Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht erreichbar.
»Kein Glück?«, fragt Lucy Vaughan.
»Nein.« Sie muss diese Frau mit ihren gefälschten E-Mails und falschen Fantasien darüber, dass ihr das Haus einer anderen gehörte, endlich loswerden. Soll sie lieber gleich die Polizei rufen? Oder abwarten, bis sie Bram erreicht hat, damit sie sich dieses ungeheuerlichen Überfalls gemeinsam erwehren können? Und nun, wo so viele Möbel der Vaughans bereits ausgeladen sind, haben sie da irgendwelche Hausbesetzerrechte? Sind sie streng genommen schon die rechtmäßigen Bewohner?
Auf die Fragen gibt es keine Antworten. Sie fühlen sich so irreal an wie die Bilder vor ihren Augen. Die ganze Geschichte wirkt wie eine Halluzination, der nicht zu trauen ist.
Sie versucht es erneut bei Bram. Ein drittes Mal.
Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht erreichbar.
Sie kann ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. »Wo zum Teufel steckt er?«
Lucy beobachtet sie, ihr eigenes Handy fest in der Hand. »Sie haben Kinder, nicht wahr? Könnte er bei ihnen sein?«
»Nein, sie sind in der Schule.« Woher weiß diese Lucy Dinge von ihr, wo Fi von ihrer Existenz erst vor ein paar Minuten erfahren hat?
Mum , denkt sie. Sie wird sie bitten, die Jungs von der Schule abzuholen und zu sich zu nehmen. Sie können nicht hierherkommen, es wäre zu verstörend für sie, ihre Zimmer völlig leer vorzufinden, ihre kostbaren Habseligkeiten wie weggezaubert.
Wohin weggezaubert? Das Haus zu besitzen, mag die Wahnvorstellung dieser Fremden sein – Fi klammert sich weiterhin an die Idee eines Streichs –, aber es ist ganz offensichtlich, ohne jeden Zweifel, seines rechtmäßigen Inhalts beraubt worden. Jemand hat ihr gesamtes Hab und Gut weggeschafft.
Das ist der Moment, als es sie trifft – nicht so sehr ein Gedanke als ein jähes Aufblitzen, eine Woge der düsteren Vorahnung, die in Form von überwältigender, nackter Angst ihr Bewusstsein überschwemmt: Wenn ihre Möbel während ihrer zweitägigen Abwesenheit verschwinden konnten, könnten es auch ihre Kinder ? »O mein Gott«, sagt sie. »Bitte, nein, bitte …« Mit zitternden Händen scrollt sie durch ihre Kontakte.
»Was ist los?«, fragt Lucy aufgeregt. »Was ist passiert? Wen rufen Sie an?«
»Die Schule meiner Kinder. Ich muss … Oh, Mrs Emery! Hier spricht Fi Lawson. Mein Sohn Harry ist in der dritten und Leo in der vierten Klasse.«
»Natürlich. Wie geht es Ihnen, Mrs …«, setzt die Schulsekretärin an, doch Fi unterbricht sie.
»Sie müssen für mich nach ihnen sehen – es ist dringend.«
»Nach ihnen sehen? Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.«
»Können Sie einfach nachprüfen, dass sie da sind, wo sie sein sollen? In ihren Klassenzimmern oder auf dem Schulhof, wo auch immer. Es ist wirklich wichtig.«
Mrs Emery zögert. »Nun, die vierte Klasse wird gerade beim Mittagessen sein, glaube ich …«
»Bitte!« Stärker als ein Wehklagen: ein Kreischen, eindringlich genug, um Lucy zusammenzucken zu lassen. »Es interessiert mich nicht, wo sie sind, schauen Sie einfach nach, ob sie da sind.«
Es folgt ein schockiertes Schweigen, dann: »Können Sie einen Moment dranbleiben …?«
Fi spitzt die Ohren, um im Hintergrund einem Wortwechsel zwischen Mrs Emery und einer Kollegin zu folgen, mindestens zehn qualvolle Sekunden eines halblauten Hin und Hers, und schließlich kommt Mrs Emery ans Telefon zurück. »Es tut mir leid, Mrs Lawson, aber mir wurde eben gesagt, dass Ihre Jungen tatsächlich nicht hier sind.«
»Was?« Augenblicklich setzt ein schreckliches Hämmern in ihrem Brustkorb ein, und ihr Magen droht sich zu entleeren.
»Sie sind heute nicht in der Schule.«
»Wo sind sie dann?«
»Nun, soweit wir wissen, bei ihrem Vater. Hören Sie, ich verbinde Sie mit der Direk…«
Fi zittert jetzt, die Krämpfe sind nicht mehr im Rhythmus mit ihrem peitschenden Herzen. Sie ist eine Maschine, die jegliche Kontrolle über ihre Funktionen verloren hat.
»Mrs Lawson? Hier spricht Sarah Bottomley. Ich kann Ihnen versichern, es gibt absolut nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssen.« Die resolute Direktorin der Alder-Rise-Grundschule, der Ordnung über alles geht, hat einen Hauch von Kränkung in der Stimme bei Fis Andeutung von Unordnung. »Ihr Ehemann hatte um Erlaubnis gebeten, die Jungen für einen Tag aus der Schule zu nehmen, und ich habe zugestimmt. Ihre Abwesenheit ist offiziell genehmigt.«
»Warum?«, schreit Fi. »Warum hat er sie von der Schule genommen? Und warum haben Sie dem zugestimmt?«
»Schüler werden aus allen möglichen Gründen von der Schule befreit. In diesem Fall hatte es etwas mit der Abholsituation zu tun, die sich als schwierig herausstellte, da keiner von Ihnen heute in London ist.«
Keiner von ihnen? Bram sollte hier sein, in diesem Haus, zwei Straßen entfernt von der Schule! »Nein, nein, das stimmt nicht. Ich war weg, aber Bram hat zu Hause gearbeitet.«
In dem Haus, das weiterhin mit den Habseligkeiten einer Fremden gefüllt wird.
»Ist es möglich, dass Sie irgendwie mit den Daten durcheinandergekommen sind?«, schlägt Mrs Bottomley vor. »Als ich vor ein paar Tagen mit Ihrem Ehemann gesprochen habe, hatte ich den Eindruck, Sie wüssten von der Sache.«
»Ich wusste nichts. Nichts! « Ihren Worten folgt ein grässliches animalisches Jaulen, und erst als Lucy ihr das Handy aus der Hand nimmt, erkennt Fi, dass sie zu hysterisch ist, um das Gespräch fortzuführen.
»Hallo?«, sagt Lucy. »Hier spricht eine Bekannte von Mrs Lawson. Natürlich, ja, wir kümmern uns darum und versuchen herauszufinden, wo der Vater der Jungen verblieben ist. Ich bin sicher, es ist nichts weiter als ein dummes Missverständnis, und den Kindern geht es gut. Mrs Lawson steht gerade etwas unter Schock. Ja, wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir sie ausfindig gemacht haben.«
Als das Telefonat beendet ist, versucht Fi, ihr Handy wieder an sich zu reißen, aber Lucy entzieht es ihr. »Wäre es nicht besser, wenn ich für Sie Ihren Mann anrufe?«, fragt sie mit sanfter Stimme.
»Nein, wäre es nicht. Das geht Sie überhaupt nichts an«, faucht Fi. »Sie sollten überhaupt nicht hier sein! Geben Sie mir mein Handy und verschwinden Sie aus meinem Haus!«
»Ich finde wirklich, Sie sollten sich hinsetzen und tief durchatmen.« Als Lucy einen Stuhl am Küchentisch für sie herauszieht, wirkt es wie ein Patienten-Krankenschwester-Verhältnis. »Ich mache Ihnen eine Tasse Tee.«
»Ich will keinen Tee, verdammt noch mal!« Das Telefon wieder in Händen, versucht Fi es erneut bei Bram – Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht erreichbar –, bevor sie es mit dem Display nach unten auf den Tisch legt. Etwas Schreckliches passiert gerade, denkt sie. Weiß sie. Spürt es tief in ihren Knochen. Diese Verwirrung mit dem Haus, diese dreiste Lucy, das ist alles nur ein kleiner Teil vom Ganzen: Etwas ist Bram und den Jungen zugestoßen. Etwas wirklich Schlimmes.
Und in diesem Augenblick wird ihr Albtraum zu etwas so Angsteinflößendem, dass es keinen Namen dafür gibt.
Längst hasst er das Zimmer. Hasst das Hotel. Hasst, was auch immer er von dieser Stadt gesehen und gehört hat. Ein Flugzeug nähert sich kreischend aus östlicher Richtung, ohrenbetäubender als die anderen, und er macht sich auf gesprungenes Glas gefasst. Vielleicht braucht es genau das, denkt er, um seine eigene Katastrophe winzig erscheinen zu lassen. Etwas – buchstäblich – so welterschütterndes wie ein Flugzeugunglück.
Es ist heute nicht das erste Mal, dass ihm dieser Gedanke kommt. Als sein eigenes Flugzeug am Morgen zum Landeanflug ansetzte, überkam ihn das unverhohlene Gefühl, dass es egal wäre, ob das Fahrgestell nicht ausfährt, ob der Bauch der Maschine auf dem Rollfeld aufgeschlitzt wird und ihn aus ihrer Wunde ausspuckt. Es hätte ihn nicht gestört, auf diese Art zu sterben. Abscheulich angesichts der zweihundert Mitreisenden, die er mit sich in den Tod reißen würde, betete er geradezu darum.
Natürlich war das Flugzeug geschmeidig gelandet, und sein Körper war der einzige, der vor unerträglicher Qual gekrümmt war. Er allein flehte die Götter um eine Schicksalswende an, die niemals gewährt werden würde.
Er hätte doch wissen müssen, dass eine Flucht nur ein Gefängnis mit einem anderen Namen war.