meine Nägel immer bis aufs Nagelbett abnage, um meine Ängste ein wenig zu besänftigen. Doch nach kurzem Kampf schaffe ich es.
Da fällt etwas auf den Schreibtisch.
Klein, quadratisch, dünn und aus Plastik.
Eine Mikro-SD-Karte.
»Was ist das?«, will Trevor wissen.
»Wenn ich raten müsste«, sage ich und untertreibe dabei bewusst, »dann würde ich sagen, dass wir genau das gefunden haben, wohinter alle her sind.«
Trevor starrt die winzig kleine Speicherkarte an, als hätte er keinen Schimmer, was das ist.
Er sagt: »Ich habe keinen Schimmer, was das ist.«
»Vielleicht haben Sie schon mal was von einer Festplatte gehört? Das sind diese Dinger, die in Computer eingebaut werden und auf denen die Leute ihre Daten speichern.« Er nickt. »Das Ding hier ist genau das Gleiche, bloß kleiner. Stellen Sie sich sämtliche Bücher vor, die Sie in Ihrem ganzen Leben gelesen haben. Die würden alle hier draufpassen, und dann wäre noch Platz für tausend weitere.«
Trevor sieht mich an, als hätte ich das Feuer entdeckt. »Und, was ist da drauf?«
»Das ist die entscheidende Frage, nicht wahr? Was immer Leo gemacht hat, und für wen auch immer, alles das finden wir hier drauf. Nehme ich jedenfalls an. Wirklich sicher bin ich mir im Moment ja bei gar nichts.«
»Und wie können wir da reinschauen?«
Ich sehe mir die verschiedenen Steckplätze an Leos Computer an. »Der hat keinen Slot für eine Mikro-SD. Wir brauchen einen Adapter.« Trevor hat keine Ahnung, wovon ich rede, und ich versuche, es ihm mit Gesten zu erklären. »Das ist ein kleines Plastikding, in das wir die Mikro-SD-Karte stecken können. Und anschließend stecken wir das Plastikding in den Computer.«
»Wieso machen sie dann nicht gleich einen Computer mit so einem Plastikding?«
Ich durchsuche die Schreibtischschubladen, falls sich darin irgendwo ein Adapter herumtreiben sollte. »Sagen Sie’s mir, Trevor, sagen Sie’s mir.«
»Gier«, erwidert er. »Das ist der Grund. Es geht immer um die Gier, mit der sie unsere Freiheit einschränken wollen. Das passiert, wenn die Gesellschaft ihre zentralen Werte vergisst, wenn die Leute nicht mehr eine höhere Macht anbeten, sondern materielle Güter, weil sie sich davon einen höheren Gewinn versprechen. Und dann findet man genau so …«
»Eigentlich wollte ich gar keine Antwort haben«, unterbreche ich ihn.
»Dann betrachten Sie das als unerwarteten Bonus.«
»Mm-hmm.«
In keiner der Schubladen ist ein Mikro-SD-Adapter zu finden. Gemeinsam durchsuchen wir das ganze Büro, aber ohne Erfolg.
»Wo sollen wir denn um diese Uhrzeit noch einen Adapter herkriegen?«, frage ich. »Selbst, wenn wir Carlson nicht in Ihrer Hütte zurückgelassen hätten, ich nehme an, Sie haben da auch keinen herumliegen, oder?«
»Ich habe keinen Adapter«, erwidert Trevor. »Weil ich nämlich richtige Bücher lese. Ich finde, das kommt bei den meisten Leuten viel zu kurz.«
Ich gehe nicht darauf ein. »Ich habe einen bei mir zu Hause, wahrscheinlich sogar mehr als einen. Aber da können wir im Moment ja nicht hin.«
»Wozu brauchen Sie denn mehr als einen Adapter?«
»Also, diese … diese Dinger, die sammeln sich einfach an, Trevor. Niemand will tatsächlich mehr als einen davon haben. Das ist wie mit USB-Ladekabeln. Ehe man sich’s versieht, hat man …«
Ich halte inne. Trevor hat die Augen weit aufgerissen und sieht mich verwirrt an.
»Vergessen Sie’s«, sage ich.
Ich halte die Mikro-SD-Karte zwischen Zeigefinger und Daumen und starre sie an, als könnte ich von ihr Ratschläge oder Antworten erwarten.
Die bleiben jedoch aus, und ich spüre eine gewisse Enttäuschung, wenn auch keine Überraschung.
»Und, was sollen wir jetzt machen?«
»Wir könnten irgendwo einbrechen und einen stehlen«, schlage ich vor.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
»Wieso denn nicht? Es wäre ja nicht das erste Mal heute Abend, dass wir gegen das Gesetz verstoßen. Hier haben wir schließlich auch eingebrochen, oder nicht? Wir sind also schon Verbrecher.«
»Das ist etwas anderes.«
»Inwiefern?«
»Weil die Halle hier Ihrem Mann gehört und darum auch Ihnen. Wenn Sie in Ihr eigenes Haus einbrechen, dann ist das kein Verbrechen. Es gehört Ihnen ja schon.«
»Also gut«, gebe ich zu, »Sie haben recht.« Ich stecke die Mikro-SD-Karte ein. »Und was ist mit Diebstahl?«
»Was Ihnen sowieso gehört, können Sie auch nicht stehlen.«
»Jaja«, sage ich.
Da lässt sich eine Stimme vernehmen: »Die brauche ich aber wieder.«
Ich schrecke zusammen. Drehe mich um.
In dem Raum hinter Leos Büro steht ein Mann. Attraktiv. Groß. Wuschelige blonde Haare. Schauspielerlächeln.
Leo.
1.17 Uhr
Es gibt nur eine einzige Kneipe in der Stadt, und Rusty kennt jeden einzelnen Stammgast persönlich. Sie alle zeigen sich von ihrer schlechtesten Seite, nur um der Besitzerin bei der Abzahlung ihres Kredits behilflich zu sein. Das ganze Ambiente wirkt irgendwie spelunkig, aber vielleicht soll das auch eine Art Ironie sein. Vielleicht so eine Art Motto-Kneipe. Heidi jedenfalls ist eine lebenslustige Frau aus der Stadt, die mit Immobilien oder so – Rusty kann sich nicht mehr genau daran erinnern – einen Haufen Kohle gemacht hat. Doch dann ist sie hier hoch in den Norden gekommen, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Manche Leute stehen ja auf so was. Ein bisschen so wie Jem Talhoffer, bloß dass Heidi viel geselliger ist, viel mehr Einheimische in jeder Beziehung. Heidi hat ihren Großstadtakzent komplett abgelegt und zieht sich an, als hätte sie noch nie im Leben an einem Martini genippt.
Sie ist außerdem auch nicht auf der Flucht.
Heute steht Heidi allein hinterm Tresen. Sie hat zwar einen Angestellten, aber den braucht sie nur am Wochenende, wenn die Leute mehr als nur zwei Bier trinken. Unter der Woche geht es hier ruhig zu. Da sind nur die Stammgäste hier, und Stammgäste in diesem Teil der Welt behüten ihre Getränke so liebevoll, als wären es Neugeborene. Rusty hat schon gesehen, wie jemand den ganzen Abend nur mit einem einzigen Glas Bier zugebracht hat, so lange, bis es schal und warm war, und das, obwohl es schon von Anfang an nicht als eiskalter Frischmacher aus dem Zapfhahn gekommen war.
Rusty hat noch nie mitbekommen, dass Heidi sich beklagt oder ihre Gäste ermuntert hätte, schneller oder mehr oder mindestens auszutrinken. Dazu ist sie nicht der Typ. Sie hatte fast genügend Geld beisammen, um den Laden vom Fleck weg zu kaufen, darum wird der Kredit, für dessen Abzahlung sich alle hier von ihrer schlechtesten Seite zeigen, eher winzig sein. Außerdem hat Heidi Manhattan nicht deswegen den Rücken gekehrt, um reich zu werden. Sie wollte vielmehr ein einfacheres, ruhigeres Leben führen.
Es gibt hier einen bestimmten Barhocker, den Rusty als ihren persönlichen Besitz betrachtet, weil es der einzige mit vier gleich langen Beinen ist. Die anderen sind alle verzogen und schaukeln hin und her, aber eine Frau von Rustys Dimensionen braucht ein solides Fundament für ihre Sitzfläche, besonders, wenn ein, zwei berauschende Getränke mit im Spiel sind.
Und heute Abend werden es vielleicht mehr als nur ein, zwei werden.
Da sie so plötzlich zur Arbeit gerufen worden war und ihren schönen Marihuanarausch hatte verleugnen müssen, ist sie jetzt zwar müde, aber gleichzeitig auch aufgekratzt. Sie braucht ein kleines Gegenmittel, um ein bisschen runterzukommen.
»Was ist denn mit dir passiert?«, will Heidi wissen, während sie die Unterarme auf den Tresen legt und vor Rusty zur Ruhe kommen lässt. »Du siehst aus wie aufgefressen und wieder ausgespuckt, weil der, der dich fressen wollte, dich nicht mag.«
Rusty knurrt nur.
»Mutter oder Tochter?«, hakt Heidi nach.
»Weder noch«, erwidert Rusty, auch wenn es locker eine oder auch beide hätten sein können. »Aber wenn du willst, dass meine Lippen sich öffnen, dann musst du was von deinem Spezialschmiermittel auftragen.«
Heidi salutiert. »Zu Befehl, Madam.«
Sie mixt einen Gin-Tonic. Rusty sieht ihr zu und stellt dabei fest, dass das Mischungsverhältnis eins zu eins beträgt.
Heidi hat die Unterarme wieder auf den Tresen gelegt und sieht zu, wie Rusty einen tiefen Schluck nimmt.
»Schmeckt anders«, sagt Rusty.
»Ich hatte den Eindruck, du könntest heute was Stärkeres vertragen.«
Rusty sucht in ihrem Glas nach Antworten. »Nein, nicht das. Da ist noch was anders als sonst.«
Heidi zuckt mit den Schultern. »Sobald du das Geheimnis der perfekten Mischung entdeckt hast, sei es beim Gin oder im Leben allgemein, dann lass es mich wissen. Aber bis dahin sei dankbar für das, was du bekommst.«
Rusty nimmt noch einen Schluck. »Oh, dankbar bin ich auf alle Fälle.«
»Spann mich nicht länger auf die Folter.«
Rusty formt mit den Fingern eine Pistole und sagt: »Peng, peng.«
Heidis große grüne Augen funkeln: »Du willst mich verarschen.«
»Schön wär’s, aber nein. Ich hab eine Leiche am Hals. Komme direkt vom Tatort.«
»Was ist passiert?«
Rusty hätte die ganze Nacht in Heidis Augen versinken können. »Du wirst verstehen, dass ich dir keine Einzelheiten verraten darf.«
Heidi reagiert schnell. »Na, klar. Ein paar allgemeine Bemerkungen müssten reichen. Hauptsache, schön saftig.«
»Aber so viel kann ich sagen: Der oder die Hauptverdächtige verfügt über einen Wohnsitz in unserem schönen, kleinen Städtchen und befindet sich gegenwärtig auf der Flucht.«
»Müsstest du dann nicht versuchen, ihn oder sie einzufangen?«
Rusty zieht die Stirn kraus. »Ich bin die Dienststellenleiterin und kein Bluthund.«
Heidi hebt entschuldigend die Hände. »Also ist der Flüchtige anscheinend nicht bewaffnet und gefährlich.« Sie duckt sich demonstrativ, als könnte der Flüchtige jeden Moment in ihre Kneipe stürmen und drauflosballern.
»Nicht einmal ansatzweise«, entgegnet Rusty. »Ich rechne fest damit, dass die gesuchte Person sich morgen früh freiwillig stellt. Und darum …«, sie deutet auf den Gin Tonic, »… kann ich es mir erlauben, für einen Moment den Fuß vom Gas zu nehmen.«
»Und wenn die Person sich nicht freiwillig stellt?«
»Ausgezeichnete Frage«, sagt Rusty und denkt daran, dass sämtliche diensthabenden Beamten gerade unterwegs und auf der Suche nach Jem und Carlson sind und dass niemand auch nur den Hauch einer Spur gefunden hat. Und dann ist da noch Wilks, die sich nach ausgiebigen Protesten schließlich doch in ein Krankenhaus begeben hat, um ihren Kopf begutachten zu lassen.
Rusty schnauft.
Sie sagt: »Mal ganz unter uns, so sicher bin ich mir gar nicht. Auch wenn ich’s nur ungern zugebe, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass mir die Sache etliche Nummern zu groß ist. Egal, wie sehr ich mich strecke.«
Heidi will so etwas nicht hören. »Das ist bloß die Müdigkeit, der Stress. Du bist aus einem ganz bestimmten Grund Polizeichefin geworden, Rust. Du kannst beißen.«
»Ich kann mir die Zähne ausbeißen, meinst du wohl.«
Heidi zuckt mit den Schultern. »Na ja, aber auch dazu musst du zuerst mal zubeißen, also lassen wir’s drauf ankommen.«
»Von mir aus.«
Rusty lächelt. Heidi schafft es jedes Mal, sie aufzuheitern.
Ein Stammgast am hinteren Ende des Tresens gibt ihr ein Zeichen, und sie schlendert zu ihm. Rusty kann die Worte nicht hören, aber es wird ziemlich viel gelächelt, auf beiden Seiten. Wenn da nicht der breite, auf Hochglanz polierte Tresen zwischen ihnen wäre, man könnte es fast als Date deuten, so viel, wie da geflirtet wird. Verstehen die beiden sich wirklich so gut, oder gehört das einfach nur zum Service? Der Stammkunde ist Lkw-Fahrer, ein großer, liebenswerter Kerl mit einem freundlichen Lächeln. Könnte schon Heidis Typ sein, oder? Sie ist ja mit dem Umzug in den Norden nicht automatisch Nonne geworden. Sie hat die gleichen Bedürfnisse wie alle Frauen.
Rusty hat ihr Glas geleert, als Heidi wieder zu ihr kommt.
»Ganz schön durstig«, bemerkt Heidi.
Rusty nickt, ohne sie anzusehen.
Heidi weiß nicht, wie sie diesen plötzlichen Rückzug deuten soll. »Und?«, sagt sie, um die Stille zu durchbrechen. »Hat er es getan?«
Rusty hebt den Blick. »Hat wer was getan?«
Heidis Finger formen nun ebenfalls eine Pistole. »Das Peng-peng«, sagt sie. »Hat der Verdächtige es getan?«
»Das Labor wertet die Spuren gerade aus. Das wird dauern. Aber es gibt einen Zeugen.«
Heidi stützt nun die Hände auf den Tresen, und ihre Augen funkeln erneut. »Faszinierend.«
»Wieso betonst du das so komisch?«
»Weil du dem Zeugen nicht glaubst«, sagt Heidi. »Das steht klar und deutlich in deinem langen Gesicht geschrieben.«
»In meinem runden Gesicht, meinst du.«
Heidi schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Also, warum musst du dich eigentlich ständig so runtermachen?«
Rusty lässt den Blick durch die Kneipe schweifen. »Vielleicht, weil es dann nicht mehr so schlimm ist, dass andere das auch machen.«
Heidi nimmt Rustys leeres Glas in die Hand und schüttelt es, sodass die Eiswürfel klimpern. »Ich glaub, ich hab’s ein bisschen zu gut mit dir gemeint. Jetzt hast du die lustige Phase übersprungen und bist direkt in der Depri-Phase gelandet.«
»Könnte man meinen, aber wir wissen doch beide, dass deine Schnäpse zur Hälfte aus Wasser bestehen.«
»Autsch!« Heidi legt eine Hand auf die Brust und weicht zurück. »Ich nehm’s zurück. Du bist sogar gleich bis in die gehässige Phase vorgesprungen. Was habe ich dir denn getan?«
Rusty wirft bewusst keinen einzigen Blick in Richtung des Lkw-Fahrers. »War doch bloß Spaß.«
»Ich weiß.«
»Ich weiß.«
Heidi sagt: »Du hast mir keine Antwort auf meine Frage gegeben.«
»Vielleicht kannst du mein Gedächtnis ein bisschen auffrischen?«
»Ich habe gesagt, dass du deinem Zeugen nicht glaubst.«
»Das ist keine Frage.«
Heidi beugt sich über den Tresen, sodass ihre und Rustys Nasenspitzen sich beinahe berühren.
»Und das, Frau Polizeidienststellenleiterin, ist keine Antwort.«
»Wenn etwas watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente …«
Heidi unterbricht sie: »Wie lange willst du mich eigentlich noch hinhalten?«
»Sagen wir mal so …« Rusty widersteht dem Drang, sich auch vorzubeugen. »So, wie dieser Tag sich bis jetzt entwickelt hat, glaube ich niemandem ein Wort.«
Sie legt das Geld für den Drink und ein üppiges Trinkgeld auf den Tresen. Bei Heidi ist Rusty mit dem Trinkgeld immer großzügig. Zu großzügig, vermutlich, aber sonst kann sie mit ihrem Gehalt ja nicht allzu viel anfangen.
»Wo willst du denn jetzt schon wieder hin? Ich muss dir auch noch das eine oder andere erzählen.«
Rusty dreht sich nicht um. »Tut mir leid, Heidi, aber so wie’s aussieht, steckt doch noch ein bisschen was von einem Bluthund in mir.«
1.28 Uhr
Ich bin so verblüfft über Leos Anblick, dass ich mich nicht von der Stelle rühre. Ich starre ihn nur an. Ich stehe nicht einmal auf. Trevor bleibt stumm. Er weiß auch ohne Vorstellungsrunde, dass der Mann, der da vor uns steht, Leo ist.
Mein Mann sagt: »Bekomme ich denn gar keine Umarmung?«
Ich blinzele.
Meine Verblüffung lässt nach, ich springe auf und werfe mich ihm an den Hals. Ich drücke ihn so fest an mich, dass ich spüren kann, wie seine Rippen unter dem Druck nachgeben. Er fühlt sich so warm an, so beruhigend, dass ich ihn nie wieder loslassen möchte. Solange ich ihn festhalte, kann ich den Rest dieses Abends, den kommenden Tag, einfach ignorieren. Dann muss ich mich dem nicht stellen.
»Dir ist schon klar, dass ich irgendwann mal wieder Luft holen muss, oder?«
Ich löse mich von ihm. »Was ist hier los?«
»Kein ›Wie schön dich zu sehen, Leo‹? Kein ›Ich hab dich so vermisst, Leo‹?«
»Ich würde sagen, Ihre Frau hat das Recht auf Antworten«, schaltet sich Trevor ein.
»Und wer sind Sie?«
»Ein besorgter Bürger.«
»Nun, Sir, Sie können ab sofort wieder unbesorgt sein. Vielen Dank für alles, was Sie für Jem getan haben, aber jetzt bin ich hier. Und ich werde mich um alles kümmern.«
So einfach lässt Trevor sich nicht beschwichtigen.
Ich sage: »Leo, bitte. Dieser Tag war die Hölle. Ich erzähle es dir ganz bestimmt, jedes Detail. Ich heule mich an deiner Schulter aus, hundertprozentig. Versprochen. Aber nicht jetzt. Jetzt musst du mir sagen, was hier eigentlich los ist. Du musst mir sagen, wieso es Leute gibt, die es auf mein Leben abgesehen haben.«
»Das ist nicht so einfach.«
Meine Augen werden feucht, und meine Stimme wird lauter. »Nein, das darfst du nicht sagen. Wage es nicht, so etwas zu sagen. Du weißt Bescheid. Vielleicht weißt du nicht alles. Vielleicht würdest du gerne mehr wissen. Aber du weißt etwas. Ich habe heute schon zu hören bekommen, dass du Geld für ein Drogenkartell wäschst, dass du deren schmutziges Geld mithilfe deiner Bücher irgendwie sauber wäschst, aber auch, dass du als Informant für das FBI arbeitest und dass das Kartell dir auf die Schliche gekommen ist.«
Leo sagt kein Wort.
»Was stimmt denn nun? Wie viel davon ist wahr? Nichts davon? Alles? Es ist mein Recht, das zu erfahren. Ich muss es wissen. Wieso liegt jetzt ein Toter in meinem Haus? Was ist der Grund dafür, dass ich nicht mehr nach Hause kann?«
Leo blickt über meinen Kopf hinweg zu Trevor. »Darüber kann ich im Moment nicht sprechen.«
Ich schüttele entschieden den Kopf. »Nein, das kommt überhaupt nicht infrage. Im Augenblick vertraue ich Trevor mehr als dir, weil er nämlich den ganzen Tag lang nichts anderes gemacht hat, als freundlich und hilfsbereit zu sein. Du darfst ihn nicht ausschließen. Ganz egal, was du mir sagst, ich würde es ihm sowieso erzählen. Er hat das Recht zu erfahren, wofür er mir geholfen hat.«
»Du lässt mir ja keine große Wahl, oder?«, erwidert Leo, ohne eine Antwort zu erwarten. »Also gut, wenn du ihm vertraust, dann kann ich das zumindest auch versuchen. Du bist meine Frau, und darum solltest du auch wissen, weshalb du in Gefahr schwebst, weshalb ich in Gefahr schwebe. Weshalb …«, er deutet auf Trevor, »… er ebenfalls in Gefahr schwebt.«
»Ich warte.«
Leo holt tief Luft. »Es ist wahr.«
»Du bist also ein Geldwäscher?«
Er runzelt die Stirn. »Das ist kein sehr präziser Ausdruck für das, was ich tue.«
»Bist du auch ein Informant?«
Er nickt.
Ich atme aus. Bin erleichtert. Bis zuletzt habe ich mich an die Hoffnung geklammert, dass er nicht nur ein ganz normaler Verbrecher ist. Ich habe gewusst, dass da mehr dahinterstecken muss.
»Erst seit Kurzem?«, hake ich nach, etwas zögerlich, weil ich mich vor der Wahrheit fürchte. »Oder schon die ganze Zeit?«
Leo zögert. Ich sehe ihm an, dass er mir nur ungern die Wahrheit sagen will, weil er weiß, was das bei mir auslösen wird.
»Oh mein Gott, du hast mich von Anfang an belogen, nicht wahr? Unsere ganze Beziehung, unsere Ehe ist eine einzige Lüge.«
»Nur in Bezug auf meinen Beruf«, erwidert Leo. »Alles andere ist die Wahrheit. Jem, das, was wir miteinander haben, ist wahr.«
Ich bleibe stumm. Ich bin am Boden zerstört. Aber das ist nur die eine Hälfte dieses Rätsels. Es ist keine Erklärung für das, was heute alles passiert ist. Nicht für Wilks und Messer, und nicht für Carlson.
»Warum sind heute Morgen zwei Leute zu uns nach Hause gekommen? Warum haben sie versucht, mich umzubringen? Die haben nach etwas gesucht, nach Informationen.«
Er nickt. »Informationen über das Kartell. Informationen, die ich zusammengetragen habe. Sämtliche Transaktionen, die ich in deren Auftrag durchgeführt habe, jeden Cent, den ich für sie gewaschen habe. Die Summen. Die Datumsangaben. Kontonummern. Briefkastenfirmen. Kontakte. Alles. Seit Jahren bin ich dabei, mir das Vertrauen des Kartells zu erwerben. Und jetzt endlich bin ich in einer Position, wo sie mir größere Summen anvertrauen. Damit habe ich auch Zugang zu den führenden Köpfen und kann genau sehen, wen sie alles bestochen haben.«
»Messer hat behauptet, dass du genügend Informationen gesammelt hast, um das gesamte Kartell zu vernichten.«
»Kann sein«, sagt er. »Hoffentlich, meine ich. Ich weiß es nicht sicher. Man kann nie wissen, ob es wirklich reicht. Aber ich habe es versucht. Ich habe mein Bestes gegeben.«
»Wilks und Messer hatten FBI-Dienstmarken«, sage ich. »Die Polizeichefin, Rusty, ist darauf reingefallen. Später hat sie mir dann gesagt, dass die beiden vom Heimatschutz sind. Wie kann das sein?«
»Sie arbeiten für die Behörden, das steht jedenfalls fest. Sie stehen in Verbindung zu anderen Mächtigen, die vom Kartell geschmiert werden und die durch die Beweise, die ich gesammelt habe, möglicherweise gefährdet sind. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass diese Leute Ausweise beschaffen können, mit denen sich eine Kleinstadt-Polizistin übertölpeln lässt.«
»Und wer ist dann Carlson?«, frage ich Leo.
Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte. »Ich bin verwirrt. Was hat es denn bitte mit diesem Carlson auf sich?«
»Dieser Carlson hat mich heute Morgen angerufen, kurz nachdem Wilks und Messer aufgetaucht sind. Er wollte mich warnen, und später noch einmal, als ich zur Polizei wollte. Er hat gesagt, dass ihr euch kennt. Von ihm weiß ich, dass du ein FBI-Informant bist. Er hat behauptet, dass du für ihn arbeitest. Er … er hat mich in Sicherheit gebracht, als Wilks und Messer mich umbringen wollten. Wir sind zusammen geflüchtet, aber dann habe ich in seinem Handschuhfach ein Foto von dir gefunden. Ich habe Panik bekommen. Von da an konnte ich ihm nicht mehr vertrauen. Und dann sind Trevor und ich hierhergefahren.«
Leo wird ruhig. »Ich kenne niemanden, der so heißt.«
Ich spüre die bekannte Kühle auf meinem Gesicht, so, als sei sämtliches Blut daraus abgesaugt worden.
Meine Augen fühlen sich trocken an.
Die Erde schwankt in die eine Richtung, dann in die andere.
Sie dreht sich.
Schneller und schneller.
Alles dreht sich, alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich breite die Arme aus und versuche verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Ich wanke. Ich taumele.
»Oh Gott …«
Ich sinke auf die Knie und drücke die Handballen auf die Augen, damit ich nicht mitbekomme, wie die Welt sich schneller und schneller um mich dreht. Das Schwindelgefühl verlässt mich nicht. Ich kann nichts sehen, aber mir ist trotzdem speiübel. Das liegt daran, dass die Welt sich natürlich nicht wie verrückt um mich dreht. Es ist vielmehr ein Symptom meiner Angststörung. Mein völlig verwirrtes Hirn versucht, mit dem Stress dieses Tages fertigzuwerden, und schafft es nicht.
Leo möchte mich tröstend in die Arme nehmen, aber ich winke ab, will das nicht.
Er kann nichts dagegen tun.
Ich weiß nicht, wie lange die Angst mich im Griff hat, aber als ich endlich genügend Mut zusammengerafft habe, um meine Augen wieder zu öffnen, bin ich schweißgebadet.
Ich bin leichenblass. Geschwächt. Erschöpft.
Wütend.
Leo fragt: »Alles in Ordnung?«
»Selbstverständlich nicht.«
1.34 Uhr
Ich sage kein Wort. Ich sehe Leo an, und meine Gefühle fahren Achterbahn. Eigentlich müsste ich mich freuen, ihn zu sehen, bei ihm zu sein, aber gleichzeitig kann ich nicht vergessen, wie verletzt, wie wütend ich bin, wie sehr ich mich hintergangen fühle. Soll ich das alles vergessen? Zumindest für den Augenblick?
Nein, sage ich mir. Das will ich nicht.
»Wie konntest du nur die ganze Zeit dieses Doppelleben führen, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte?«
Leo sagt: »Weil ich es musste. Je weniger du über meine Arbeit wusstest, desto sicherer warst du. Ich habe dich belogen, um dich zu schützen.«
»Hat ja prima geklappt«, wirft Trevor ein.
»Ich habe alles getan, was ich konnte, um für deine Sicherheit zu sorgen, Jem. Das musst du mir glauben, und wenn es das Letzte ist. Du weißt, dass ich dich niemals in Gefahr bringen würde. Das musst du doch wissen.«
Das weiß ich. Aber … »Du hast mir all die Jahre vorgemacht, dass du jemand anderes bist. Wie konntest du nur?«
»Ich habe dich belogen, ja, aber nur in Bezug auf meinen Beruf. Auf meinen Job. Mehr nicht. Das ist alles.«
»Das reicht jetzt«, sage ich. »Das ist zu viel. Jede Lüge ist mir zu viel.«
»Ich habe dir nie vorgemacht, jemand anderes zu sein als der, der ich bin.«
»Doch, das hast du wohl«, beharre ich. »Selbst wenn das deine einzige Lüge war, aber du hast dich als ein anderer ausgegeben. Weil der Leo, für den ich dich gehalten habe, mich nämlich niemals anlügen würde. Dieser Leo war eine Lüge.«
Er sagt nichts mehr. Was soll er auch sagen? Nichts kann an dieser Tatsache etwas ändern. Ich muss entweder akzeptieren, dass mein Mann nicht der ist, für den ich ihn gehalten habe, oder …
Über dieses »Oder« kann ich im Moment nicht nachdenken. Allein das würde mich überfordern.
Er nimmt mich in die Arme. Küsst mich. Ich reagiere nicht.
Ich fühle mich kalt. Ich fühle mich allein.
»Es tut mir leid«, sagt er. »Es tut mir so sehr leid. Sobald das hier vorbei ist, mache ich Schluss. Ich dachte, ich könnte für das FBI arbeiten und ein normales Leben führen. Ich dachte, ich könnte das alles strikt voneinander trennen. Aber ich habe mich geirrt. Ich habe einen Fehler begangen. Aber ich werde nicht noch einen begehen, und darum höre ich jetzt auf. Ich ziehe mich zurück.«
»Das würdest du tun?«
»Aber natürlich«, erwidert er. »Ich mag meine Arbeit, aber im Vergleich zu dir bedeutet sie mir gar nichts.«
Seine Worte besänftigen mich, zwar nur ein kleines bisschen, aber es ist besser als nichts. Im Moment bin ich für jede kleinste positive Regung dankbar.
»Wie bringen wir das Ganze am besten zu Ende?«, frage ich ihn, weil ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen möchte. »Fahren wir zur FBI-Zentrale und geben die SD-Karte ab?«
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Der einzige Grund, weshalb ich das bis jetzt noch nicht getan habe, ist der, dass ich die Informationen dadurch in die Nähe von Leuten wie Wilks und Messer und ihren Vorgesetzten bringen würde. Und sobald die Daten im System sind, habe ich sie nicht mehr in der Hand. Dinge gehen verloren. Dinge werden verändert. Was zunächst ein Beweis war, erweist sich plötzlich als nicht schlüssig, unpräzise, gefälscht. Und dann? Die Verräter kommen ungeschoren davon, und ich habe wegen nichts und wieder nichts mein Leben aufs Spiel gesetzt.« Er zeigt auf mich, die Kratzer an meinem Arm und in meinem Gesicht. »Alles das, für nichts und wieder nichts.«
»Sie können die Berichte also selbst analysieren?«, schaltet sich Trevor ein. »Sie können die Verräter mit diesem kleinen Plastikding identifizieren?«
Leo nickt. »Das kann ich.«
»Und warum haben Sie das dann noch nicht gemacht? Warum liegt es die ganze Zeit auf Ihrem Schreibtisch und windet sich wie ein Wurm am Haken hin und her?«
»Das ist eine sehr verkürzte Darstellung. Es ist ja nicht so, dass es da eine Tabelle gibt und man nur nachsehen muss, wer alles in der Spalte ›Die Bösen‹ verzeichnet ist. Ich musste sehr viele Nachforschungen anstellen. Musste sehr viel recherchieren. Ich habe damit schon lange zu tun. Also bitte entschuldigen Sie, Sir, dass ich für Ihren Geschmack zu langsam vorangekommen bin. Ich habe mein Bestes getan.«
Trevor nuschelt etwas vor sich hin.
»Wenn Sie ein wenig Abstand gewinnen wollen, lassen Sie sich nicht aufhalten«, fährt Leo fort. »Wie gesagt: Ich weiß das, was Sie für meine Frau getan haben, wirklich sehr zu schätzen, aber vielleicht ist es jetzt das Beste, wenn Sie wieder zu Ihrer eigenen nach Hause fahren.«
»Ich habe keine Frau.«
»Was ich damit sagen will: Hier trennen sich unsere Wege.«
Trevor schweigt für einen Moment. »Ich gehe, sobald Jem will, dass ich gehe. Aber nicht, weil ihr Betrüger von Ehemann das von mir verlangt.«
Ich sage: »Ich bin Ihnen unendlich dankbar für alles, was Sie für mich getan haben, Trevor. Ganz ehrlich. Sie sind vielleicht der netteste Mensch, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist. Wir kennen uns noch nicht einmal einen Tag, und trotzdem haben Sie Ihr Leben riskiert, um mir zu helfen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll.«
»Sie haben sich schon genügend bedankt«, sagt er. »Sie müssen das nicht noch einmal tun.«
Leo sagt: »Wir sollten jetzt wirklich von hier verschwinden. Ich habe gehofft, dass du kommen würdest, dass ich dich hier finden würde. Aber wenn ich daraufkomme, dann können die anderen auch daraufkommen. Wir müssen los, bevor sie hier sind.«
»Zu spät«, sagt Wilks hinter uns.
1.38 Uhr
Sie lauert im Schatten, in der Dunkelheit. Wie lange sie schon hier ist? Ich weiß es nicht. So lange jedenfalls, dass wir unachtsam geworden sind. Als sie in den Mondlichtkegel tritt, sind die Prellungen und die vielen blauen Flecken an ihrem Schädel deutlich zu erkennen. Kleine Pflasterstreifen sorgen dafür, dass die Wunde geschlossen bleibt. Sie muss heftige Schmerzen haben.
Gut so. Ich will, dass sie Schmerzen hat. Ich will, dass sie leidet.
Sie hat eine Pistole in der Hand. Vielleicht ist es dieselbe wie vorhin, vielleicht auch eine andere, aber das spielt keine Rolle. Jedenfalls funkelt sie im Mondlicht, während Wilks sie mit eisernem Griff umfasst.
Sie fixiert uns mit ernsten, entschlossenen Blicken. Durchdringend.
Ich erstarre. Leo und Trevor stehen links und rechts neben mir.
Die schwarze Mündung der Waffe ist genau auf uns gerichtet.
»Schön, dich wiederzusehen, Leo. Gut siehst du aus, wie immer.«
Leo erwidert kein Wort.
Ich sehe ihn an. »Ihr kennt euch?«
Wilks tut überrascht. »Das hat er wohl vergessen zu erwähnen.«
Leo schweigt.
Trevor sagt: »Warum legen Sie nicht die Waffe weg. Wenn Sie lange genug damit herumfuchteln, geht sie womöglich noch los.«
»Das wäre eine echte Tragödie.«
Trevor nickt. »Vermutlich, sonst hätten Sie uns schließlich schon längst erschossen, oder nicht? Sie wollen ja immer noch diese Informationen haben, stimmt’s? Und Sie haben heute schon mehr als genug durchgemacht, sodass Sie auf keinen Fall riskieren wollen, dass dieser ganze Aufwand durch einen einzigen, unachtsamen Schuss zunichtegemacht wird und Sie mit leeren Händen dastehen.«
Wilks überlegt.
»Ich sage gar nicht, dass Sie das Ding wegstecken sollen. Aber ich schlage vor, Sie richten die Mündung auf den Boden, so lange, bis Sie entschieden haben, ob Sie auch wirklich schießen wollen oder nicht. Mehr will ich gar nicht. Das schaffen Sie doch, oder?«
»Also, ich an Ihrer Stelle würde einfach die Klappe halten.« Wilks richtet ihre Waffe auf Trevor. »Im Moment haben Sie keine Ahnung, was hier eigentlich vor sich geht, und es ist – das können Sie mir glauben – in Ihrem ureigensten Interesse, dass das auch so bleibt. Zwingen Sie mich nicht, in Ihnen mehr zu sehen als einen armen, alten Trottel, der zur falschen Zeit am falschen Ort aufgetaucht ist.«
»Da möchte ich widersprechen, Madam.«
»Inwiefern?«
»Vielleicht bin ich ja genau da, wo ich sein soll, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt.«
»Kommen Sie bloß nicht auf dumme Gedanken«, entgegnet Wilks. »Zwingen Sie mich nicht, Ihnen wehzutun, also halten Sie den Mund, dann haben Sie zumindest eine Chance, hier lebend wieder rauszukommen und Ihre jämmerliche Existenz noch eine Zeit lang fortzusetzen.«
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, sage ich.
Wilks sieht mich an. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen, Mrs. Talhoffer. Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ehrlich gesagt, es war kein besonders guter Tag.«
Sie nickt. »Das glaube ich Ihnen sofort. Und es tut mir leid. Die ganze Angelegenheit ist völlig außer Kontrolle geraten. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich würde etliches anders machen, das können Sie mir glauben. Aber das kann ich nun mal nicht.«
Endlich sagt Leo auch etwas: »Was willst du?«
»Du weißt genau, was ich will, Leo. Du hast es schon die ganze Zeit gewusst. Ich will das, was mir gehört. Du gibst mir die Informationen, und ich verschwinde von hier. Du und Jem, ihr könnt machen, was ihr wollt. Und dieser alte Knacker, wer immer das sein mag, der kann auch machen, was er will. Klingt das nach einem fairen Angebot?«
»Ich habe sie nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Die Daten sind in Sicherheit«, sagt Leo. »Ich kann dich hinbringen. Du lässt die beiden gehen, und wir fahren auf der Stelle da hin.«
»Ich glaube eher, wir fahren da alle gemeinsam hin. Ich finde, es ist noch nicht an der Zeit, unsere kleine Band zu sprengen.«
»Nein«, beharrt Leo. »Nur du und ich.«
»Ich bin kein geduldiger Mensch, Leo. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich habe dir ein faires Angebot gemacht. Wahrscheinlich sogar zu fair. Ich habe dir jede Chance gegeben, so etwas wie das hier zu vermeiden, aber du hast sie jedes Mal in den Wind geschlagen. Was hast du denn gedacht, was als Nächstes passieren wird? Hast du wirklich geglaubt, wir würden einfach so wieder gehen? Hast du das wirklich geglaubt? Es geht nur ums Geschäft, Leo. Es ist nichts Persönliches. Ich habe überhaupt kein Problem mit dir, und auch nicht mit deiner liebreizenden Gattin. Wenn die Dinge ein wenig anders gelaufen wären, ich könnte mir ohne Weiteres vorstellen, dass wir uns bei einem Grillabend zusammensetzen, dass wir gemeinsam lachen und Spaß haben und Bier trinken, während das Fleisch vor sich hin brutzelt.«
Ich erwidere: »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Nun ja«, sagt Wilks. »Vielleicht überschätze ich die freundschaftlichen Fähigkeiten Ihres Ehemannes ja.«
»Wer sind Sie?«, will ich von ihr wissen. »Woher kennen Sie Leo?«
»Ach ja, genau, in der ganzen Aufregung habe ich ganz vergessen, dass er Ihnen gar nichts von mir erzählt hat. Leo und ich arbeiten zusammen, beziehungsweise haben zusammengearbeitet. Aber seither hat sich unser Verhältnis deutlich abgekühlt. Oder wie siehst du das?«
»Ich weiß, dass Sie auch beim Heimatschutz arbeiten.«
Wilks lacht leise. Es kling heiser und grausam. Sie blickt Leo an. »Auch? Das hast du ihr erzählt?«
Leo gibt keine Antwort.
Ich sage zu Wilks: »Sie sind nicht bei der Heimatschutz-Behörde?«
»Ich schon«, entgegnet sie. »Aber Ihr Mann nicht.«
»Nicht direkt«, sage ich. »Er ist ein Informant. Daher kennen Sie sich ja.«
Wilks runzelt die Stirn und lässt den Blick zwischen mir und Leo hin und her wandern. »Das hat er Ihnen erzählt?«
Ich bleibe stumm.
»Das hast du ihr also erzählt, Leo?«
Er bleibt stumm.
Wilks sagt: »Es tut mir wirklich leid, dass Sie das von mir erfahren müssen, aber Ihr Mann ist in keinster Weise so etwas wie ein Informant, und das war er auch nie. Er ist nichts anderes als ein Geldwäscher. Aber nicht nur das, nicht wahr, Leo? Außerdem ist er auch ein Dieb.« Wilks’ Augen blitzen. Sie genießt das. »Darüber hinaus ist er ein pathologischer Lügner, aber da sind Sie inzwischen wahrscheinlich auch selbst schon draufgekommen.«
1.42 Uhr
Leo ist kein Informant, der ein Drogenkartell in die Knie zwingen will.
Leo ist ein Lügner.
Leo ist ein Dieb.
Ich will es nicht glauben, aber als ich Leo anschaue, weicht er meinem Blick aus, und ich weiß, dass alles, was er mir in den vergangenen Minuten erzählt hat, gelogen war. Er arbeitet weder für das FBI noch für die Heimatschutzbehörde. Es gibt keine Beweise. Es gibt keine Berichte. Das alles war nur eine aufwendig ausgedachte Geschichte, um seine wahren Aktivitäten zu verschleiern. Eine Täuschung, um seine anderen Täuschungen zu kaschieren.
Innerlich bin ich ein Scherbenhaufen. Äußerlich zeige ich keine Reaktion. Ich verberge meine wahren Gefühle, um alle Kraft und allen Willen in den folgenden Satz zu legen: »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
Wilks zieht die Mundwinkel nach unten. »Es ist mir egal, was Sie glauben. Ich will Sie nicht von der Wahrheit überzeugen. Ich will nur das Geld wiederhaben, das Leo mir gestohlen hat.«
»Geld?« Ich sehe Leo an.
Er will mir keine Antwort geben, darum erledigt Trevor das für ihn. »Ihr Mann hat das Kartell verarscht, Jem. Er hat ihnen Geld gestohlen. Vielleicht nur einmal, vielleicht auch tausend Mal. Er hat Beweise gegen sie gesammelt, und er hat sich deren Geld in die Tasche gesteckt.«
»So ungefähr«, sagt Wilks. »Bloß, dass es auch mein Geld ist. Und das von Messer, dem armen Schwein.«
Leo findet seine Stimme wieder. »Ich nehme an, du willst seinen Anteil für dich behalten.«
»Ich bin auch nicht schlechter als alle anderen hier im Raum«, sagt Wilks. »Ich hab mir ein bisschen Geld genommen, na und? Ich habe Drogendealer bestohlen, na und? Für die ist das ein Taschengeld, im Gegensatz zu mir. Das Leben ist nicht gerecht, und außerdem ist es teuer. Ich habe mir nur das genommen, was ich brauche, um sorgenfrei durchzukommen. Ich war nicht gierig, zumindest nicht am Anfang. Aber wenn man erst mal das erste bisschen genommen hat, dann ist es beim nächsten Mal schon nicht mehr ganz so schwierig, und man nimmt sich ein bisschen mehr und dann noch ein bisschen mehr. So lange, bis aus den vielen kleinen bisschen ganz schön viel geworden ist, bis man, ehe man sich’s versieht, zu weit gegangen ist. Wenn man bis zum Hals drinsteckt, kommt man nicht mehr so einfach raus. Aber wenn man das erst mal begriffen und dieses Dilemma akzeptiert hat, hat das in der Tat eine sehr befreiende Wirkung. Weil man nämlich alle Bedenken fallen lässt, die man vorher noch hatte. Weil man dann begreift, dass es keine Grenzen mehr gibt.« Sie hält für einen Moment inne. »War es so, Leo?«
Er schweigt.
»Du müsstest mir eigentlich dankbar sein«, fährt sie fort. »Ich hätte dich für den Rest deines Lebens hinter Gitter bringen können, aber ich habe dir eine Chance gegeben. Du arbeitest weiter für das Kartell, und ich helfe dir, dass deine Bewegungsfreiheit nicht auf einige wenige Quadratmeter beschränkt wird. Als Gegenleistung für einen bescheidenen Anteil, selbstverständlich.« Sie wendet sich an mich: »Leider war mir längere Zeit nicht klar, dass Ihr Mann sich davon auch einen Anteil gesichert hat.«
»Ich habe dich nicht bestohlen«, schaltet sich Leo ein.
»Das spielt keine Rolle. Du bist gierig geworden und hast dadurch alles kaputt gemacht. Das Kartell hat dir zwar gewisse Aufgaben anvertraut, aber du hast leider nicht beachtet, dass das noch lange nicht bedeutet, dass sie dir vertrauen. Es spielt keine Rolle, wie gut du bist. Diese Leute werden immer davon ausgehen, dass du sie beklaust, weil sie das an deiner Stelle genauso machen würden. Das bedeutet, dass sie dich früher oder später überprüfen, dass sie sich alles, was du für sie erledigt hast, genau ansehen und erkennen, dass du sie bestohlen hast.«
Ich sage: »Und jetzt wollen Sie nicht nur einen Teil davon stehlen, sondern alles?«
»Auch wenn ich das nicht Stehlen nennen würde, sondern eher als sinnvollere Nutzung stiller Reserven betrachte. In fünf Jahren kann ich in Frührente gehen. Und die Vorstellung, die Zeit danach auf einem großen Segelboot im Südpazifik zu verbringen, ohne Sorgen und unbeschwert, also, die finde ich ausgesprochen reizvoll.«
»Klingt gut«, sage ich tonlos.
»Oh, das wird es auch werden. Ich habe mir das Boot schon ausgesucht.« Wilks zuckt mit den Schultern. Es ist ihr egal, dass sie eine Diebin ist oder dass andere das wissen.
»Meinen Sie nicht, dass es auffällt, wenn Sie sich plötzlich ein Boot kaufen, das Sie sich mit Ihrer mickrigen Pension eigentlich gar nicht leisten könnten?«
»Machen Sie sich mal keine Gedanken um irgendwelche Einzelheiten, Jem. Ich bleibe so lange auf dem Geld sitzen, bis sich niemand mehr an mich erinnern kann. Das war auch Leos Plan, stimmt’s? Oder etwa nicht, Leo?«
Leo bleibt wieder stumm. Ich hoffe, dass er an einem anderen Plan arbeitet, dass er eine Strategie hat, wie wir uns aus diesem Albtraum befreien sollen. Was immer er getan hat, das alles kann warten, bis wir nicht mehr mit einer Pistole bedroht werden. Eheprobleme, Vertrauenskrise … angesichts einer solchen Bedrohung rücken diese Dinge erst mal in den Hintergrund.
Trevor sagt: »Wie kann man denn auf so einer winzigen Festplatte Geld speichern?«
Ich glaube, ich weiß es. »Kontonummern? Investitionen? Immobilien? Aktien? Tabellen?«
»So ungefähr«, sagt Wilks. »Nun mach schon, Leo. Du weißt, dass du keine andere Wahl hast. Zwing mich nicht, dem Menschen wehzutun, der dir am allermeisten bedeutet.«
»Wenn du ihr auch nur ein Härchen krümmst, kriegst du gar nichts. Ich bringe dich hin, aber nur zu zweit. Nur du und ich.«
Leos Stimme klingt so dramatisch, dass sich niemand dieser Wirkung entziehen kann.
Wilks zieht die Stirn kraus. »Ich glaube, du vergisst, wer von uns beiden die Pistole hat. Und ich glaube, du vergisst, wer von uns beiden einen geliebten Menschen hier im Raum hat.« Sie deutet mit der Waffe auf mich. »Wenn ich ihr eine Kugel in den Bauch jage, dann flehst du mich an, sie mitzunehmen.«
»Du kannst die Informationen haben«, sagt Leo. »Verkauf sie. Werd reich. Ist mir scheißegal. Aber falls ich jemals, und sei es nur für eine Sekunde, den Eindruck haben sollte, dass Jem etwas zugestoßen ist, dann lasse ich mich durch nichts und niemanden aufhalten. Dann sterbe ich lieber. Darum solltest du dir folgende Frage stellen: Wie dringend will ich dieses Geld haben? Weil du mich nämlich überzeugen musst, dass du es so unbedingt haben willst, dass du nicht wagen wirst, mich sauer zu machen.«
»Ist ja gut, ist ja gut«, erwidert Wilks. »Hier geht es doch um Prioritäten, Leo. Ich habe meine – und du hast deine. Und die lassen sich durchaus miteinander vereinbaren.«
Leo hat zwar keine Waffe in der Hand, aber in diesem Moment hat er die Kontrolle übernommen.
»Gut«, sagt er. »Genau das wollte ich hören.«
So selbstbewusst und energiegeladen er im Moment auch wirkt, ich habe keine Ahnung, wie er uns hier rausholen will. Die Informationen, hinter denen Wilks her ist, stecken in meiner Tasche. Leo weiß das. Trevor weiß das. Die Einzige, die das nicht weiß, ist Wilks. Ganz egal, welche Versprechungen Leo ihr macht, ohne diese Mikro-SD-Karte sind sie wertlos.
Ich verspüre den unbändigen Drang, sie aus meiner Tasche zu holen und Wilks zuzuwerfen. Das will sie doch. Wenn sie diese Karte nicht bekommt, wer weiß, was sie dann macht? Ich kann die ganze Situation hier und jetzt beenden.
Leo muss das spüren, weil er mir mit der Hand ein Zeichen gibt: eine kurze, knappe, horizontale Bewegung. Blitzschnell, sodass Wilks nichts davon mitbekommt.
Die Bedeutung ist eindeutig: Nein.
Ich will das alles so schnell wie nur möglich beenden. Ich will, dass es endlich vorbei ist.
Ich habe die Informationen in meiner Tasche. Hier bitte, nehmen Sie sie und gehen Sie. Ich brauche meine gesamte Willenskraft, um diesen Satz nicht auszusprechen. Wilks würde die SD-Karte nicht einfach nehmen und gehen, nicht wahr? Sie würde sie nehmen und uns alle umbringen. Sie kann schließlich nicht mit wertvollen Geheimnissen von hier verschwinden, solange wir das Ganze ausplaudern können. Es muss eine andere Möglichkeit geben.
Ich muss Leo vertrauen. Er weiß, was er tut.
Oder doch nicht?
Bislang deutet nicht viel darauf hin.
Er ist derjenige, der uns überhaupt erst in diese ganze Hölle gestürzt hat. Das ist alles seine Schuld.
Es war schon immer meine Rolle, die Dinge zu reparieren.
»Ich habe die Informationen, die Sie haben wollen, in meiner Hosentasche. Nehmen Sie sie und gehen Sie.«
Dieses Mal spreche ich es tatsächlich aus.
1.45 Uhr
»Was soll denn das?«, blafft Leo mich an.
Ich ignoriere ihn und starre Wilks direkt in die Augen.
Sie sagt: »Das will ich sehen. Holen Sie sie raus.«
Sie ist skeptisch, und das ist total verständlich. Wieso sollte ich die begehrten Informationen haben und nicht Leo? Genau die Frage stelle ich mir jetzt auch: Wieso habe ich die Informationen und nicht Leo? Aber jetzt werde ich darauf keine Antwort bekommen.
Ich mache Anstalten, die Hand in meine Tasche zu stecken.
»Ganz langsam«, sagt Wilks. »Schön langsam.« Sie wirft Trevor einen Blick zu. »Wir wollen ja keinen unachtsamen Schuss riskieren, nicht wahr?«
Trevor bleibt stumm.
Behutsam schiebe ich die Fingerspitzen in die Tasche meiner Jeans.
»Nicht«, sagt Leo.
Meine Finger greifen zu, und ich ziehe sie langsam wieder heraus.
»Sie wird uns umbringen«, sagt Leo.
»Hören Sie nicht auf ihn«, sagt Wilks. »Wir alle wollen doch, dass das hier endlich vorbei ist. Und das jetzt ist die einzige Möglichkeit.«
Nachdem ich die Hand wieder ganz herausgezogen habe, mache ich eine Faust. Wilks winkt mich zu sich. Sie ist nicht bereit, selbst näher zu kommen. Ich bleibe, wo ich bin.
»Nun machen Sie schon, Jem. Geben Sie mir die Informationen, dann können wir alle unser altes Leben weiterleben. Genau das wollen Sie doch, oder nicht? Ihr bisheriges Leben weiterleben und so tun, als wäre das hier niemals geschehen.«
»Das wird nicht funktionieren, oder?«, antworte ich ihr. »Nicht mit einem Toten in meinem Hausflur.«
»Sie haben Messer ja nicht umgebracht«, entgegnet Wilks. »Der Bericht der Kriminaltechnik wird Sie eindeutig entlasten. Sie haben nichts falsch gemacht.«
»Und warum habe ich dann das Gefühl, als hätte ich heute alles falsch gemacht, was ich nur hätte falsch machen können?«
Statt einer Antwort sagt Wilks nur: »Geben Sie her.«
»Nicht«, schaltet sich Leo erneut ein.
Ich beachte ihn nicht. Ich gehe auf Wilks zu, setze einen Fuß vor den anderen.
»So ist es gut«, ermutigt sie mich. »Nur noch ein paar Schritte.«
Ich hebe die Hand, ziehe den Arm zurück und schleudere die Hand nach vorne.
Ich werfe die Karte über Wilks hinweg. Weit hinter ihr ertönt mehrfach ein leises Klicken.
Wilks’ Miene wird hart: »Was haben Sie getan?«
1.47 Uhr
Ich zucke mit den Schultern und spiele die Unschuldige. »Ich habe Ihnen die Informationen überlassen. Aber wenn Sie sie wirklich haben wollen, dann müssen Sie sie suchen.«
Wilks reckt mir die Pistole entgegen, sodass die Mündung direkt auf mein Gesicht zeigt. »Ich sollte Sie erschießen.«
»Erschießen Sie mich«, sage ich, »aber dann müssen Sie die beiden anderen auch umbringen. Drei Schüsse, mindestens. Peng. Peng. Peng. Laut. Weithin hörbar. Und das nur unter der Voraussetzung, dass Sie wirklich schießen können. Nur unter der Voraussetzung, dass Sie uns beim ersten Mal auch wirklich ausschalten. Aber so oder so … Schüsse sind selbst in dieser Gegend hier kaum zu überhören. Sie haben sicherlich bemerkt, dass in vielen Firmen noch Betrieb ist. Und Sie wissen auch, dass viele über private Sicherheitsdienste verfügen.« Diesen Teil habe ich mir ausgedacht, aber ich hoffe einfach, dass sie nicht mit Gewissheit das Gegenteil behaupten kann. »Also, sind Sie wirklich bereit, so ein Risiko einzugehen? Denn sobald Sie geschossen haben, müssen Sie auf allen vieren hier herumkriechen und ein kleines Plastikteilchen suchen, das so groß ist wie ein Daumennagel. Das kann dauern.«
Wilks erwidert nichts.
»Ihr einziger Vorteil liegt darin, dass die Halle ziemlich leer ist, aber trotzdem … die Fläche ist ziemlich groß. Jede Menge Regale, unter denen Sie nachsehen müssen. Oh Gott, womöglich ist das Ding in den Abfluss dort gerutscht. Sie müssen sich also zwei Fragen stellen: Wie lange brauche ich, um es zu finden? Und wie lange braucht die Polizei, bis sie hier ist?«
Wilks schweigt und dampft vor Wut.
»Ach nein, das war falsch«, fahre ich fort. »Es sind sogar drei Fragen.«
Mehr sage ich nicht.
Wilks hat keine andere Wahl, sie muss fragen: »Wie lautet die dritte?«
»Gibt es ein Passwort?«
Wilks tritt auf mich zu. »Und? Gibt es eines?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.«
Sie ist so wütend, dass sie anfängt zu schwitzen. Entlang ihres Haaransatzes bilden sich kleine Schweißtropfen. Es ist eine hilflose Wut, da sie zwar immer noch die Pistole, aber nicht mehr die Zügel in der Hand hält.
Irgendwie bin ich jetzt die mächtigste Person im ganzen Raum geworden.
Wilks’ Kiefermuskulatur arbeitet so heftig, dass über kurz oder lang die ersten Zähne brechen werden. »Okay.«
Es klingt mehr wie ein Zischen als wie ein Wort. Ich bin mir sicher, dass sie noch nie im Leben jemanden so sehr gehasst hat wie mich in diesem Moment.
»Okay?«, wiederhole ich.
»Sie haben gewonnen.«
»Ich habe gewonnen? Ich glaube fast, das ist das allererste Mal, dass ich etwas gewinne.«
Sie nickt. »Ja, genau, Sie haben gewonnen, Jem. Weil Sie sich eine Galgenfrist erkämpft haben. Mehr aber auch nicht. Solange ich diese Daten nicht in den Händen halte, kommt niemand hier weg. Und falls ich sie gar nicht bekomme, dann bleibt ihr eben für immer hier. Dann jage ich euch allen eine Kugel in den Schädel und verschwinde, noch bevor irgendjemand anfängt, darüber nachzudenken, ob er vielleicht die Polizei verständigen soll. Also los, runter und suchen.«
Trevor sagt: »Wird es nicht manchmal zu anstrengend, immer nur das Arschloch zu spielen?«
Wilks fuchtelt mit der Pistole in Leos und Trevors Richtung. »Ihr beiden auch, los. Sucht nach meinen Daten.«
»Ich habe kaputte Knie«, sagt Trevor.
»Ohne Kopf sind Knie zu gar nichts nütze.«
Trevor erwidert achselzuckend: »Kommt drauf an, von welchem Kopf wir hier reden.«
Wilks reagiert wenig amüsiert. »Entweder du machst dich jetzt auf die Suche, oder du stirbst.«
Sie hat ihren Fehler noch nicht erkannt, und ich habe ganz bestimmt nicht vor, sie darauf aufmerksam zu machen. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass sie nur mich auf die Suche nach der verlorenen SD-Karte schicken würde, während sie Leo und Trevor mit der Pistole in Schach hält.
Stattdessen hat sie uns alle drei aus der Büroebene hinunter in die Halle gescheucht, um dort den Boden abzusuchen.
Das ist zweifellos Trevors Provokation zu verdanken. Hätte Wilks sich ein wenig Zeit gelassen mit ihrer Reaktion, hätte sie das Ganze ein wenig sorgfältiger durchdacht, dann wäre ihr vielleicht klar geworden, dass das nicht unbedingt das Sinnvollste war. Jetzt muss sie auf drei Personen gleichzeitig aufpassen, die an unterschiedlichen Stellen herumkriechen.
Das ist unmöglich.
Dank Trevor funktioniert meine Idee sogar noch besser, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Trevor hat sich auf ein Knie gestützt und sucht den Fußboden nach der Mikro-SD-Karte ab. Er strengt sich dabei nicht besonders an, aber das könnte er auch gar nicht, selbst wenn er es wollte. Leo liegt ganz in seiner Nähe auf dem Bauch und streckt die Hand unter eines der Metallregale.
Er flüstert mir zu: »Warum hast du das gemacht?«
»Wir hatten nicht mehr allzu viele Optionen«, erwidere ich leise.
Wilks hält sich etwas dichter bei Trevor, sodass sie uns nicht hören kann. Ruhelos und nervös geht sie auf und ab. Sie weiß, dass ihre Situation sich zusehends verschlechtert, je länger das Ganze sich hinzieht. Aber sie kann auch nicht viel daran ändern. Ich nehme an, ihr geht meine Bemerkung durch den Kopf, dass womöglich ein paar ungewöhnlich wachsame private Sicherheitskräfte aufmerksam werden, sobald in dem Industriegebiet ein Schuss zu hören ist.
Ich habe uns Zeit geschunden.
Aber je länger das Ganze sich hinzieht, desto größer wird auch die Gefahr, dass Wilks wieder zur Besinnung kommt.
Wir müssen etwas unternehmen, und zwar, bevor es so weit ist.
»Sie hätte uns alle umbringen können«, flüstert Leo weiter. »Das hättest du nicht machen dürfen.«
Ich versuche zurückzuflüstern, aber angesichts dieser Provokation fällt es mir nicht leicht, meine Stimme im Zaum zu halten. »Du hast doch dieses ganze Chaos überhaupt erst angerichtet! Also spar dir jede Kritik an meinem Verhalten!« Er schweigt. »Überlegen wir uns lieber, wie wir aus diesem Schlamassel wieder rauskommen, bevor Wilks merkt, dass ich geblufft habe.«
»Wie bitte? Wie meinst du das? Inwiefern geblufft?«
Ich mache eine Handbewegung. »Es gibt hier nichts zu finden.«
Leo weiß nicht, was er sagen soll.
Ich klopfe auf meine Hosentasche. »Die SD-Karte ist immer noch hier drin.«
»Was hast du dann weggeworfen?«
»Einen Knopf.«
Leos erste Reaktion besteht in Verblüffung. Er hat so etwas nicht einmal in Betracht gezogen. Vielleicht müsste ich angesichts seines mangelhaften Vertrauens in meine Fähigkeiten gekränkt sein, aber das bewahre ich mir für später auf. Falls es ein Später gibt. Auf die Verblüffung folgt Erleichterung, dann Verwirrung. »Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«
»Weil deine Reaktion absolut glaubhaft sein musste.«
Er lächelt leise, trotz der angespannten Situation. »Seit wann kannst du so was überhaupt?«
Ich schnaufe. »Der ganze Tag war ein einziger Intensivkurs. Vielen Dank auch.«
Sein Lächeln erlischt.
»Jetzt rutsch ein Stück zur Seite«, sage ich. »Je weiter wir auseinander sind, desto schwieriger ist es für Wilks, uns alle drei im Blick zu behalten. Und sobald sich für irgendjemanden eine Möglichkeit ergibt, muss er etwas unternehmen, ganz egal, was.«
Er nickt und will mir gerade etwas antworten, da merkt Wilks, dass wir miteinander geflüstert haben.
»He, lasst das Gequatsche.« Sie kommt näher. »Sucht weiter. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
Trevor sagt: »Dann sollten Sie vielleicht mitsuchen.«
»Klappe halten, Opa.«
Leo befolgt meinen Rat und kriecht weiter. Er vergrößert den Abstand zu mir und behält den zu Trevor bei. Ziemlich bald merke ich, dass Wilks große Mühe hat, uns alle im Blick zu behalten. Sie muss dazu ständig in Bewegung bleiben, muss ständig den Kopf drehen und wenden. Sie wird frustriert und aggressiv. Ich habe schon einmal erlebt, wie wütend sie werden kann, und registriere erste Anzeichen dafür. Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, dann treibt sie uns wieder zusammen.
»Ich hab’s gefunden«, rufe ich.
Sie kommt hastig zu mir. »Wo?«
»Unter dem Regal da«, erwidere ich und zeige mit dem Finger darauf. »Aber meine Arme sind zu kurz. Ich komme nicht dran.«
Im Idealfall würde sie sich jetzt selbst unter das Regal beugen, aber so dumm ist sie nicht. Allerdings schaut sie in die Richtung, in die mein Finger zeigt, und in diesem Moment der Ablenkung packe ich mit beiden Händen ihre Pistole.
Ich bin niemals stark genug, um ihr die Waffe aus der Hand zu ringen, aber das habe ich auch gar nicht vor. Ich will sie nur so lange beschäftigen, bis Leo bei uns ist.
Aber ich bin noch schwächer, als ich gedacht hätte, oder Wilks ist stärker, jedenfalls kann ich die Pistole nur wenige Augenblicke lang festhalten. Sie reißt mir das Ding aus den Händen und schubst mich mit solcher Kraft zurück, dass ich bei der Landung auf dem Fußboden laut aufschreie vor Schmerz.
Einen Sekundenbruchteil später ist Leo bei Wilks und rammt sie rückwärts in das Metallregal, das bei dem Aufprall gefährlich nach hinten kippt. Um ein Haar wäre es ganz umgefallen.
Wilks lässt die Pistole fallen, sodass sie über den Fußboden in meine Richtung schlittert. Bevor ich jedoch die Hand ausstrecken kann, ist sie schon unter ein anderes Regal gerutscht.
Leo ist durchtrainiert und fit, aber Wilks ist beweglich und sehr gut ausgebildet. Er will sie niederringen, doch sie schüttelt seine unbeholfenen Versuche allesamt ab und versetzt ihm einen Kopfstoß. Blut spritzt aus seiner Nase und klatscht neben mir auf den Boden. Leo ist benommen, aber versucht immer noch, sich zu wehren, bis ihn ein zweiter Kopfstoß endgültig außer Gefecht setzt.
»Nicht schlecht«, sagt Wilks, während sie sich Leos Blut von der Stirn wischt. »Aber nicht gut genug.«
1.53 Uhr
Es ist noch nicht vorbei. Trevor ist zwar langsam, aber furchtlos. Er umschlingt Wilks von hinten mit beiden Armen. Trevor ist keineswegs schmächtig. Er ist zwar alt, ja, aber alt wie ein Berg, verwittert und stark. Er hat Wilks fest im Griff. Sie versucht unter Ächzen und Stöhnen, sich dagegen zu wehren.
Ich rüttele an Leo. Er stöhnt nur, zeigt ansonsten aber keine Reaktion. Er ist mir vorerst keine Hilfe.
Die Pistole. Wo ist sie?
Ich drehe mich auf der Stelle um und starre in die Dunkelheit, überlege krampfhaft, versuche, mich zu erinnern. Das Geräusch, als sie über den Boden geschlittert ist. War das in meiner Nähe? Oder eher weiter weg?
Jetzt fällt es mir ein. Ich habe gesehen, wie das Ding unter einem Regal verschwunden ist, aber unter welchem? Hier gibt es so viele davon, und sie sehen alle gleich aus.
Wilks stemmt die Füße auf den Boden und drückt sich mit aller Kraft rückwärts. Dadurch zwingt sie Trevor, ebenfalls rückwärtszulaufen. Er hat Mühe, seinen Griff nicht zu lockern, die Balance zu halten. Sie prallen gegen ein Regal. Trevor muss den Aufprall ertragen und für Wilks abfedern. Trotzdem lässt er sie nicht los. Ich sehe ihm die Schmerzen deutlich an, genau wie seine Entschlossenheit, trotzdem weiterzukämpfen.
Seine Unbeugsamkeit verleiht mir neue Energie. Ich stürme auf das Regal los, unter dem die Pistole liegen müsste.
Ich werfe mich dagegen, drücke und stoße dabei ein lautes Gebrüll aus.
Es neigt sich.
Fällt.
Ein dröhnender Knall vibriert durch die Halle, so laut und unerwartet, dass Wilks und Trevor, wenn auch nur für einen Moment, ihren Ringkampf einstellen.
Ich suche den Boden neben dem Regal ab. Keine Pistole.
Ich gehe ein Stück zurück. Schreie. Stürme. Drücke.
Das nächste Regal neigt sich und fällt um, landet klappernd, rasselnd und scheppernd auf dem Boden.
Wilks und Trevor machen weiter.
Keuchend und schwitzend stehe ich da, mit schmerzenden Gliedmaßen und verzerrtem Gesicht nach den beiden harten Zusammenstößen mit den Metallregalen. Dann nehme ich Anlauf auf das nächste.
Ich stürme los.
Es neigt sich nicht so bereitwillig wie die beiden zuvor. Ich bin schwächer und langsamer geworden.
Ich schreie lauter, drücke fester.
Jetzt kippt es, ganz langsam zunächst.
Ich brülle.
Es fällt.
Ich bin von der Anstrengung so geschwächt, dass ich beinahe mit dem Regal zusammen umkippe.
Da, auf dem staubigen Fußboden, liegt, was gerade eben noch verborgen war: die Pistole.
Vor vierundzwanzig Stunden noch hätte der schiere Anblick dieser Waffe mich verängstigt. Ich hätte nichts damit zu tun haben wollen. Aber jetzt fürchte ich mich nicht davor. Sie ist nichts weiter als ein Werkzeug, ein Werkzeug, das ich brauche, um Trevor, meinem Mann und mir selbst das Leben zu retten.
Ohne zu zögern, hebe ich sie auf und drehe mich zu Wilks um.
Sie kauert auf dem Boden, hat sich von Trevor befreit. Er liegt auf dem Rücken und wehrt sich gegen Wilks’ Attacken, die ihn schlägt, ihn würgt … die gerade dabei ist, ihn umzubringen.
»Runter von ihm!«
, brülle ich.
Wilks muss mich gehört haben, aber sie achtet nicht auf mich. Ich bin ein Nichts. Ich bin keine Bedrohung. Ich bin niemand, vor dem sie sich fürchten muss.
Ich richte die Waffe an die Decke und drücke ab.
Peng.
Jetzt habe ich Wilks’ ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Runter von ihm«, wiederhole ich. »Sofort.«
Wilks gehorcht. Sie lässt Trevor los und steht mit erhobenen Händen auf.
»Ganz ruhig«, sagt sie. »Tun Sie nichts Unüberlegtes.«
Ich lache sie aus. »Ruhig? Sie sagen mir, ich soll ruhig bleiben, und haben nicht einmal den Anstand, sich wenigstens einen sarkastischen Tonfall zuzulegen? Soll ich Ihnen mal was verraten? Ich bin nicht ruhig.«
Wilks hebt die Hände höher.
»Ich bin so weit, wie es überhaupt nur irgend vorstellbar ist, von ruhig entfernt. Seitdem Sie vor meiner Haustür gestanden haben, war ich nicht eine einzige Sekunde mehr ruhig.«
»Wir finden eine Lösung«, sagt Wilks. »Wir teilen uns das Geld.«
»Auf keinen Fall. Wir rufen die Polizei, und Sie werden festgenommen und vor Gericht gestellt, wo Sie dann wegen mehrfachen versuchten Mordes verurteilt werden. Und wegen Hochverrats wahrscheinlich auch, schätze ich.«
Trevor stemmt sich ächzend auf die Beine. »Mindestens.«
Ich sehe ihn an. »Alles in Ordnung?«
Garantiert nicht. Er ist erschöpft und verletzt und alt.
»Hab mich nie besser gefühlt«, sagt er.
Ich lächele. »Bitte versprechen Sie mir, dass wir immer noch Freunde sind, wenn das alles vorbei ist.«
»Die Leute, die mit mir Zeit verbringen, finden mich irgendwann alle unerträglich.«
»Sagen Sie einfach nur ja«, entgegne ich. »Sie müssen es gar nicht ernst meinen. Sagen Sie einfach nur ja, mir zuliebe.«
Er nickt. »Ja.«
»Danke.« Ich wende mich wieder Wilks zu. »Ich wette, Sie bereuen es schon, dass Sie bei mir angeklopft haben, stimmt’s?«
Wilks schweigt. Sie wirkt eingeschüchtert, geschlagen.
»Trevor«, sage ich. »Wären Sie so freundlich, in Leos Büro zu gehen und Rusty anzurufen?«
Trevor zögert. »Es wäre mir ein Vergnügen, aber ich glaube nicht, dass ich im Moment in der Lage bin, die Treppe hochzusteigen.«
»Ach, ja, natürlich. Kommen Sie, nehmen Sie die Pistole und bewachen Sie die Spezialagentin Arschloch hier. Einverstanden?«
Trevor nickt. »Das kriege ich hin.«
»Und wenn sie Sie auch nur einmal schief anglotzt, dann schießen Sie.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Er schlurft zu mir herüber, noch langsamer als zuvor. Er hinkt und blutet – und er ist erschöpft.
»Ach, Trevor«, sage ich. »Es tut mir so leid, dass ich Ihnen das alles zugemutet habe.«
Er knurrt mir sein Missfallen über meine Mitleidsbekundungen entgegen und nimmt mir die Pistole aus der Hand. »Rufen Sie Rusty an.«
Zuerst sehe ich nach Leo.
»Alles okay«, sagt er mit schwacher Stimme. »Brauch bloß noch ein paar Minuten. Hilf mir auf.«
»Ich muss Rusty anrufen, ich muss …«
»Bitte«, sagt er und ergreift meine Hand, um sich daran hochzuziehen. »Hilf mir auf.«
Ich nicke. Es ist nicht einfach, weil er sehr schwach ist, aber wir schaffen es. Er stößt den Atem aus. Braucht einen Moment, bis er das Gleichgewicht gefunden hat.
»Alles klar?«, frage ich ihn.
Er nickt und lässt meine Hand los. »Siehst du? Schon viel besser.«
»Bin gleich wieder da«, sage ich und mache mich auf den Weg zur Treppe.
»Geht klar«, sagt er.
Während ich die Treppe hinaufhaste, stellt Leo sich neben Trevor.
Er streckt die Hand aus. »Ich möchte mal nachsehen, ob die auch wirklich geladen ist.«
»Ist geladen«, erwidert Trevor. »Ihre Frau hat gerade eben noch damit geschossen.«
»Bitte«, erwidert Leo. »Nicht, dass wir noch eine unangenehme Überraschung erleben.«
Am oberen Ende der Treppe angelangt verlangsame ich meine Schritte. »Die Pistole ist geladen, Leo. Mach dir keine Sorgen.«
Er nickt, sieht zu Wilks hinüber und schreit: »Achtung, sie will …«
Mein Blick huscht zu Wilks. Trevors Blick auch.
Wilks steht mit erhobenen Händen da, genau wie zuvor.
Das war ein Ablenkungsmanöver.
Leo windet Trevor die Pistole aus der Hand.
»Was machst du denn da?«, schreie ich ihn an.
»Was ich tun muss«, schreit Leo zurück.
Er drückt ein einziges Mal ab, und die Kugel trifft Wilks in den Kopf. Sie sackt augenblicklich in sich zusammen.
Dort, wo sie gestanden hat, hängt träge ein blutiger Nebel in der Luft. Die feinen Tröpfchen glitzern im Mondlicht.
1.59 Uhr
Eine postapokalyptische Atmosphäre umgibt das Industriegebiet, findet Rusty. Rein äußerlich wirkt es zwar wie ein Außenposten der Warenwirtschaft, der Zivilisation und des Fortschritts, aber gleichzeitig ist es eine Einöde, tot und leblos, so mitten in der Nacht. Es würde sie nicht im Mindesten überraschen, wenn gleich eine Herde Zombies aus dem Schatten hervorbrechen und ihren Streifenwagen umschwärmen würde. Aber man darf sie nicht Zombies nennen, stimmt’s? Das ist so eine Regel, auch wenn sie nicht versteht, wieso. Ein Zombie ist ein Zombie, oder nicht?
Normalerweise liegt Rusty um diese Zeit schon längst im Bett, und jetzt muss sie gähnen. Trotzdem ist sie irgendwie aufgekratzt. Es fühlt sich an, als wäre sie wach und gleichzeitig im Tiefschlaf. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie die Blinklichter eingeschaltet und das Gaspedal mit aller Kraft auf das Bodenblech gerammt hat. Eine rauschhafte Dringlichkeit, die sie sich gar nicht richtig erklären kann, hat von ihr Besitz ergriffen. Was hat sie denn eigentlich vor? Will sie ganz alleine Jagd auf eine flüchtige Person machen? Wahnsinn. Sie kann sich ja nicht mal erinnern, wann sie zum letzten Mal jemandem Handschellen angelegt hat. Außerdem gibt es keine Garantie, dass Jem Talhoffer tatsächlich mit einem alten Mann im Schlepptau zur Lagerhalle ihres Mannes gefahren ist. Die Chancen stehen, ehrlich gesagt, ähnlich schlecht wie auf einen Sechser im Lotto, und Rusty hat noch nie etwas gewonnen, nicht einmal einen Luftballon auf dem Jahrmarkt. Jem hat Angst, daher wäre es viel naheliegender, wenn sie in die große Stadt geflüchtet wäre, um sich zwischen den Millionen anderer verlorener Seelen zu verlieren. Dort wäre sie so gut wie unsichtbar.
Das würde Rusty jedenfalls machen, wenn sie je gezwungen wäre zu flüchten.
Sie kann sich zwar nicht vorstellen, dass es jemals so weit kommen könnte, aber ihre Flucht hat sie sich in ihrer Fantasie schon öfter ausgemalt. Einfach losfahren. Ihr ganzes Leben zurücklassen, ohne Ziel, ohne Plan, vor sich nur einen endlosen Horizont an Möglichkeiten und hinter sich die Vergangenheit.
Rusty ist sich ziemlich sicher, dass kein Mensch merken würde, dass sie weg ist.
Und selbst wenn, niemand würde sie vermissen, das steht fest.
Daran ist die Fahrerei bei Nacht schuld, sagt sie sich, und dazu noch die letzten Reste ihrer Marihuana-Paranoia. Für gewöhnlich schläft sie schon lange, bevor sie dieses Stadium erreicht. Aber jetzt könnte sie niemals schlafen. Sie ist viel zu hibbelig. Das ist dieser Rausch, von dem sie schon gelesen und gehört hat. Das ist das Gefühl, für das manche ihrer Kollegen leben. Die Euphorie der Jagd auf gefährliche Verbrecher, bis man sie dann dingfest gemacht und ihrer gerechten Strafe zugeführt hat. Das ist genau der Reiz, um den es vielen ihrer Kollegen geht.
Rusty findet das Ganze allerdings ziemlich beunruhigend. Sie ist das nicht gewohnt.
Sollte das Leben in einer Kleinstadt nicht eigentlich ruhig und beschaulich sein?
Sie hat Heidi erzählt, dass sie sich überfordert fühlt, und auch wenn sie das teilweise nur gesagt hat, um in der smaragdäugigen Jungfrau ein wenig Mitgefühl zu wecken, steckt trotzdem eine große Portion Wahrheit darin. Normalerweise hat Rusty nicht viel mehr zu tun, als ihre Wache in Schwung zu halten, und das bedeutet, sie muss Sabrowski und Zeke jede Menge Kopfnüsse verpassen, damit die tun, wofür sie bezahlt werden, nämlich Strafzettel für zu schnelles Fahren ausstellen und häusliche Zwistigkeiten schlichten.
Sollte Rusty jemals andere Ambitionen gehegt haben, haben die mit der Geburt ihrer Tochter einen ersten schweren Dämpfer erhalten. Endgültig zum Stillstand sind sie wohl gekommen, nachdem ihr Ex-Mann, dieser Versager, sie verlassen hatte, und dann war ihre Mom alt geworden und bei ihr eingezogen. Das muss wohl der finale Todesstoß gewesen sein.
Rusty ist nicht verbittert deswegen. So ist eben das Leben, und jeder muss mit dem Blatt spielen, das er bekommen hat. Im Großen und Ganzen ist sie durchaus zufrieden als Polizeidienststellenleiterin in einer Kleinstadt, in der nie irgendetwas passiert.
Nur dass in dieser Kleinstadt jetzt ein Mord geschehen ist.
Also ab sofort keine rauchgeschwängerten Nächte auf der Veranda mehr.
Sie lässt den Wagen langsam weiterrollen und hat die Fenster geöffnet, damit sie in die Nacht hinauslauschen kann. Sie weiß nicht genau, was sie da zu hören bekommen wird, aber es ist besser, wenigstens ein bisschen was mitzubekommen als gar nichts. Sie kommt an vielen großen Gebäuden vorbei, alle ziemlich flach, aber dafür sehr breit. Gäbe es überhaupt ein anderes Geräusch, wenn das leise Schnurren ihres Streifenwagens nicht zu hören wäre?
Vor Leos Halle angekommen fährt sie nur noch Schritttempo. Es ist ein hässliches, kantiges Gebäude und so nichtssagend, dass sie beinahe daran vorbeigefahren wäre, ohne es überhaupt zu bemerken.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Gebäuden in diesem Industriegebiet passt es jedoch nicht so recht in das postapokalyptische Gesamtbild. Und zwar, weil im Inneren Licht brennt.
Außerdem ist Rusty sich fast sicher, dass sie hinter einem der Fenster eine Gestalt gesehen hat.
Keine Zombies. Nur Lebende.
Ihr Herz schlägt schnell und laut.
Das
also ist der Rausch.
Rustys Atem geht stoßweise, während sie den Streifenwagen vor der Lagerhalle ausrollen lässt.
Soll sie Verstärkung anfordern? Nein, sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie wirklich jemanden gesehen hat. Und sie will sich auf keinen Fall zum Narren machen.
Siehst du wieder mal Gespenster, Chef?
Halt die Klappe, Sabrowski.
Rusty bringt den Streifenwagen zum Stehen, sieht sich im Rückspiegel tief in die Augen, um sich Mut zu machen, um sich zu beruhigen. Das funktioniert zwar nicht, aber sie steigt trotzdem aus.
Dann geht sie auf das Gebäude zu. Allein.
2.00 Uhr
Ich schnappe nach Luft, bin zu Tode entsetzt. Meine Hände umklammern das Geländer. Meine Fingerknöchel sind kreidebleich.
»Was hast du getan?«
»Tut mir leid, Jem«, sagt Leo. »Ich wollte nicht, dass du das siehst.«
Meine Augen sind feucht, meine Beine schwach. »Was hast du …?«
»Komm wieder runter, Baby«, sagt Leo. »Wir müssen gehen.«
Ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Wenn ich das Geländer loslasse, falle ich die Treppe hinunter. »Warum?«, ist alles, was ich sagen kann. »Warum?«
»Sie ist eine Killerin, Jem. Sie hätte uns alle zusammen erschossen, ohne dass ihr Herz auch nur einen Schlag schneller geschlagen hätte. Komm runter, komm zu mir.«
Er streckt mir eine Hand entgegen, aber ich bekomme keine Luft.
Trevor sagt: »Sie hätten sie nicht gleich erschießen müssen. Sie war nicht bewaffnet.«
»Sie verstehen die Zusammenhänge nicht, Trevor. Ich habe genau das Richtige getan, glauben Sie mir.«
»Dann sind Sie jetzt bereit, mir die Waffe wiederzugeben?«
»Ausgeschlossen«, entgegnet Leo. »Die behalte ich.«
Trevor schnaubt. »Hab mir schon so was gedacht.«
»Du hast sie umgebracht«, höre ich mich sagen. »Und du hast dabei nicht einmal gezuckt.«
Leo kommt auf mich zu und fängt an, die Treppe emporzusteigen. »Ich beschütze dich. Mir ist klar, dass du gerade sehr viel zu verkraften hast, aber es geht nur so. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Wir müssen genauso stark sein wie unsere Feinde.«
Ich weiche vor ihm zurück. »Ich … ich muss Rusty anrufen.«
»Ich fürchte, das ist keine gute Idee.«
»Wieso denn nicht?«
»Denk doch mal nach, Jem. Da unten liegt eine Leiche.«
»Noch vor einer Sekunde hast du behauptet, dass das das Richtige war.«
»Das war es auch. Ist es auch. Aber unter Umständen sind die Vertreter des Gesetzes in diesem Punkt anderer Meinung.«
»Was soll das denn heißen?«
»Das heißt, dass wir jetzt losmüssen. Das heißt, dass wir nicht die Polizei anrufen. Dass wir niemanden anrufen. Wir verschwinden einfach.«
»Und wohin?«
»Weg. Wir verkriechen uns. Warten, dass die Aufregung sich wieder legt, während ich mir Gedanken über unseren nächsten Zug mache.«
»Was denn für Gedanken? Welchen nächsten Zug?« Meine Stimme klingt aufgeregt, verzweifelt. »Wir müssen zur Polizei gehen. Wir müssen diesem Schrecken ein Ende machen.«
»Jem, komm zur Besinnung. Wir würden alle ins Gefängnis wandern, sogar der alte Mann. Ihr seid Komplizen bei allem, was ich getan habe. Wir stehen ganz alleine da.«
Ich schüttele den Kopf. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben. Ich will, dass das vorbei ist.
Leo zeigt auf Wilks. »Das da auf dem Boden, das ist eine bösartige Frau. Eine Diebin. Eine Mörderin. Eine Frau, die uns alle umgebracht hätte, nur um sich dieses Geld wiederzuholen. Aber schon morgen werden sie sie zur Heldin erklären, die bei dem heroischen Versuch, gestohlene Informationen wiederzubeschaffen, ums Leben gekommen ist. Und du wirst für ihren Tod bezahlen. Wir alle werden dafür bezahlen.«
»Nein …«
»So funktioniert der Staat nun mal. So funktionieren Geheimdienste. Da gibt es keine Schurken mehr, nur noch tote Helden.«
Trevor sagt: »Der Regierung kann man nicht über den Weg trauen, zumindest darin sind wir uns einig.«
»Rusty«, werfe ich ein. »Rusty ist anders. Sie gehört nicht zur Regierung. Sie ist Polizeichefin in einer Kleinstadt. Sie wird das Richtige tun. Sie wird uns beschützen.«
»Kann sein«, erwidert Leo. »Vielleicht erweist sich das irgendwann als der richtige Schritt. Aber im Moment noch nicht. Nicht so unmittelbar nach einem tödlichen Schusswechsel. Wir müssen uns erst mal sammeln. Nachdenken. Wir haben nur eine Chance, um die richtige Entscheidung zu treffen. Falls wir einen Fehler machen, können wir den nie wieder korrigieren.«
Ich schweige.
»Komm mit mir«, beharrt er. »Wir brauchen dringend ein bisschen Ruhe. Und heute Abend können wir nichts mehr tun.«
»Versprichst du’s mir?«, frage ich ihn. »Versprichst du mir, dass wir morgen früh zu Rusty gehen, wenn ich das immer noch will?«
Er nickt. »Wenn wir uns einig sind, dass das das Beste ist, dann, ja, dann komme ich mit.«
Ich blicke ihm forschend in die Augen und sehe Aufrichtigkeit. Ich hoffe, es liegt nicht einfach nur daran, dass ich diese Aufrichtigkeit sehen will. Ich kann es nicht mit Sicherheit wissen. Ich muss ihm glauben.
Ich muss ihm ein letztes Mal vertrauen.
2.03 Uhr
Rusty hat zwar den Boden unter den Füßen verloren, aber sie schwimmt trotzdem weiter.
Ein kraftvoller Strudel will sie in die ausweglosen schwarzen Tiefen des Zweifels und des Selbsthasses hinabziehen. Doch dann fällt ihr ein, dass sie eine Schwimmweste dabeihat, und sie löst den Verschluss ihres Pistolenhalfters. Jetzt empfindet sie ein neues Unwohlsein, weil sie nicht einmal mehr weiß, wann sie das im Dienst das letzte Mal gemacht hat. Sie kann mit ihrer Pistole umgehen – sie schießt und reinigt sie regelmäßig –, aber das ist nicht dasselbe. Es ist nicht einfach, das Blut in Wallung zu bringen, wenn man nur auf Pappziele schießt.
Die Nacht fühlt sich noch kälter an als zuvor. Ihre schweißnasse Haut saugt die Kälte aus der Luft und leitet sie in ihre Knochen. Jeder Atemstoß schickt eine dichte Wolke aus weißem Wasserdampf in die Dunkelheit.
Warum klingen ihre Schritte so laut? Sosehr sie es auch versucht, sie kann dieses donnernde Dröhnen nicht dämpfen. Ähnlich laut klingt nur das pulsierende Blut in ihren Ohren.
Auf der schmalen Parkfläche vor Leos Halle stehen keine Autos. Bedeutet das, dass sie sich tatsächlich getäuscht hat? Dass da hinter dem Fenster gar keine Gestalt war? Nein, sie hat gesehen, was sie gesehen hat. Ihre Bandscheiben sind nicht mehr die besten, die Knie auch nicht, und bei der kleinsten Anstrengung fängt sie an zu keuchen, aber ihre Augen funktionieren immer noch gut und zuverlässig.
Trau dir wenigstens einmal im Leben selbst, sagt sie sich.
Sie denkt an Heidis Worte und wiederholt sie im Geist, um Selbstbewusstsein zu tanken.
Du kannst beißen.
Nach einem kurzen Ruck weiß sie, dass die Vordertür sich nicht öffnen lässt, und da auch sonst kein Eingang zu erkennen ist, wirft Rusty einen Blick um die Ecke in eine schmale Gasse, die an der Seitenwand des Gebäudes verläuft.
Gestalten.
Gestalten in der Dunkelheit. Nicht klar erkennbar. Nicht ausgeformt. Eher ein Durcheinander aus Gliedmaßen und Köpfen, verbunden über einen wabernden Rumpf. Ihr erster Gedanke lautet: Paranoia. Sie sieht irgendwelche Dinge, ein Ungeheuer. Ein Albtraum, der Wirklichkeit geworden ist, der Gestalt angenommen hat. Aber nein, hier spielt ihr nicht die Fantasie einen bösen Streich.
Schatten an der Wand. Mehrere Menschen. Zwei oder drei? Sie weiß es nicht genau.
Jem, der alte Mann und dann vielleicht noch jemand.
Rustys Puls geht schneller. Könnte dieser andere vielleicht Leo sein?
Sie hastet über den Asphalt und hat die Pistole aus dem Halfter gezogen, noch bevor sie sich darüber bewusst ist. Trotz ihrer mangelhaften Fitness kommt sie schnell näher. Die Dringlichkeit verleiht ihr neue Energie. Wenn sie sich zu viel Zeit lässt, dann sind sie wieder weg. Sie weiß, dass sie Lärm macht, sie weiß, dass ihre Schritte schwer und laut sind, und sie weiß auch, dass sie nichts daran ändern kann.
Die Schatten weichen zurück, weil diejenigen, die die Schatten verursachen, sich von ihr entfernen. Sie sieht ihre dunklen, undefinierbaren Silhouetten am hinteren Ende der Gasse.
»He«, ruft sie. »Stehen bleiben.«
Eigentlich wollte sie noch mehr sagen, aber sie ist außer Atem, und ihr Herz pocht wie verrückt.
Es folgt ein Augenblick der Stille, des Innehaltens, und obwohl sie die Gesichter nicht sehen kann, weiß sie, dass die Gestalten angehalten haben und jetzt in ihre Richtung blicken. Für sie muss Rustys Silhouette ebenso deutlich zu erkennen sein wie umgekehrt.
»Polizei!« ruft sie, nur für den Fall, dass sie das nicht ohnehin schon wissen. »Stehen bleiben!«
Zu ihrer großen Überraschung bleiben sie tatsächlich stehen. Sie hatte sich schon darauf eingestellt, ihnen hinterherzurennen, auch wenn das natürlich vollkommen sinnlos gewesen wäre. Sie hört nichts. Sie sprechen nicht mit ihr, aber vielleicht flüstern sie ja miteinander. Rusty schnauft so hastig und tief, dass sie die Gestalten auf diese Entfernung wahrscheinlich nicht einmal dann verstehen könnte, wenn sie brüllen würden. Sie wischt sich den Schweiß aus den Augen und macht einen Schritt nach vorne. Die Pistole liegt schwer in ihrer feuchten, glitschigen Hand.
Da spürt sie etwas in der Luft. Ein Kribbeln läuft ihre Wirbelsäule entlang.
Ist das immer noch dieser Rausch, von dem sie gehört, über den sie gelesen hat?
Oder etwas anderes?
Letzteres, wie sie feststellt, als ein Licht aufblitzt, greller als die Sterne, als der Mond, als der Tag, und dann spürt sie einen seltsam dumpfen Aufprall in der Mitte ihres Brustkorbs.
Sie taumelt, macht einen kleinen Schritt zurück, während ihre Knie unter einem unsichtbaren Druck nachgeben. Sie bekommt gar nicht mit, dass sie ihre Pistole fallen lässt, erst als sie den Aufprall auf dem Asphalt, das Kratzen des Metalls auf dem harten Untergrund hört. So dicht in ihrer Nähe, dass sie nichts weiter tun muss, als sich zu bücken und sie aufzuheben, aber sie weiß auch, dass solche extravaganten Bewegungen nicht mehr im Bereich ihrer Möglichkeiten liegen.
»Ihr habt auf mich geschossen«, sagt sie zu niemandem. »Ihr habt auf mich geschossen.«
Sie will nach ihrem Funkgerät greifen, um Hilfe zu rufen, um Verstärkung anzufordern, was sie ja schon längst hätte tun sollen, doch ihre Hand wird von etwas Schwerem festgehalten. Unsichtbare Kräfte sorgen dafür, dass ihr Arm unbeweglich an ihrer Seite festklemmt.
Rusty wird von einem Schraubstock festgehalten. Sie sitzt in der Falle und kann sich nicht mehr rühren.
Sie weiß nicht, ob die Nacht an der Dunkelheit schuld ist oder ob ihre Augenlider einen Schleier über die Welt legen. Sie spürt, dass sie keine Gewalt mehr über ihren Körper hat, falls sie überhaupt noch darin wohnt.
Rusty merkt, dass sie fällt … und fällt …
2.07 Uhr
»Nein!«
, schreie ich, als ich Rusty zu Boden stürzen sehe. Ich brülle laut vor Entsetzen und Wut, greife nach Leo, nach der Waffe, bevor er noch einmal schießen kann. Er hat den rechten Arm geradeaus gestreckt. Rauch quillt aus der heißen Pistolenmündung.
Ich greife ihn an, schlage auf ihn ein, allerdings nur in Gedanken. In Wirklichkeit kann ich keinen Finger rühren. Ich habe mich nicht von der Stelle bewegt. Ich kann kaum atmen.
»Wie konntest du nur?«, presse ich mühsam hervor.
»Ich wollte sie nicht treffen«, erwidert Leo mit ruhiger Stimme, während er mir den Kopf zudreht. »Ich wollte bloß, dass sie stehen bleibt. Das sollte ein Warnschuss sein. Es ist dunkel. Ich …«
Verwirrt und erschrocken, mit weit aufgerissenen, im Licht der Straßenlaternen glänzenden Augen, blickt er mich an. Er sieht vollkommen entsetzt aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, und ich weiß nicht, was ich machen oder wie ich reagieren soll.
»Sie bewegt sich«, sagt Trevor. »Wir müssen ihr helfen.«
Sein altes Gesicht ist zerklüftet und voller Falten. Er ist genauso entsetzt und erschüttert wie ich und Leo, und er befindet sich in einer Art Schockstarre. Doch dann schluckt er einmal und macht einen Schritt nach vorne. Oder besser: Er versucht es, aber er ist alt und langsam, und Leo versperrt ihm den Weg.
»Kommt nicht infrage«, sagt Leo, während er sich zwischen Trevor und Rusty aufbaut und sich so auch vor mich stellt. »Wir müssen verschwinden. Sofort. Wir dürfen uns hier nicht länger aufhalten. Der Schuss …«
»Gehen Sie mir aus dem Weg«, fährt Trevor ihn halb flüsternd, halb grollend an.
Leo gibt nicht nach. »Kann ich nicht machen.«
»Verschwinden Sie ruhig, wenn Sie wollen«, sagt Trevor. »Ich kümmere mich um Rusty. Und keine Sorge, ich werde aussagen, dass Sie eigentlich danebenschießen wollten.«
Leo bleibt stumm.
Trevor sagt: »Aus dem Weg.«
Leo schüttelt den Kopf. »Kann ich nicht machen.«
Ich sehe, wie er die Hand noch fester um die Pistole schließt, und stelle mich zwischen die beiden, bevor das Ganze noch hässlicher werden kann. Ich lege ihnen je eine Hand auf den Arm. Sie sind bis zum Äußersten angespannt. Im Moment kann ich überhaupt nicht einschätzen, wozu sie imstande sind, und ich will es auch nicht erfahren.
»Bitte«, sage ich. »Lass mich einen Krankenwagen rufen. Dann können wir gehen.«
Leo schüttelt den Kopf. »Sie hat bestimmt Verstärkung angefordert, bevor sie uns gestellt hat. Die sind garantiert schon unterwegs. Jede Sekunde, die wir hier mit Quatschen vergeuden, kommen sie näher.«
Trevor sagt: »Das können Sie doch gar nicht wissen.«
»Doch, ich weiß nämlich, wie so was abläuft.«
»Wie kannst du nur so abgebrüht sein?«, sage ich zu Leo.
»Weil du für mich das Wichtigste bist«, sagt er zu mir. »Und nicht irgendeine Polizeibeamtin.«
»Sie ist nicht ›irgendeine Polizeibeamtin‹«, fauche ich ihn an. »Sie heißt Rusty, und du hast auf sie geschossen.«
»Sie hätte uns umgebracht«, gibt er zurück. »Oder uns für den Rest unseres Lebens ins Gefängnis gesteckt, was noch schlimmer wäre.«
Jetzt bin ich diejenige, die sagt: »Das kannst du doch gar nicht wissen.«
Seine Augen sind weit aufgerissen, sein Blick ist wütend. »Ich lasse mich nicht einsperren, Jem, und ich werde auch nicht zulassen, dass irgendjemand dich einsperrt. Ich bin dein Mann, ich liebe dich, und ich werde alles – ALLES – tun, um dich zu beschützen. Und wenn ich deshalb auf irgendwelche Politessen schießen muss, dann werde ich genau das tun.«
»Ich will nicht, dass du mich beschützt! Ich will nur noch nach Hause.«
»Wir gehen nie wieder nach Hause, wann bekommst du das endlich in deinen Schädel? Du nicht. Ich nicht. Wir beide nicht.«
Er packt mich am Arm und zerrt mich weg. Ich bin zu schwach, zu überwältigt, um mich dagegen zu wehren.
Trevor rührt sich nicht von der Stelle.
»Du auch, alter Mann«, sagt Leo.
Trevor bleibt stehen.
Leo hebt die Waffe und will noch etwas sagen, einen Befehl oder eine Aufforderung vielleicht, doch dann stößt Trevor einen Seufzer aus, schüttelt den Kopf und tut, was von ihm verlangt wird. Hat er eine andere Wahl? Habe ich eine andere Wahl?
Ich blicke zu Rusty hinüber, die allein in der Dunkelheit auf dem kalten Boden liegt. Ist sie am Leben? Bewegt sie sich? Ich kann es nicht erkennen.
Leo scheucht uns zu seinem Wagen, den er in einer Straße hinter der Lagerhalle abgestellt hat. Ich registriere, dass er hinter uns bleibt, dass er uns sagt, welche Richtung wir einschlagen sollen, anstatt einfach vorauszugehen.
Ist mein Mann gerade dabei, mich zu entführen?
»Einsteigen.«
Das Auto habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich weiß nicht, wie lange er es schon hat, ob es ihm überhaupt gehört, ob er es gemietet oder gestohlen hat, und ich frage auch nicht danach. Würde er mir eine ehrliche Antwort geben? Würde ich ihm glauben, selbst wenn er mir die Wahrheit sagen würde? Ich schüttele den Kopf und mache die Beifahrertür auf, nachdem Leo den Sender betätigt und den Wagen mit einem lauten Tschak
entriegelt hat. Trevor öffnet eine der hinteren Türen, doch Leo schüttelt den Kopf.
»Du fährst«, sagt er zu Trevor.
Trevor runzelt die Stirn. »Ich?«
Leo hält ihm die Fahrertür auf. »Setz dich ans Steuer und mach genau das, was ich dir sage.«
Trevor gehorcht, und Leo gleitet auf die Sitzbank hinter ihm.
»Wo fahren wir hin?«, will Trevor wissen.
»Nach Norden«, lautet Leos Antwort.
Ich spüre Hoffnung aufkeimen. »Nach Hause?«
Er stößt ein kurzes, bitteres Lachen aus, und ich lasse die Schultern sinken. »Mach dich nicht lächerlich. Nein, wir fahren nicht nach Hause, Jem. Was habe ich dir gesagt? Wir gehen nie wieder nach Hause zurück. NIE. WIEDER.«
»Wohin fahren wir dann?« Meine Stimme ist schwach.
»An die Küste. Ich kenne da ein Örtchen, wo wir uns verstecken können.«
»Was für ein Örtchen?«
»Ein Haus.«
»Wem gehört das Haus?«
Ich drehe mich um und sehe ihn direkt an, aber Leo erwidert meinen Blick nicht. Stattdessen starrt er in das nächtliche Dunkel jenseits der Windschutzscheibe. Sehe ich tatsächlich Bedauern in seinem Blick, oder ist dieses Bedauern nur da, weil ich es sehen will?
Es tut mir so leid, Rusty. Es tut mir so leid.
3.11 Uhr
Das Haus liegt auf einem Grundstück mit Blick aufs Meer. Der Atlantik ist genauso schwarz wie die Nacht über ihm. Der Mond lässt die Kämme der heranrollenden Wellen silbern leuchten. Weißer Strand erstreckt sich vom Haus in gerader Linie Richtung Süden, bis die Nacht ihn verschluckt. Keine Menschenseele weit und breit, darum habe ich vollkommene Ruhe und Stille erwartet, aber das Meer ist laut und steht niemals still. Laut und dröhnend schickt es seine Brecher auf den Sand, und ich kann seine Feindseligkeit spüren. Das Meer will nicht, dass wir hier sind. Das Meer mag uns nicht.
Ich gehe voran, auch wenn ich nicht die Richtung bestimme. Leo ist hinter uns und lenkt mich und Trevor durch die Dünen. Es ist dunkel, und der sandige Untergrund ist uneben und trügerisch. Ich komme mehr als einmal ins Straucheln, bin aber immerhin so beweglich, dass ich nicht hinfalle oder mir gar den Knöchel verstauche. Trevor hat es deutlich schwerer, und ich muss ihn mehrfach festhalten und stabilisieren. Jedes Mal regt er sich darüber auf und lehnt meine Hilfe ab.
Doch dann fällt er doch hin. Er stützt sich auf seine Hände und Knie und kann sich nicht mehr bewegen. Er ist verletzt, aber sein Ego bereitet ihm mehr Schmerzen als alles andere, und er kann mich nicht einmal ansehen, während ich ihm wieder auf die Füße helfe. Leo hilft ihm nicht. Er hält die ganze Zeit Abstand, als hätte er Angst, dass wir ihn angreifen. Trevor würde das vielleicht sogar tun, wenn er das könnte.
Er hinkt und stützt sich mit einer Hand auf meiner Schulter ab. Ich lege ihm im Gegenzug den Arm um die Hüfte, und er nickt dankbar. Er schämt sich zu sehr, um etwas zu sagen, und ich erwidere sein Nicken zum Zeichen, dass ich seinen Dank annehme, auch wenn das überflüssig ist. Ich wäre bereit, alles für diesen liebenswerten alten Mann zu tun, der schon so viel für mich getan hat.
Bitte, tu ihm nichts zuleide, flehe ich stumm in Leos Richtung.
Meine Augen sind feucht, und daran ist nicht die kalte Seeluft schuld. Ich wische sie mit dem Ärmel ab. Trevor sieht es, sagt aber nichts, und ich bin froh darüber.
»Wir sind gleich da«, sagt Leo hinter uns.
Eine überflüssige Bemerkung, da das Haus deutlich sichtbar vor uns liegt. Gleich da, und doch so weit vom Ziel entfernt. Wird die ganze verworrene Situation sich jetzt auflösen? Lässt sich überhaupt noch irgendetwas reparieren?
Ich wüsste nicht, wie. Ich sehe keine Lösung, die das alles wieder in Ordnung bringen könnte.
Mein Mann ist einige Schritte hinter mir, und ich kann nicht darauf hoffen, seine Absichten zu verstehen, weil ich ihn überhaupt nicht mehr wiedererkenne. Ich weiß, wer er war, aber nicht, wer er jetzt ist.
Habe ich ihn überhaupt jemals gekannt?
Mir wird klar, dass Trevor mich genauso sehr stützt wie ich ihn. Wir haben unterschiedliche Schmerzen, aber wir leiden beide gleichermaßen daran.
»Was gibt’s denn da zu quatschen?«, will Leo wissen.
Weder Trevor noch ich haben etwas gesagt. Leo ist paranoid.
»Gar nichts«, sage ich.
»Ihr flüstert doch miteinander.«
Ich drehe mich nicht zu ihm um. »Warum, Leo? Warum sollten wir flüstern?«
Er gibt keine Antwort.
»Und warum sollte es dich kümmern, wenn wir miteinander flüstern?«
Wieder bekomme ich keine Antwort, sondern nur das Dröhnen der Brecher zu hören.
Wir sind hier nicht willkommen.
Das Haus ist klein und alt, aber keine Bruchbude. Der Wind und das Salz haben gnadenlos an ihm gerüttelt und genagt, und es hat viele kleine Narben davongetragen – Zeugen seiner Widerstandsfähigkeit. Die Farbe ist abgeplatzt und verblasst. Das Holz ist verzogen. Die Eingangstreppe knarrt und quietscht unter unseren Füßen.
»Hier«, sagt Leo und drückt mir einen Schlüsselbund in die Hand.
Ich starre ihm in die Augen, die einmal himmelblau waren, aber jetzt kalt wie Gletschereis wirken, ohne jede Spur von Wärme.
»Was ist aus dir geworden?«, frage ich ihn.
»Ich versuche, dafür zu sorgen, dass wir am Leben bleiben, Jem. Vergiss das nicht.«
»Und trotzdem kommt es mir so vor, als wären wir schon tot.«
»Sei doch nicht so melodramatisch«, entgegnet er unwirsch. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine deiner Launen.«
Erneut werden meine Augen feucht. Seine spöttischen Worte rauben mir die Beherrschung. »Eine meiner Launen?«
»Es tut mir leid. So war es nicht gemeint. Ich weiß, dass das sehr stressig ist. Ich … bitte, lass uns einfach erst mal reingehen. Ich bringe das wieder in Ordnung, versprochen.«
»Wie, Leo? Wie, um alles in der Welt, kannst du das wieder in Ordnung bringen?«
Er ist sauer, dass ich meinen unerschütterlichen Glauben an ihn und seine Fähigkeiten verloren habe.
»Was machen wir hier?«, frage ich ihn.
»Das weißt du doch«, entgegnet er. »Wir müssen uns verstecken. Wir dürfen nicht auffallen. Und hier sind wir in Sicherheit.«
»Wir? Oder du?«
»Ich tue das für uns, Jem. Warum erkennst du das nicht? Dir ist doch klar, dass ich einfach nur hätte verschwinden können, oder? Ich hätte dich verlassen können, für immer. Wenn es mir nur um meine persönlichen Interessen gegangen wäre, dann wäre ich schon lange weg. Ehrlich gesagt, genau das …«
Er verstummt, und ich sehe ihm an, dass er um ein Haar zu viel gesagt hätte.
»Was?«, hake ich nach. »Ehrlich gesagt, was?«
»Vergiss es. Ich bin erschöpft. Ich bin gestresst.«
»Was soll ich vergessen, Leo? Was wolltest du gerade sagen? Dass du mich hättest verlassen können, und dass ich dankbar sein soll, dass du deine Ehefrau nicht im Stich gelassen hast? Oh, vielen, vielen Dank, liebster Gatte, dass du deine Frau nicht einfach ihren Mördern überlassen hast.«
»Jem …«
Ich bin noch nicht fertig. »Den Leuten – nur, damit wir das nicht vergessen –, die deine Geschäftspartner sind. Den Leuten – nur, damit wir das nicht vergessen –, denen ich nie begegnet wäre, wenn du nicht wärst. Den Leuten, vor denen du auf der Flucht bist. Den Leuten …«
Jetzt bin ich es, die plötzlich verstummt, aber nicht, weil ich fürchte, zu viel zu sagen, sondern weil ich mit einem Mal die Wahrheit erkannt habe.
»Mein Gott«, sage ich. »Deshalb also.«
Leo schweigt. Er weiß, dass ich es weiß.
»Das wolltest du sagen, stimmt’s? Die Leute, vor denen du geflüchtet bist.«
Nur mit Mühe hält Leo meinem Blick stand.
»Heute Morgen. Genau das hast du heute Morgen gemacht. Mir hast du erzählt, dass du auf Geschäftsreise musst, aber in Wirklichkeit bist du geflüchtet. Du hast gewusst, dass sie dir auf die Schliche gekommen sind, stimmt’s? Du hast gewusst, dass Wilks und Messer sich das holen wollen, was ihnen zusteht.« Ich muss eine enorme Selbstbeherrschung aufbringen, um die nächsten Worte auszustoßen. »Du hast mich verlassen. Du hast mich ihnen ausgeliefert.«
»Aber ich bin zurückgekommen.« Mehr bringt er nicht zustande.
»Du hast mich verlassen«, sage ich noch einmal. »Du hast gewusst, dass sie kommen, und du hast mich zurückgelassen.«
»Ich bin zurückgekommen.« Durch die Tränen nehme ich ihn nur noch verschwommen wahr.
»Du hast mich nicht einmal gewarnt.«
»Ich bin zurückgekommen, um dich zu mir zu holen.«
»Hör auf damit«, brülle ich ihn an. »Du hast kein Recht, das zu sagen. Ich könnte jetzt schon tot sein. Sie hätten mich um ein Haar ermordet. Du hast genau gewusst, welcher Gefahr du mich aussetzt, und du hast kein Wort gesagt. Aber wieso auch? Wenn du mich gewarnt hättest, dann hättest du ja keinen Vorsprung gehabt.«
Trevor sagt: »Sie sind ein Feigling. Sie sind ein ganz erbärmlicher Feigling.«
Leo hebt wutentbrannt die Pistole und will Trevor damit schlagen.
Ich stelle mich zwischen die beiden.
Einen Augenblick lang bin ich unsicher, weiß ich nicht, was gleich passieren wird.
»Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder«, sagt Leo und lässt die Waffe sinken. »Was geschehen ist, ist geschehen. Falls ihr aus diesem Chaos heil wieder herauskommen wollt, dann auf meine Weise. Und bevor wir jetzt gleich reingehen: Hat irgendjemand damit ein Problem?«
Trevor sagt nichts.
Ich werfe einen Blick auf die Waffe in der Hand meines Mannes und sage: »Nein.«
»Gut«, erwidert er mit kalter, harter Stimme. »Dann mach jetzt die verdammte Tür auf.«
Ich gehorche, wische mir die Augen aus und unterdrücke das Zittern, um die Tür aufzuschließen. Dahinter gähnt eine undurchdringliche Finsternis ohne jede Hoffnung.
Ich zögere, will genauso wenig in diesen finsteren Schlund eintauchen wie Trevor. Leo muss uns über die Schwelle stoßen.
»Wieso hat das so lange gedauert?«, höre ich Carlson aus dem Inneren der Schwärze fragen.
3.16 Uhr
Carlson hat seine Waffe auf uns gerichtet. Wir sind alle gleichermaßen verblüfft, obwohl mich Carlsons Auftauchen hier eigentlich nicht überraschen dürfte. Er hat sich ja bereits zuvor als sehr entschlossen und einfallsreich erwiesen. Ich merke, dass es mir inzwischen völlig egal ist. Ich bin fertig mit alledem.
Ich will nur noch, dass es vorbei ist, ganz egal, was das bedeutet.
»Alles in Ordnung bei euch?«, erkundigt sich Carlson. »Von hier drin klang das nicht besonders harmonisch, ehrlich gesagt.« Er mustert mich mit meinen geröteten Augen und den tränenverschmierten Wangen. »Aber ich bin erfreut zu sehen, dass das Ganze sich so … freundschaftlich aufgelöst hat.«
Carlson lässt die Pistole sinken. Ich verspanne mich und mache mich innerlich bereit, noch ein letztes Mal etwas zu unternehmen, aber dann spüre ich Leos Hand an meinem Arm.
»Alles okay«, sagt er. »Alles okay.«
Ich weiß nicht, was das heißen soll. Hat er einen Plan? Hat er eine Idee, wie er uns hier wieder rauskriegen will? Ja, lautet die Antwort. Und doch werden meine Augen groß, als ich erkenne, wie einfach, wie mühelos das Ganze abläuft.
Leo lässt mich los und geht auf Carlson zu.
Sie schütteln einander die Hände.
»Du hast es geschafft«, sagt Carlson.
Leo nickt. »Dank deiner Unterstützung.«
»Gehört alles mit zum Service.«
Ich folge diesem Wortwechsel mit offenem Mund. Ich hatte gedacht, dass das mit Carlson alles Lüge war. Hat Wilks nicht gesagt, dass Leo sich das alles ausgedacht hat?
Er dreht sich zu mir um und sagt: »Gib mir die SD-Karte.«
»Warum?«
»Tu es einfach, Jem. Gib sie mir, damit wir das alles hinter uns bringen können.«
»Aber du gibst sie dann Carlson«, wende ich ein. »Wieso?«
»Alleine hätte ich das alles nicht geschafft«, erwidert Leo. »Das Geld nützt mir gar nichts, wenn es sich irgendwie zu mir in Verbindung bringen lässt. Und da springt Carlson in die Bresche. Er investiert es für mich.«
Er kommt auf mich zu. »Für einen bescheidenen Anteil am Gewinn, selbstverständlich.«
Ich zögere, aber ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe. Nicht einmal mein Leben gehört mir mehr. Ich gebe Leo die SD-Karte, und er überreicht sie Carlson.
»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, sagt Carlson, öffnet die Haustür und lässt die kalte Meeresluft hereinwehen. »Melde dich, sobald du außer Landes bist.«
Dann ist er verschwunden.
Leo geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank, während ich einfach nur dastehe und nicht weiß, was ich tun, was ich sagen, was ich denken soll. Trevor hat mir eine tröstende Hand auf den Rücken gelegt, die mich kein bisschen tröstet.
Ich höre, wie Leo eine Bierflasche öffnet. Dann nimmt er einen großen Schluck und kommt dabei zu uns zurück. Er wirkt sehr zufrieden mit sich, triumphierend. Meine Miene passt ihm nicht, und er versucht, sie zu ignorieren, während er sich gleichzeitig sein Feierbier schmecken lässt.
»Ich mache das alles wieder gut, Jem«, sagt er, nachdem die Flasche leer ist. »Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber wenn du mir eine Chance gibst, dann versuche ich es, und zwar für den Rest meines Lebens. Wenn du auch nur ein Fünkchen Liebe für mich übrig hast, dann sag, dass du mir diese Chance geben willst. Ich kann dir nichts versprechen. Ich erwarte nicht, dass ich in deinen Augen derselbe bin wie zuvor, aber bitte, sag, dass du es wenigstens versuchen willst. Sag, dass du mir irgendwann wieder gestattest, dein Mann zu sein.«
Ich bringe kein Wort heraus, aber ich nicke. Ich kann es versuchen. Das kann ich doch, oder nicht?
»Danke«, sagt Leo. »Wir können noch einmal ganz von vorne anfangen. Würdest du das nicht auch gern?«
Ich nicke. Das will ich wirklich. Ich wünschte, dass wir alles wieder auf Anfang setzen könnten, so, wie es war, bevor dieser Albtraum begonnen hat.
»Es wird nicht einfach werden«, fährt er fort. »Das verstehe ich. Aber du musst auch etwas verstehen. Du musst unbedingt verstehen, dass das hier ein Neubeginn ist.«
Ich nicke.
»Und zwar nur für dich und mich, Jem. Wir müssen von hier verschwinden, und zwar alleine. Irgendwohin, wo uns niemand kennt und wo niemand weiß, was wir durchgestanden haben. Verstehst du das?«
Ich nicke erneut, wenn auch ein wenig zögerlich. Seine Worte kommen mir so selbstverständlich vor, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich voll und ganz begriffen habe, was er mir sagen will.
Es stellt sich heraus, dass meine Zweifel berechtigt sind.
»Gut«, sagt er. »Ich möchte, dass du dich an dieses Gespräch erinnerst. An jedes einzelne Wort. Das ist wirklich von größter Bedeutung.«
»Warum?« Jetzt habe ich Angst. »Warum ist das von größter Bedeutung?«
»Mach die Augen zu, Jem«, sagt er. »Sieh nicht hin.«
Ich bin verwirrt, aber nur für einen kurzen Moment. Dann weiß ich genau, was er vorhat.
»Nein!«
, schreie ich.
Zu spät.
Er erschießt Trevor.
3.19 Uhr
Ein einziger Schuss in die Brust.
Trevors Beine geben nach, und er fällt einfach um. Ich stoße Leo, der noch versucht, mich aufzuhalten, beiseite und eile zu Trevor, halb schlitternd, halb auf die Knie fallend. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich presse die Hände auf die Wunde. Ich weine. Ich kreische.
Trevors Augen sind geschlossen. Er rührt sich nicht. Er reagiert nicht.
Lieber, fürsorglicher Trevor. Der beste Mann, den ich je gekannt habe.
Er ist tot.
»Das musste sein«, höre ich Leo in meinem Rücken sagen. »Nur du und ich, Jem. Anders geht es nicht.« Ich spüre seine Hände auf meinem Rücken. Er will mich trösten. »Genau so wird es von jetzt an sein, und zwar immer. Wir beide. Nur wir beide.«
Er packt mich an den Schultern. Kräftige Finger bohren sich in meine Haut, in mein Fleisch. Er hilft mir auf die Beine, hält mich fest, zieht mich zu sich heran, während er auf mich einredet, mich anfleht. Manche Wörter nehme ich wahr, andere nicht. Sein Atem, sauer vom Flüssigkeitsmangel und dem Bier, streift mir heiß übers Gesicht. Sein Speichel spritzt auf meine Wangen.
»Hörst du mir zu, Jem? Verstehst du, was ich dir sage?«
Ich nicke, weil ich weiß, dass das von mir erwartet wird. Ich bin die pflichtschuldige, kleine, verschreckte Ehefrau. Er redet, erklärt, rechtfertigt. Er streitet mit mir, weil ich nicht mit ihm streite. Ich könnte gar nicht, selbst wenn ich das wollte. Der Schuss dröhnt noch immer wie ein erbarmungsloser Tinnitus in meinen Ohren, nur unterbrochen von Leos Worten und der grauenhaften Erinnerung an Trevors letzten, verzweifelten Atemzug.
Leo, mein Ehemann, den ich nicht mehr wiedererkenne. Ein verschwommener Anblick vor tränennassen Augen. Ich weine um Trevor, um mich und um diesen Mann, den ich nicht länger verstehe.
Doch dann wird mir klar, dass ich mich irre. Ich verstehe ihn sehr wohl. Endlich. Wie habe ich es bloß so lange geschafft, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen? War ich blind? Habe ich mich absichtlich so übertölpeln lassen? Habe ich mir so sehr einen perfekten Mann gewünscht, dass ich jedes Anzeichen für das Gegenteil einfach übersehen habe? Habe ich mich während all der Zeit selbst belogen? Ganz egal, wie die Antwort auf diese Fragen lauten mag, jetzt, in diesem Augenblick, erkenne ich ihn, jetzt ist mir klar, wer er ist.
»Du bist ein Monster«, sage ich.
Er gibt einen Laut von sich, halb frustrierter Seufzer und halb ungläubiger Aufschrei. Genau passend, kehlig und bestialisch.
»Das alles habe ich für uns getan«, beharrt er. »Für dich.«
Er hält meine Schultern mit solcher Kraft, solcher Dringlichkeit gepackt, dass ich garantiert blaue Flecken davon bekommen werde. Trotzdem empfinde ich keinen Schmerz, sondern nur Druck, nur die Macht seines Willens. Ich habe die schwärzlich-violetten Fingerabdrücke, die er hinterlassen wird, deutlich vor Augen. Ich sehe sie mit solcher Klarheit, solcher Intensität vor mir, dass ich Leo überhaupt nicht mehr wahrnehme. Ich sehe nur die zukünftigen Beweise für diesen Augenblick.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, brüllt er mich an, und sein kräftiger Atem, sein Speichel auf meinem Gesicht, in meinen Augen, sie löschen dieses Bild aus. Jetzt sehe ich ihn wieder klar und deutlich vor mir, sehe den Zorn, der sein Gesicht verzerrt, den Stress, der seine Augen rötet, sehe das Zerrbild jenes Leo, den ich einst gekannt habe.
Wo ist der fürsorgliche Mann geblieben, in den ich mich verliebt habe? Was ist aus seinem unbeschwerten Lächeln, aus seinen hinreißenden blauen Augen geworden? Ich erkenne diesen Menschen nicht mehr.
Ich nicke und nicke. Ich nicke immer weiter, weil ich sonst nichts tun kann. Kein Laut, kein Wort kommt mir über die Lippen. Ich bin eine Gefangene meiner selbst, eingesperrt hinter Gittern der Angst und des Verlusts.
Sein Griff lockert sich allmählich, und sein panisches, schweres Keuchen wird langsamer. Die Falten, die sein verkniffenes, vor Wut verzerrtes Gesicht überziehen, verschwinden immer mehr, sodass er nun zumindest wieder an den Leo erinnert, den ich einst gekannt habe.
»Ach, Jem«, sagt er und drückt mich fest an sich.
Ich schaffe es nicht, seine Umarmung zu erwidern. Schlaff und regungslos hängen meine Arme zu beiden Seiten herab. Er will mich trösten, aber ich komme mir so klein vor, so schwach und so unbedeutend. Für einen Moment wünsche ich mir nichts anderes, als dass es vorbei wäre. Ich will, dass er weiter zudrückt, dass er seine Kraft benützt, um das Leben aus mir zu quetschen, weil ich dieses Leben, mein Leben, nicht länger haben will.
»Ich erwarte nicht, dass du einverstanden bist mit dem, was ich getan habe«, fährt er fort. »Ich weiß, dass es seine Zeit dauern wird, aber ich weiß auch, dass du irgendwann verstehen wirst, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich werde geduldig sein, das verspreche ich dir. Ich bringe alles wieder in Ordnung. Lass mir nur bitte ein bisschen Zeit. Lass es mich wenigstens versuchen. Kannst du das? Schaffst du das? Für deinen Mann?«
Ich nicke an seiner Brust.
»Ja«, presse ich mühsam hervor.
Es kostet mich eine enorme Anstrengung zu antworten.
Es kostet mich eine gewaltige Anstrengung zu lügen.
In der folgenden Stille versuche ich, nicht zu verkrampfen. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, darum weiß ich nicht, ob er mir glaubt, selbst wenn er es gehört hat. Ob er die Lüge entdeckt hat? Kennt er mich besser, als ich ihn kenne?
Er atmet hörbar aus. »Mehr verlange ich gar nicht.«
Er glaubt mir.
Er lässt mich los. Tritt einen Schritt zurück.
»Tut mir leid, dass ich dir das alles nicht ersparen konnte«, sagt er dann und wischt mir mit dem Daumen die Tränen ab. In der Geste liegt eine solch zärtliche Intimität, dass ich mir wünsche, sie würde niemals enden. Denn sobald sie endet, kehrt die Realität wieder zurück, und er wird wieder ein Mörder sein.
Nicht aufhören
, flüstere ich unhörbar. Nicht aufhören.
Aber er hört auf. Er hat mir die Tränen aus den Augen, von meinen Wangen gewischt, sodass die Haut jetzt gespannt und gereizt ist. Er lächelt, weil er sieht, dass ich auch lächele. Allerdings ist das nur das Lächeln, das er sehen will, aber nichts, was ich auch nur ansatzweise empfinden könnte. Wann hast du mich zum letzten Mal zum Lächeln gebracht, Leo? Ich wünschte, ich wüsste es, ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, denn was immer diese Nacht noch bringen, was immer als Nächstes geschehen mag, nie wieder wird Leo solche Gefühle in mir wecken können. Er wird mich nie wieder zum Lächeln bringen.
»Alles wird gut«, sagt er. »Alles wird gut.«
Er streichelt meine Wange, und ich schmiege mich in seine Hand.
»Ich mache das alles wieder gut, ich schwöre«, sagt er. »Das ist schwer, ich weiß. Und es wird in absehbarer Zeit nicht leichter werden, aber irgendwann doch, wenn wir weit weg von hier sind. Und genau das brauchen wir, Jem. Wir müssen weit weg sein, wo uns niemand kennt, wo niemand weiß, wie wir da hingekommen sind und warum wir hier weggegangen sind. Falls irgendjemand wüsste, was hier passiert ist, was heute alles passiert ist, dann würden wir nicht weit kommen. Nur wir zwei, anders geht es nicht. Nur wir zw…«
Er unterbricht sich und schreit laut auf vor Schmerz.
Er schreit, weil ich meine Zähne in seine Hand geschlagen habe.
»Du Dreckschwein«
, brülle ich ihn an, als er seine Hand wegzieht.
Ich springe auf, während er mit schockiertem, schmerzverzerrtem Gesicht zurücktaumelt.
Mein Mund ist voller Blut. Es klebt an meinen Lippen und meinen Zähnen.
Ich stürze mich auf ihn, auf diesen Mörder, den ich geheiratet habe. Dieses Monster. Er reagiert nur langsam, hat immer noch Schmerzen und steht unter der Wirkung meines überraschenden Bisses. Ich lande etliche Treffer, seine Lippe platzt auf, und ich dränge ihn zurück, aber er ist widerstandsfähig und stark. Die Wirkung meiner Schläge verpufft, und als ich versuche, ihm die Pistole aus der Hand zu winden, da ist er vorbereitet. Ich scheitere.
»Was soll denn das?«, brüllt er mich an.
Ich gebe ihm keine Antwort. Ich weiß es nicht. Ich will nur, dass das alles vorbei ist. Ich will, dass es aufhört.
Er packt mit einer Faust meine Haare und reißt meinen Kopf nach hinten. Ich verliere jedes Gleichgewicht, jede Stabilität. Ich muss die Pistole loslassen, um nicht umzufallen. Er schubst mich weg, ich stolpere und lande auf dem Fußboden.
Aber ich bin schnell wieder auf den Beinen. Die Wut und das Adrenalin sind stärker als der Schmerz.
Gerade, als ich erneut auf ihn losstürmen will, höre ich ein leises Klicken, dann starre ich direkt in die Mündung der Waffe.
»Stopp«, sagt Leo.
Ich weiß sofort, wie ernst er es meint. Alles, was er zu sagen hat, steckt in diesem einen Wort. Wenn ich ihn angreife, wird er schießen. Er blufft nicht.
Es ist mir egal. Es ist mir inzwischen vollkommen egal.
Ich stürme los.
Er schießt.
Aber ich sterbe nicht, sondern fange laut an zu schreien.
Bevor ich weiß, was passiert ist, liege ich auf den Knien. Ich fasse mir an den linken Arm. Erst jetzt wird mir klar, dass ich getroffen worden bin. Ich habe große Schmerzen, und überall ist Blut.
»Du hast auf mich geschossen.«
Leo kommt näher. »Das ist bloß eine Fleischwunde, und ich musste es tun.«
»Du hast auf mich geschossen«, sage ich noch einmal.
»Du hast mir keine andere Wahl gelassen.«
Behutsam nehme ich die Hand weg. Ein oberflächlicher Riss, aus dem hellrotes Blut läuft. Allein beim Anblick der Wunde wird mir schwindelig.
»Nur ein Streifschuss«, sagt Leo. »Du kannst von Glück sagen, dass ich so ein guter Schütze bin.«
Ich empfinde keine Spur von Glück. Ich empfinde Übelkeit und Kälte und Schwäche. Ich fühle mich hintergangen und bin verstört.
»Du bist meine Frau«, höre ich Leo sagen. »Und ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Ich habe alles getan, um dich zu beschützen. Aber wenn du mir keine andere Wahl lässt, wenn du uns in Gefahr bringst, dann werde ich dir wehtun. Ich lasse nicht zu, dass du das, was wir zusammen haben, nur wegen eines Fremden, den du gerade erst kennengelernt hast, aufs Spiel setzt. Ich bin dein Mann. Vergiss das nie. Alles, was ich jemals getan habe, war nur für dich.«
Ich verziehe das Gesicht. Ich beiße die Zähne aufeinander und kneife die Augen zu.
»Jetzt hole ich einen Erste-Hilfe-Kasten und versorge deine Wunde«, sagt er mit einer Spur Mitleid in der Stimme. »Und dann fahren wir los. Wir lassen das alles hinter uns und kommen nie wieder zurück. Ich muss wissen, dass du das begriffen hast, Jem. Ich muss wissen, dass du das akzeptierst.«
Mit zusammengebissenen Zähnen und immer noch geschlossenen Augen nicke ich.
»Gut«, sagt Leo. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich höre, wie er den Raum verlässt.
Meine Kiefer entspannen sich. Meine Augen klappen auf.
Ich renne los.
3.25 Uhr
Durch die Haustür ins Freie, die Verandatreppe hinunter und an den Strand.
So schnell, dass ich mit den Armen rudern muss, um nicht kopfüber im Sand zu landen. Ich weiß, dass ich nur wenig Vorsprung habe. Ich weiß, dass Leo schnell und fit und nicht verletzt ist. Mir bleiben nur wenige Sekunden, und ich darf keinen Bruchteil davon vergeuden.
Zu meiner Rechten liegen die Dünen, gespickt mit vielen langen Grashalmen, die sich in unaufhörlichem Gleichklang hin und her wiegen. Links befindet sich das Meer, schwarz und schäumend, wütend und wogend. Dazwischen der endlose Sand, wunderschön im Schein des silbernen Mondes. Ich laufe diesen nicht enden wollenden Strand entlang, ohne zu wissen, wohin er mich führen wird oder welche Richtung ich einschlagen muss, aber ich denke nicht nach, ich habe keinen Plan. Meine Verzweiflung verlangt nur nach Abstand, meine Angst lässt sich nur dadurch besänftigen, dass ich so schnell wie möglich so viel wie möglich Abstand zu diesem Haus, zu Leo gewinne.
Ich glaube, dass ich vor ihm davonlaufen kann.
Ich glaube, dass ich vor allem davonlaufen kann.
Aber mein Körper weiß es besser. Seit Wilks und Messer heute Morgen vor meiner Tür gestanden haben, habe ich so viel durchgemacht und so wenig Erholung bekommen, dass ich schon nach wenigen Metern von einer tiefen Erschöpfung gepackt werde. Meine Beine werden schwer wie Blei, und jeder Schritt wird zum Kampf. Meine Brust ist so eng, dass ich mit keinem Atemzug ausreichend Luft bekomme, ganz egal, wie sehr ich mich anstrenge.
Der Wind, der vom Atlantik aufs Land fegt, schüttelt mich durch, will mich aufhalten, will mich umwerfen. Der lockere Sand unter meinen Sohlen hat sich mit dem Meer, mit Leo verschworen und will mich zum Stolpern bringen, will mich mit einem Happs verschlingen.
Ich bin allein. Ich bin so allein.
Ich renne in die Dunkelheit, laufe ins Nichts, flüchte vor dem einzigen Mann, den ich je geliebt habe, dem einzigen Mann, der meine Liebe je erwidert hat.
Ich höre seine Stimme durch den Wind, höre ihn nach mir rufen.
Ich rechne jeden Moment mit einer Kugel, einem stechenden Schmerz im Rücken, doch Leo schießt nicht. Vielleicht ist er zu weit entfernt. Vielleicht ist er außer Reichweite. Vielleicht lässt er mich laufen.
Ich werfe einen Blick zurück, obwohl ich weiß, dass das falsch ist. Ich sehe ihn von der Veranda springen, sehe, wie er mit der Pistole in der Hand die Verfolgung aufnimmt. Seine langen Beine treiben ihn an. Er ist schnell, furchterregend schnell.
Er lässt mich niemals entkommen.
Ich renne weiter, kämpfe gegen die Erschöpfung an, gegen die Schmerzen in meinen Füßen, meinem Arm, gegen den Wind und gegen den Sand. Ich werde langsamer. Ich merke, wie meine Schritte erlahmen, und spüre, wie Leo näher kommt, unausweichlich, mit tödlicher Gewissheit.
Ich kann ihm nicht davonlaufen.
Ich kann ihm nicht entkommen.
Dann höre ich ihn, trotz des dröhnenden Wellenrauschens. So dicht ist er schon hinter mir. Ich höre seine schnellen, hechelnden Atemzüge. Es klingt wie ein Tier, wie eine wilde Bestie.
Seine Finger greifen nach meinen Haaren. Mir wird übel, und gleichzeitig packt mich die Todesangst. Er bekommt mich nicht zu fassen.
Ich versuche, schneller zu laufen, meine letzten Energiereserven zu mobilisieren. Ich schaffe es nicht. Mein Tank ist leer, alle Reserven aufgebraucht. Ich habe schon zu oft Zuflucht dazu genommen, und jetzt ist nichts mehr davon übrig.
Erneut streckt Leo die Hand aus, und dieses Mal bekommt er genügend Haare zu fassen, um daran zu ziehen und mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Nur für eine Sekunde, aber das reicht.
Ich komme ins Straucheln.
Und so kann er auch die allerletzte Lücke schließen, kann sich von hinten auf mich stürzen und mir die Arme um die Hüften schlingen.
Ich falle, lande mit den Ellbogen zuerst auf dem Sand, dann folgt der ganze Rest. Die Luft wird mir schmerzhaft aus der Lunge gepresst, und ich schließe die Augen, unmittelbar bevor mein Gesicht auf den Sand prallt. Mir wird schwindelig, und ich verliere die Orientierung, ich rutsche, rolle seitwärts, während Leo mich umklammert, auf mir liegt, unter mir, wieder auf mir … wir überschlagen uns immer und immer wieder.
Wir rollen vom trockenen Sand auf nassen Sand und schließlich ins Wasser. Das Meer ist so kalt, dass mir der Atem stockt, noch mehr als bei meinem Sturz, und ich stoße einen lautlosen Schrei aus.
Schließlich bleibe ich auf dem Rücken liegen. Leo liegt auf mir und drückt mich mit seinem Gewicht auf den Sand, während eine Welle über mir bricht und eiskaltes schwarzes Meerwasser mich unter sich begräbt. Es dringt in meine Augen, in meinen Mund. Ich huste. Ich ringe um Atem. Ich würge.
Ich blinzele und sehe, wie Leo sich aufsetzt. Seine Knie bohren sich links und rechts von mir, auf Hüfthöhe, in den Sand. Er hat keine Waffe in der Hand. Er muss sie beim Sturz verloren haben.
Leo sitzt auf mir und blickt auf mich herab. In seinem Blick liegt so viel Traurigkeit, so viel Bedauern, dass ich ihn beinahe nicht erkenne, weil er jetzt gerade wieder genau so aussieht wie der Leo, den ich einst gekannt, der Leo, den ich geheiratet habe.
»Es tut mir leid, Jem«, sagt er, »aber jetzt muss endlich Schluss sein. Ich habe das nicht gewollt, das schwöre ich dir. Alles, nur das nicht.«
Durch das Heulen des Windes und das Tosen der Wellen muss er mir seine Worte entgegenbrüllen, damit ich ihn überhaupt höre. Trotzdem klingt die Stimme, die an mein Ohr dringt, leise, beinahe sanft.
»Ich weiß keine andere Lösung mehr.«
Er legt mir die Hände auf die Schultern und drückt.
Der nasse Sand gibt nach, und ich sinke tiefer hinein. Nur wenige Zentimeter, aber es reicht. Das Wasser, das meinen Kopf umgibt, steigt höher und legt sich wie ein eiskalter Schleier auf mein Gesicht, dringt mir in Nase und Mund.
Ich ringe um Atem und huste, hebe den Kopf so weit, dass Lippen und Nase wieder frei sind und ich einmal Luft holen kann, bevor die nächste Welle mich unter sich begräbt. Obwohl ich die Augen offen lasse, kann ich nichts mehr sehen, und ich kann nicht mehr atmen. Ich versuche, die Luft anzuhalten und den schwarzen Ozean auszusperren, klammere mich an mein Leben.
Ich packe Leos Handgelenke und versuche, seine Hände von meinen Schultern zu lösen. Doch sie rühren sich keinen Millimeter von der Stelle. Entweder ist er zu stark, oder ich bin zu schwach. Oder beides.
Irgendwo in weiter Ferne kann ich Leos Stimme hören, geisterhaft und gedämpft durch das Meerwasser und meine eigenen lautlosen Schreie.
Die Welle zieht sich zurück, und ich schnappe nach Luft und huste.
»Lass los, Jem«, brüllt Leo mit seiner weit entfernten Flüsterstimme. »Lass es geschehen. Lass es enden. Schlaf ein, Baby. Schlaf einfach ein.«
Er richtet sich ein wenig auf, damit er sich weiter nach vorne beugen und noch mehr Druck auf meine Schultern ausüben kann.
Ich sinke noch tiefer in den Sand. Ich schaffe es nicht mehr, den Kopf über das Wasser zu heben. Es plätschert über meine Lippen, rinnt in meine Nasenlöcher, eisig, dickflüssig und rau vom Salz und vom Sand.
Jeder Atemzug wird von Würgen, Spucken, Husten begleitet. Ich ertrinke und ersticke gleichzeitig.
»Es tut mir leid«, sagt er, während er nicht aufhört, mich zu ermorden.
Die nächste Welle erwischt uns mit voller Wucht, und ich kann nicht einmal einen halben Atemzug nehmen, bevor das Wasser meinen Kopf überspült. Mir wird schwummrig durch den Sauerstoffmangel, aber dafür ist mir jetzt nicht mehr kalt.
Eine Dunkelheit, die schwärzer ist als das Meer, schwärzer als die Nacht, kriecht von den Rändern aus in mein Gesichtsfeld, aber ich empfinde keine Angst. Ich fange vielmehr an, mich über diese Schwärze zu freuen, weil sie Erlösung von aller Hoffnungslosigkeit, von allem Schmerz verheißt.
Schlaf ein, Baby. Schlaf einfach ein.
Ja. Genau das will ich.
Ich wehre mich nicht länger. Ich entspanne meinen Griff um Leos Handgelenke. Ich bin so müde. Ich bin bereit zu schlafen. Ich bin bereit für das Ende.
Da reißt mich der Stoß der nächsten Welle aus meiner Benommenheit, macht mich gegen meinen Willen wach, prügelt auf mich ein, versetzt mir harte, schmerzhafte Schläge gegen die Rippen.
Zu hart.
Ich lasse eines von Leos Handgelenken los und taste mit tauben Fingern herum, bis ich an meiner Seite etwas Festes, Kantiges spüre.
Leos Pistole, angespült von einem gnädigen Ozean, der offensichtlich doch nicht so gierig ist, wie ich dachte.
Meine Finger sind so steif, dass es mir vorkommt, als würden viele Sekunden vergehen, bis ich die Waffe zu fassen bekomme, den Finger in den Abzugsbügel stecken und den Arm heben kann. Als das Wasser sich zurückzieht, taucht meine Hand mit der Pistole aus der ablaufenden Welle auf. Die Mündung ist genau auf Leo gerichtet.
»Nicht«, fleht mein Mann.
Doch.
8.01 Uhr
Jem Talhoffer sieht erschöpft aus.
Nein, viel mehr als erschöpft. Sie wirkt körperlich und geistig so vollkommen ausgelaugt, dass ihre Ermattung jeden menschlichen Erfahrungshorizont übersteigt und bereits spirituellen Charakter hat, als hätte die Kraftlosigkeit auch ihre Seele in Beschlag genommen. Rusty weiß nicht, ob es für diesen Zustand überhaupt ein Wort gibt. Falls ja, dann fällt es ihr im Moment jedoch nicht ein. Vielleicht, wenn sie das nächste Mal auf ihrer Veranda sitzt, allein mit der Nacht, ihren Gedanken und ihrem Gras, vielleicht fällt ihr dann eine angemessene Beschreibung für diesen Erschöpfungszustand ein.
Rusty hat den Tatort abgeschritten. Ist an ihm entlang-, um ihn herumgeschlurft. Sie kann nicht schnell gehen. Das konnte sie noch nie, klar, aber jetzt ist sie nur noch eine Zeitlupenversion ihrer selbst. Als würde sie auf dem Mond spazieren gehen oder sei in einen Wirbelsturm geraten. Wenn sie sich nicht bewegt, ist es besser, aber das Schlimmste ist das Atmen. Und das ist gleichzeitig das Einzige, was sie nicht bleiben lassen kann. Jedes Mal, wenn sie Luft holt, fühlt es sich an, als würde ihr ein rot glühender Schürhaken in das Brustbein gestoßen. Und jedes Mal, wenn sie die Luft wieder ausstößt, wird der heiße Metallstab wieder herausgezogen.
Wieso konnten sie mir nicht in den Bauch schießen?, denkt sie. Das hätte ich wahrscheinlich nicht einmal gespürt.
Sie ist nur deshalb noch am Leben, weil sie eine Schutzweste getragen hat, das ist ihr klar. Neunundvierzig Schichten aus gewebtem Kevlar, um genau zu sein. Die Kugel hat nicht einmal die Hälfte davon durchschlagen. Aber den brutalen Aufprall des Geschosses auf ihr Brustbein, den konnte auch die Weste nicht verhindern.
Sie beißt jedoch auf die Zähne und lässt sich gegenüber den Ortspolizisten, die als Erste beim Haus waren, dicht gefolgt von den Notfallsanitätern, nichts anmerken. Sie haben Jem auf der Eingangsveranda vorgefunden, eingewickelt in eine alte Decke, das Gesicht hinter strähnigen, nassen Haaren verborgen. Dieses Gesicht ist kreidebleich, während ihr Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet ist. Sie hat eine Schusswunde am Arm, aber nichts Ernstes, und dazu jede Menge oberflächliche Verletzungen am gesamten Körper. Schnittwunden und Kratzer, Prellungen und Schrammen verwandeln ihre Haut in einen Flickenteppich der Brutalität, wie Rusty ihn nur selten zu sehen bekommen hat. Natürlich wird das alles fotografiert werden, sobald sie im Krankenhaus war und medizinisch versorgt worden ist.
»Das wird alles wieder«, erklärt ihr einer der Sanitäter. »Aber sie wird garantiert noch lange Schmerzen haben.«
Rusty nickt.
Man hat am Tatort zwei Leichen gefunden. Eine im Haus und die andere am Strand. Beides Männer. Beide erschossen.
Und in Leo Talhoffers leerer Lagerhalle liegt noch eine Tote.
Normalerweise hat Rusty es mit maximal einem gewaltsamen Todesfall pro Jahr zu tun. Und jetzt gleich mit vieren in einer einzigen Nacht.
Die offiziellen Aussagen können warten, aber Jem hat ihnen einen kurzen Abriss ihres Tages in der Hölle gegeben. Was passiert ist, und wie es passiert ist. Von ihrem Frühstückstoast mit Avocado und dem Abschiedskuss für ihren Ehemann bis zu dem Punkt, wo sie ihn erschossen hat. Und auch alles, was dazwischen geschehen ist. Die beiden korrupten Regierungsbeamten Wilks und Messer, der gute Samariter Trevor, dem Leo bedauerlicherweise das Leben genommen hat. Und dann noch der geheimnisvolle Carlson. Ein FBI-Agent? Oder etwas anderes? Rusty glaubt, es zu wissen. Rusty hat eine Theorie.
Sie bespricht sich ausführlich mit ihrem Kollegen, dem Leiter der hiesigen Polizeidienststelle. Es gibt vieles zu bedenken, und er ist sehr gerne zum Austausch über jedes Detail bereit.
»Was halten Sie davon?«, möchte Rusty wissen.
»Es ist ein Wunder, dass sie noch am Leben ist«, erwidert er. »Sie ist ein zäher Brocken, das steht mal fest.«
Rusty ist seiner Meinung.
Sie wundert sich nicht weiter, als ein schwarzer SUV vorfährt und zwei Agententypen im Trenchcoat aussteigen und auf sie zukommen. Sie stellen sich vor, zeigen ihre Dienstausweise der National Security Agency und beschweren sich nicht, als sie sie um einen Moment Geduld bittet, damit sie überprüfen kann, ob sie wirklich die sind, für die sie sich ausgeben. Nach einem kurzen Telefonat ist Rusty sich sicher, dass sie es nicht schon wieder mit einer Wilks-und-Messer-Situation zu tun hat. Diese beiden sind tatsächlich Percival und Hirsch, genau wie es in ihren Papieren steht.
Percival ist für das Reden zuständig. Sie ist eigentlich zu jung, um für irgendetwas die Verantwortung zu tragen, aber Rusty ist mittlerweile in dem Alter, in dem alle Jüngeren zu jung aussehen. Ist Percival dreißig, oder ist sie irgend so ein Wunderkind, das mit zwölf schon aufs College gegangen ist und am sechzehnten Geburtstag nicht nur den Führerschein, sondern auch einen Arbeitsvertrag bei einer Regierungsbehörde bekommen hat?
Percival redet nicht um den heißen Brei herum.
»Wir hoffen, dass das Ganze sich mit einer gewissen Diskretion handhaben lässt.«
»Ich hab mir schon gedacht, dass Sie so was sagen würden.«
Percival kann Rustys Tonfall nicht so recht einschätzen. »Sehen Sie da ein Problem?«
Rusty schüttelt den Kopf. »Keineswegs. Ich wüsste nur gerne, wieso.«
»Das sage ich Ihnen«, erwidert Percival. »Wir haben Mist gebaut. Kompletten Bockmist. Das ist überaus peinlich. Und das möchten wir nicht unbedingt an die große Glocke hängen.«
»Ich war mir eigentlich sicher, dass Sie mir mit der Nationalen Sicherheit kommen würden.«
Percival lässt ein schmales Lächeln sehen. »Ich glaube kaum, dass Sie sich mit so einer billigen Ausrede abspeisen lassen würden. Sie würden das vermutlich eher als Beleidigung betrachten. So würde es mir jedenfalls gehen. Und nach meiner Erfahrung müssen wir die, die wir vor den Kopf stoßen, mehr fürchten als alle anderen. Weil das genau die sind, die sich dann in ihrer Freizeit hinsetzen und Fakten überprüfen und Fragen stellen.«
»Mich müssen Sie in keiner Weise fürchten.«
»Das ist ein Missverständnis«, sagt Percival. »Ich habe Ihnen aus Höflichkeit die Wahrheit gesagt, aber mir ist trotzdem klar, dass das auch aus taktischen Gründen die sinnvollste Herangehensweise ist.«
»Dann macht es Ihnen doch bestimmt nichts aus, mir zu verraten, inwiefern Sie Mist gebaut haben, oder?«
»Lacy Wilks und John Messer haben uns nie Anlass zum Misstrauen gegeben. Sie waren gute, nutzbringende Agenten, so wie Hunderte, vielleicht sogar Tausende ihrer Kolleginnen und Kollegen auch. Nichts Besonderes. Effizient, aber auch nicht mehr. Dass sie gewissen Nebentätigkeiten nachgegangen sind, war für uns eine große Überraschung. Oder auch nicht, wenn man sich einmal bewusst macht, dass hier riesige Geldsummen im Spiel sind. Ich habe das alles abgezeichnet, also fällt der ganze Vorgang in meine Verantwortung. Ich habe mich bis auf die Knochen blamiert.«
»Ich verstehe.«
»Dafür kriege ich noch jahrelang auf den Deckel. Ich bin darüber weder verärgert noch verbittert. Aber ich bin von mir selbst sehr enttäuscht, und ich möchte unbedingt, dass das der einzige Fleck auf meiner Weste bleibt. Ich werde ab jetzt doppelt so hart arbeiten müssen wie bisher, nur um meinen Status zu behalten. Falls die ganze Sache an die Öffentlichkeit kommen sollte, dann unterdrücken wir sämtliche Informationen und sorgen dafür, dass die beteiligten Journalisten binnen Tagen diskreditiert werden. So was machen wir ständig. Aber in diesem Fall wäre mir das nicht recht, weil auch ein gelöschtes Feuer einmal gebrannt hat, wenn auch nur vorübergehend.«
Percival möchte nicht, dass der Fleck auf ihrer Weste an die große Glocke gehängt wird.
»Wenn es nicht öffentlich wird, dann können Sie das Ganze überleben«, sagt Rusty.
Percival erwidert: »Öffentliche Aufmerksamkeit ist schlimmer als das Versagen selbst. Dann kann ich mich gleich begraben lassen.«
»Ich will Sie nicht begraben.«
»Danke.«
»Keine Ursache.« Rusty zuckt mit den Schultern. »Es ist ein gutes Gefühl, nett zu sein, stimmt’s?«
Percival nickt.
»Was ist mit dem Geld, den Informationen?«
»Wir beschlagnahmen alles, was sich eindeutig zuordnen lässt, und behalten alle Bankkonten und Unternehmungen, die auf Leo Talhoffers Namen laufen, im Blick. Aber ganz unter uns: Das Geld ist nicht das Wichtigste. Selbst Summen, die für einen einzelnen Menschen riesig sind, haben wir nicht einmal auf dem Radar.«
»Vier Menschen mussten sterben, nur wegen dieses Geldes.«
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, sagt Percival.
»Ich auch nicht«, erwidert Rusty.
»Es sind schon Menschen für weniger gestorben.«
Rusty nickt.
»Wie geht es der Frau?«
»Sie ist ein Häufchen Elend. Wollen Sie mit ihr sprechen?«
Percival denkt einen Augenblick lang nach, dann schüttelt sie kurz und knapp den Kopf. »Später, wenn wir die letzten unvermeidlichen Lücken füllen müssen, aber ich glaube, heute hat sie schon genug durchgemacht. Da brauche ich sie nicht auch noch mit Fragen zu löchern. Oder wie sehen Sie das?«
»Wahrscheinlich.«
»Es macht einen schon nachdenklich, oder?« Percival lässt den Blick in die Halbdistanz schweifen. »Man weiß nie, wer die Menschen wirklich sind. Nicht einmal die in unserer unmittelbaren Nähe.«
»Besonders die nicht.«
Percival begegnet Rustys Blick. »Was für eine traurige Wahrheit.«
»Das Traurige ist, dass die meisten Wahrheiten traurig sind.«
Hirsch, der bis jetzt stumm und unterwürfig zugehört hat, wirft einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr und sagt zu Percival: »Wir müssen uns langsam auf den Weg machen, wenn wir es zur Abschlussbesprechung schaffen wollen.«
Sie nickt, ohne ihn anzusehen, und sagt zu Rusty: »Danke, dass Sie es mir so leicht gemacht haben.«
»Gern geschehen. Ich mag es leicht.«
»Ich bin Ihnen was schuldig.« Percival gibt Rusty eine Visitenkarte. »Jederzeit einlösbar.«
Rusty sieht Percival und Hirsch hinterher, wie sie zu ihrem Auto schreiten. Vielleicht liegt es ja an den Anzügen, denkt Rusty, dass Agententypen immer so gehen. Sie schlendern nie. Sie flanieren nie. Sie bummeln nie. Sie schreiten immer nur. Kraftvoll. Zielgerichtet. Als wäre jeder einzelne Schritt notwendig, als wäre jede Richtung die richtige.
Es gefällt Rusty, wie Percival geht.
Behutsam schiebt sie Percivals Visitenkarte in ihr Portemonnaie.
Rusty muss jetzt nach Hause. Sie muss schlafen. Sie muss sich auf ihre Veranda setzen und rauchen und das alles für eine Weile aus ihrem Bewusstsein verdrängen. Vielleicht noch einmal ihre Freundin in L. A. anrufen und diesen längst versprochenen Besuch in die Tat umsetzen.
Aber vor alledem will sie zu Trevors Hütte fahren und den kleinen Hund abholen, diesen Merlin. Rusty hat nie das Bedürfnis gehabt, sich ein Haustier anzuschaffen, aber vielleicht behält sie diesen Hund bei sich, anstatt ihn ins Tierheim zu bringen. Der Gedanke nimmt allmählich Gestalt an, und Rusty stellt sich vor, wie es wäre, den kleinen Kläffer um sich zu haben. Es wäre ein Grund, gelegentlich ein bisschen mehr frische Luft zu schnappen. Vielleicht wird sie sogar, wenn sie oft genug lange Spaziergänge gemacht und Bällchen geworfen hat, ihre Beklemmung vor dem Treppensteigen los. Außerdem hat sie schon einmal gehört, dass Hunde therapeutische Wirkung haben, dass sie einen beruhigen, und das klingt gut, findet Rusty. Sie braucht so viel Ruhe wie nur irgend möglich. Womöglich tut so ein Hund sogar ihrer Mutter gut, obwohl sie darauf lieber keine Hoffnungen setzen möchte. Eine solche Verantwortung wäre unfair, auch für ein Haustier. Trotzdem gefällt ihr die Vorstellung, einen Hund zu haben, von Minute zu Minute besser. Aber vielleicht gibt sie ihm dann einen anderen Namen.
Merlin klingt irgendwie nicht richtig.
Rusty geht zu ihrem Auto, das nur wenige Meter entfernt steht. Sie braucht trotzdem eine halbe Ewigkeit, was an dem glühend heißen Schürhaken liegt, der ihr ständig in die Brust gestoßen wird.
Komisch, wie sehr das wehtut, obwohl sie, als die Kugel sie getroffen hat, kaum etwas gespürt hat.
Am nächsten Tag
»Meine Finger sind so steif, dass es mir vorkommt, als würden viele Sekunden vergehen, bis ich die Waffe zu fassen bekomme, den Finger in den Abzugsbügel stecken und den Arm heben kann. Als das Wasser sich zurückzieht, taucht meine Hand mit der Pistole aus der ablaufenden Welle auf. Die Mündung ist genau auf Leo gerichtet. ›Nicht‹, fleht mein Mann. Doch.«
Jem Talhoffer wischt sich die Tränen aus den Augen, reibt sich die Erschöpfung aus der Seele. Gierig trinkt sie das Wasser aus dem Plastikbecher, den Sabrowski ihr auf Rustys Bitten hin gebracht hat. Den Kaffee hat sie abgelehnt, und Rusty hat versucht, deswegen nicht persönlich gekränkt zu sein. Jem trinkt in großen Schlucken. Es ist kein Wunder, dass ihre Kehle trocken ist. Schließlich hat sie gerade die ganze Geschichte erzählt.
Sie sagt: »Wie ich ganz am Anfang schon gesagt habe, Rusty, ein Türklopfen kann wirklich alles verändern. Ich habe nicht übertrieben, denn jetzt wird nichts mehr so sein wie vorher, stimmt’s? Im Verlauf eines einzigen Tages habe ich erfahren, dass meine ganze Ehe eine Lüge war. Ich habe herausgefunden, dass mein Mann ein vollkommen anderer Mensch war als der, für den ich ihn gehalten habe. Aber seltsamerweise ist das irgendwie auch entlastend, nicht wahr? Weil es bedeutet, dass ich nicht den Mann erschossen habe, den ich geliebt habe. Ich habe vielmehr einen Mann getötet, den ich nicht einmal gekannt habe.«
Rusty sagt: »Soll ich vielleicht jemanden anrufen?«
Jem schüttelt den Kopf. Sie ist alleine ins Krankenhaus gefahren, ist alleine entlassen worden und alleine auf die Wache gekommen, um ihre Aussage zu machen.
»Kommt niemand Sie abholen?«
Sie schüttelt erneut den Kopf.
Rusty beugt sich vor. »Keine Angehörigen? Keine Freunde?«
»Ich habe keine Familie, und ich habe keine Freunde.«
»Wie kommt denn das?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Was ist mit Ihren Eltern?«
»Sie sind tot.«
»Freundinnen«, hakt Rusty nach. »Es muss ja nicht die beste Freundin für immer sein, aber Sie müssen doch im Lauf Ihres Lebens andere Menschen kennengelernt haben, oder nicht?«
»Ich kann nicht besonders gut mit anderen Menschen.«
»Oha«, meint Rusty. »Bis jetzt ist mir im Lauf meiner beruflichen Laufbahn noch niemand begegnet, der noch einsamer ist als ich.«
»Und was erwarten Sie jetzt von mir?«
Rusty dreht die Handflächen nach oben. »Ich mache mir lediglich Sorgen um Sie, Jem. Sie haben Schreckliches durchgemacht, und ich will Sie eigentlich nicht von hier wegschicken, ohne dass Sie jemanden haben, der sich um Sie kümmern kann.«
»Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert. Ich bin ja nicht schwer verletzt.«
»Sie sind traumatisiert«, sagt Rusty. »Ihr Ehemann ist tot. Der Ehemann, der Sie umbringen wollte.«
»Mache ich auf Sie einen traumatisierten Eindruck?«
Rusty ist sehr zufrieden mit sich selbst, weil das genau die Reaktion ist, auf die sie gewartet hat, und sie hat die Antwort bereits parat. »Nein, Jem, Sie machen absolut keinen traumatisierten Eindruck auf mich.«
Jem schweigt.
»Das liegt wahrscheinlich am Schock, nicht wahr? Genau das passiert mit Menschen, die ein Trauma durchlitten haben. Sie fallen in einen Schockzustand. Sie sind wie taub. Ein Überlebensmechanismus, vermutlich. Evolution. Also schätze ich mal, dass wir das, was wir hier erleben, Darwinismus in Aktion nennen könnten.«
»Darwinismus«, sagt Jem.
Erneute Stille.
»Sie haben gar nicht über den Diner gesprochen«, sagt Rusty.
»Doch, hab ich. Dass wir da angehalten haben.«
»Ja, schon. Einen ›Zwischenstopp‹ haben Sie es genannt. Aber was Sie mir nicht erzählt haben, ist, dass Sie die Kellnerin gebeten haben, meinen Wachtmeister abzulenken.«
»Hab ich nicht dran gedacht«, erwidert Jem nach einer kurzen Pause. »Das erschien mir nicht wichtig.«
»Ich schätze mal, Sie haben nicht damit gerechnet, dass sie Sie verpetzen würde.«
»Das finde ich ein bisschen übertrieben. Ich kann mich ja schließlich nicht an jedes kleine Detail erinnern, oder?«
»Dana hat erwähnt, dass Sie und Trevor in einem Pick-up weitergefahren sind. Nicht in einem Pkw. Und zwar, wenn man ihrer Beschreibung glauben darf, in Trevors Pick-up.«
»Sie irrt sich. Wir sind mit Carlsons Wagen gefahren.«
»Mit dem Fahrzeug, mit dem Sie Trevors Hütte verlassen haben und zu Leos Lagerhalle gefahren sind?«
»Genau.«
»Aber warum ist es dann nicht mehr da? Da Sie doch zusammen mit Leo zu dem Haus am Strand gefahren sind?«
Schweigen, und dann: »Er muss es abgeholt haben.«
»Und wo ist dann der Wagen, mit dem Sie und Leo zum Strand gekommen sind? Wir haben dort nämlich nur Trevors Pick-up gefunden.«
»Carlson muss den Pick-up genommen haben und dann mit dem anderen Auto weggefahren sein.«
»Um sein eigenes Fahrzeug abzuholen?«
»Ja.«
»Verstehen Sie jetzt, was mich so verwirrt? Denn wo ist dann dieses andere Auto?«
»Woher soll ich das denn wissen?«
»Tja, also, ich habe da eine Theorie, mit der sich das alles erklären lässt«, sagt Rusty. »Ist wahrscheinlich völlig verrückt. So ein ›Was-wäre-wenn‹-Ding. Wollen Sie sie hören?«
Jem Talhoffer hört zu.
»Das ist so eine Idee, die sich im Lauf des Tages und der Nacht immer mehr verfestigt hat. Hat als winziges Samenkorn in meinen Gedanken angefangen, das in der Dunkelheit erste Keime und dann allmählich Triebe gebildet hat, ohne dass ich es mitbekommen habe. Die Triebe sind immer größer und größer geworden, bis ich sie nicht länger ignorieren konnte. Und jetzt ist die ganze Idee ausgewachsen und hat sich so verfestigt, dass ich mir sogar vorstellen kann, dass es mehr ist als nur so eine dahergelaufene Theorie.«
Der Spannungsaufbau funktioniert, denn Jem Talhoffer sagt: »Und was ist das für eine Idee?«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Sie sind keineswegs verpflichtet zu bleiben, jetzt, nachdem Sie Ihre Aussage gemacht haben. Nur, damit es da keine Missverständnisse gibt.«
»Ja, klar.«
»Prima«, meint Rusty. »Ich bin nämlich ganz scharf darauf, meine Theorie mit jemandem zu teilen. Meine Wachtmeister sind … Wie soll ich das sagen, ohne verletzend zu klingen? … nicht mit einer übermäßigen geistigen Kreativität gesegnet. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie bereit sind, sich mit einer Idee zu befassen, die mehr gedankliche Arbeit erfordert als unbedingt notwendig. Aber für diese Theorie, die ich da entwickelt habe, muss man so weit über den eigenen Tellerrand hinausblicken, dass der Teller überhaupt keine Rolle mehr spielt. Der Teller könnte auch einfach nur ein Punkt in der Landschaft sein.«
Schweigen, und dann hat Jem Talhoffer gar keine andere Wahl, als ihren Satz von vorhin noch einmal zu wiederholen. »Und was ist das für eine Idee?«
Jetzt hat Rusty ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und das ist das Allerwichtigste. Wenn Jem begierig darauf ist, mehr zu erfahren, denkt sie nicht mehr daran, ihr Mienenspiel unter Kontrolle zu halten. Bis jetzt konnte Rusty nicht lesen, was in ihren Augen geschrieben stand, darum hat sie versucht, die Schrift zu vergrößern.
Rusty sagt: »Es ist unglaublich, nicht wahr? Als das alles angefangen hat, waren Sie nichts weiter als eine normale, unbescholtene Bürgerin. Und dann, mit einem Mal, müssen Sie um Ihr Leben rennen, werden Sie mit dem Tod bedroht, stellt sich heraus, dass Ihr Mann ein Spion ist. Er hat Sie während Ihrer ganzen Ehe angelogen. Er bringt den einen Menschen um, der Ihnen geglaubt hat, der Ihnen ohne Fragen zu stellen geholfen hat. Sie fürchten um Ihr Leben. Sie kennen diesen Leo, dieses Monster, nicht mehr. Sie haben keine andere Wahl, als ihn in Notwehr zu töten. Carlson kann flüchten. Ich hoffe, wir finden ihn.«
Jem schluckt. Nickt. Hat Tränen auf den Wangen.
»Und niemand ist mehr am Leben, der Ihre Geschichte infrage stellen könnte.«
Jem trocknet sich die Augen.
»Hoffnung und Erwartung sind jedoch zwei unterschiedliche Dinge, nicht wahr?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
Rusty beugt sich vor. »Dann will ich es Ihnen erklären. Ich hoffe sehr, dass wir Carlson finden, ich hoffe es wirklich. Weil er, nach allem, was Sie berichtet haben, Messer getötet hat und ein Komplize Ihres Mannes war. Denkbar, dass er für einen ausländischen Nachrichtendienst tätig ist. Er könnte auch ein Auftragskiller sein. Sie sind sich nicht sicher. Aber er ist eindeutig gefährlich.«
Jem nickt.
»Aber«, fährt Rusty fort, »ich glaube nicht, dass wir ihn finden werden.«
Jem bleibt stumm.
»Kennen Sie diesen Ausdruck: Wenn etwas watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente …?«
Jem nickt. »Dann ist es wahrscheinlich auch eine Ente.«
»Ja, wahrscheinlich.« Rusty hält inne. »Aber in diesem Fall können wir mich getrost als Expertin für Vogelkunde betrachten, weil ich nämlich etwas sehe, was watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente. Aber wissen Sie was? Es ist keine Ente.«
Jem hat schon lange nicht mehr geblinzelt.
»Ich habe mich die ganze Zeit mit Leo beschäftigt, Jem. Ich habe mich mit Wilks und mit Messer beschäftigt, und natürlich mit diesem geheimnisvollen Carlson. Aber während dieser ganzen langen Zeit habe ich keine einzige Sekunde lang einen Gedanken an Sie verschwendet. Nicht einen.«
»Warum sollten Sie?«
»Sehr richtig, Jem. Warum sollte ich? Sie sind nichts weiter als eine Teilzeit-Yogalehrerin, die gerne für sich bleibt. Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Sie sind ein bisschen langweilig. Abgesehen von der Tatsache, dass Sie einen heimlichen Spion geheiratet haben.«
»Jeder Mensch macht Fehler.«
»Das stimmt«, pflichtet Rusty ihr bei. »Ich mache jeden Tag ein Dutzend davon, und das ist noch freundlich gerechnet. Sie haben, soweit ich das beurteilen kann, nur einen einzigen gemacht.«
Jem wartet auf eine Erklärung.
»Sie haben Messer getötet.«
»Carlson hat Messer getötet.«
»Wilks hat etwas anderes behauptet.«
»Wilks war korrupt.«
»Warum wollten die Sie umbringen?«
»Ich weiß es nicht«, erwidert Jem. »Vielleicht, weil ich für sie ein Problem geworden war, das sie loswerden wollten?«
»Schon, aber wäre es nicht viel sinnvoller gewesen, Sie irgendwo gefangen zu halten? Gefesselt, aber lebend, falls Sie noch einmal nützlich sein können, zum Beispiel, um Leo in eine Falle zu locken? Das will mir einfach nicht in den Kopf, auch wenn alles andere absolut stimmig ist. Aber die beiden hätten doch niemals in Ihrem eigenen Haus einen Mordanschlag auf Sie verübt, hätten niemals versucht, Sie in Ihrem eigenen Badezimmer zu erdrosseln oder zu Tode zu prügeln. Wie hätten sie denn damit durchkommen sollen? Sie hätten doch jede Menge Indizien hinterlassen. Das waren schließlich keine Junkies, die auf der Straße leben, sondern Bundesagenten. Warum hätten sie dieses Risiko eingehen sollen? Warum? Ich habe keine Antwort darauf.«
»Ich auch nicht.«
»Aber während ich darüber nachgegrübelt habe, musste ich an all das denken, was Sie mir davor schon erzählt hatten. Das mit den Besuchern, die an Ihre Tür geklopft haben.« Rusty hält inne. »Das mit dem Anruf.«
Jem zeigt keine Reaktion.
»Und da wären wir bei dem Telefon gelandet, dem Festnetztelefon an der Wand in Ihrer Küche. Was mache ich also? Ich nehme den Hörer ab. Ich höre den Wählton. Ich tippe die 69 ein, damit ich die Nummern bekomme, die diesen Anschluss als Letztes angerufen haben. Ich schreibe mir die Nummern auf und rufe dort an. Und wissen Sie, wer der letzte Anrufer war? Sie selbst, von einem Münztelefon. Und der vorletzte Anrufer? – Carlson, meinen Sie? Nun, es war die Fahrzeugzulassungsstelle …«
»Vielleicht arbeitet Carlson ja dort, als Tarnung. Oder er hat einfach deren Telefon benutzt.«
»Es gibt keinen Carlson, nicht wahr? Sie haben ihn erfunden. Deswegen werde ich ihn auch nicht finden. Er ist nicht echt. Aber warum haben Sie das gemacht?«
»Das erzählen Sie mir bestimmt gleich.«
»Weil Sie einen Grund gebraucht haben, um zu fliehen. Einen Anlass. Als Wilks und Messer bei Ihnen vor der Tür gestanden haben, da haben Sie durchgedreht. Damit hatten Sie nicht gerechnet. Und Sie sind weggelaufen. Aber dann haben Sie es sich anders überlegt. Sie haben sich einen Plan zurechtgelegt. Ihnen ist klar geworden, wie Sie den Hals aus der Schlinge ziehen und dieses ganze Chaos auf Leo abwälzen können. Sie sind zu mir gekommen, weil Sie wussten, dass Wilks und Messer das ebenfalls tun würden. Sie haben uns alles ausführlich berichtet, und ich muss zugeben, dass darin eine gewisse arrogante Genialität liegt. In eine Polizeiwache zu marschieren und solche Lügen zu präsentieren … Donnerwetter, Sie haben Eier. Wie können Sie überhaupt gehen? Ich wette, Sie haben ständig blaue Flecken an den Innenseiten der Oberschenkel, was? Sie fahren also wieder nach Hause, zusammen mit Wilks und Messer. Sie trennen die beiden und greifen sie an. Sie überrumpeln sie. Vielleicht ist alles genau so gelaufen, wie Sie gehofft haben, vielleicht war es auch komplizierter. Jedenfalls haben Sie sich dabei verletzt, sodass Sie im Badezimmer, im Flur, auf der Treppe Blutspuren hinterlassen haben. Sie sorgen dafür, dass das Haus aussieht, als wäre eine Bombe explodiert, als hätten Sie um Ihr Leben gekämpft, als wäre jemand gekommen, um Sie da rauszuholen. Sie fahren zu Trevors Hütte und umgarnen ihn mit noch mehr Lügen. Er ist ein guter Mensch und will Ihnen helfen. Sie fahren in Leos Lagerhalle, um diese SD-Karte zu holen. Das ist eine Schwäche Ihrer Version, denn warum sollte Leo ohne diese wertvollen Informationen die Flucht antreten wollen? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Leo dort Wilks tötet, weil er seine Frau beschützen will, die Frau, die ihn ununterbrochen manipuliert und sein Weingeschäft als Tarnung für ihre Mauscheleien benutzt hat. Und natürlich sind Sie es, die Leo überredet, zu dem Haus am Meer zu fahren, damit Sie dort Ihren nächsten Angriff starten können. Und wie praktisch, dass Carlson ebenfalls dort auftaucht und natürlich mit den Informationen verschwindet.«
Rusty holt einmal tief Luft.
»Aber das Schlimmste, das mit Abstand Schlimmste an allem ist, dass Sie Trevor getötet haben. Wie konnten Sie nur? Er wollte Ihnen doch einfach nur helfen, Jem. Ich wette, er hat darauf bestanden mitzukommen, nicht wahr? Ich wette, Sie wollten sich eigentlich heimlich mit seinem Pick-up aus dem Staub machen, aber er hat Sie dabei erwischt und hat Ihr Nein einfach nicht akzeptiert. Er wollte Ihnen doch nur helfen. Sie haben Trevor ermordet, und Sie haben Leo ermordet. Und danach haben Sie mich angerufen. Die verlässliche Rusty. Zu dämlich, um die Wahrheit zu erkennen.«
Jem fängt an zu weinen und schüttelt protestierend den Kopf.
»Leo, der Geldwäscher, der Dieb im Auftrag einer korrupten FBI-Agentin. Aber das ist nicht richtig, stimmt’s? Das ist meilenweit von der Wahrheit entfernt, nicht wahr? Jem, die ängstliche, kleine Ehefrau. Niemand würde vermuten, was hinter Ihren großen braunen Augen so alles vor sich geht. Aber so ist das nun mal mit Geheimnissen, nicht wahr? Sie haben ein Eigenleben. Früher oder später drängen sie ans Licht. Sie haben Ihren Ehemann umgebracht, weil Sie das mussten, das weiß ich. Aber was ich nicht weiß, ist, ob das von Anfang an zu Ihrem Plan gehört hat oder nicht.«
Jem Talhoffer schweigt lange.
Rusty sagt: »Die Behörden werden sich bei Ihnen melden, aber nur, um ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen über Leo zu bekommen. Die machen sich mehr Sorgen darüber, dass die Presse von ihrem Fehlschlag Wind bekommen könnte, als über die verloren gegangenen Informationen. Die sind nicht auf Rache aus, das Ganze ist ihnen vielmehr peinlich. Und das Geld, das Sie gestohlen haben, dafür machen die keinen Finger krumm.«
Jems Augen sind für Rusty ein Buch mit sieben Siegeln. Sie kann nichts darin erkennen. Das ist sie nicht gewohnt, und es gefällt ihr ganz und gar nicht.
Nachdem Jem sich die Tränen aus den Augen gewischt hat, sagt sie: »Können Sie irgendwas davon beweisen?«
Rusty zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf. »Ich habe das seltsame Gefühl, dass sämtliche Indizien Ihre Version stützen werden, hab ich recht? Wir suchen natürlich weiter, aber wenn Sie auch nur die geringste Befürchtung gehabt hätten, dass wir etwas finden könnten, dann hätten Sie die Polizei nicht zu diesem Häuschen geholt, nicht wahr? Dann wären Sie einfach verschwunden.«
»Stehe ich unter Arrest?«
»Nein. Es gibt ja nichts, was wir Ihnen vorwerfen könnten. Außerdem ist das Ganze nur eine Theorie.«
»Dann war’s das.« Jem steht auf. »Man sieht sich, Rusty.«
Rusty begleitet sie bis zur Tür. »Ich nehme an, Sie wollen jetzt wegziehen. Ins Ausland, vielleicht?«
Jem schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin genau da, wo ich sein möchte.«
Rusty hält ihr die Tür auf, und Jem tritt hinaus in den Morgen eines neuen Tages. Die aufgehende Sonne taucht die Häuser in ein orange-pinkfarbenes Licht. Es verspricht, ein herrlicher Tag zu werden.
Rusty sieht ihr hinterher und bewundert ihre Haltung. Sie ist weder wütend noch enttäuscht. Wie gesagt, es ist ja nur eine Theorie. Es spielt keine Rolle, was man weiß, entscheidend ist, was man beweisen kann. Rusty ist eine Dienerin des Gesetzes, keine Kämpferin für Gerechtigkeit. Sie wird jeder Spur, jedem Hinweis nachgehen. Wird jedes einzelne Indiz einer genauen Prüfung unterziehen.
Aber als sie sieht, mit welcher Seelenruhe Jem die Polizeiwache hinter sich lässt, kann sie sich nicht vorstellen, dass sie irgendetwas finden wird.
Vielleicht, weil es gar nichts zu finden gibt.
Jem überquert die Straße und bleibt dann auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stehen. Dreht sich um.
Sieht Rusty an.
Es herrscht kein Verkehr, und auch sonst ist kein Geräusch zu hören, aber allein die Entfernung und der Wind sorgen dafür, dass sie rufen müssten, um sich gegenseitig verstehen zu können. Jem ruft nicht. Aber sie spricht zwei Wörter, die Rusty zwar nicht hören, aber problemlos von Jem Talhoffers Lippen ablesen kann.
Quak. Quak.