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»Fionas Geschichte« > 01:19:13

Alison schrieb mir am Mittwochmorgen eine Nachricht, die sie sich vermutlich gut überlegt hatte:

Ich zögerte nicht.

Ich wartete auf das Messer, das sich durch meine Rippe bohren würde, doch es kam nicht, oder zumindest traf es auf Knochen und prallte ab.

Ich dachte an den Mann im La Mouette.

So wie ich Alison normalerweise sah, einem Kind Rotze von der Nase wischend oder einem Hund antibiotische Tropfen in die Ohren träufelnd, konnte ich leicht vergessen, wie klug sie war. Ihr Master in Geschichte in Durham, ihre drei Tage die Woche als Dozentin.

Alison war eine gute Freundin. Die beste. Wenn ich jetzt über meine Situation nachdenke, erkenne ich, dass ich ohne sie nicht überlebt hätte. Ohne sie und Merle.

Bram, Word-Dokument

Am Morgen, nachdem wir noch einmal Sex hatten, schlüpfte Wendy rasch in ihre Kleidung und nahm mein Angebot auf einen Kaffee an. Sie trank ihn im Stehen, ihr Handy in der anderen Hand – ich ging davon aus, dass sie den Fahrplan checkte. Dies nährte meine Hoffnung, sie würde vor mir das Haus verlassen und so jegliche unangenehme Situation auf ein Minimum reduzieren, dass wir gemeinsam durch Alder Rise spazierten oder sogar zufällig Fi am Bahnhof begegneten. Sie und ich nahmen nämlich auf gegenüberliegenden Bahnsteigen den Zug, und ich konnte mir ihr Gesicht lebhaft vorstellen, wenn sie diese Frau jenseits der Gleise sah, die sich flüsternd und kichernd an mich drückte, unsere Intimität offen zur Schau stellte.

Ich rief mir in Erinnerung, dass ich ein freier Mensch war, genauso, wie ich Rog gesagt hatte.

Frei, solange ich nicht über die Sache nachdachte (immer noch die »Sache«, noch nicht wieder das »Grauen«). Während ich dort an der Küchenarbeitsplatte neben Wendy lehnte, traf mich ein Geistesblitz von solcher Schlichtheit, dass ich kaum glauben konnte, dass er mir nicht schon früher gekommen war: Denk einfach nicht darüber nach . Kein Leugnen, sondern vielmehr eine Weigerung. Selektive Amnesie.

»Du siehst auf einmal so glücklich aus«, sagte Wendy amüsiert. Als ich meine benutzte Tasse in die Spüle stellte, fügte sie sehr beiläufig an: »Du hast keine Ahnung, oder?«

»Keine Ahnung wovon?«, fragte ich.

»Dass ich dich gesehen habe.«

»Was, auf dem Markt? Natürlich weiß ich das. Wir haben doch gestern Abend darüber gesprochen, schon vergessen? Wie sich unsere Augen über den selbstgemachten Scotch Eggs getroffen haben.« Ich wunderte mich über meine eigene Heiterkeit.

»Nicht dort«, sagte sie und beobachtete mich eindringlich. »In der Silver Road.«

Mir wurde jäh eiskalt, als wäre ich im Dezember über Bord in den Atlantik gestoßen worden. »Was hast du gerade gesagt?«

»Ich sagte, in der Silver Road.« Ihr Blick über dem Rand ihrer Kaffeetasse war verschlagen und emotionslos. »Ich habe den Unfall gesehen, Bram.«

»Welchen Unfall?« Es war ein echtes Wunder, dass meine Worte immer noch verständlich waren, während sich meine inneren Organe zusammenballten.

»Komm schon, lass den Scheiß. Sie liegen immer noch auf der Intensivstation. Ich bin sicher, du verfolgst die Nachrichten und hast von den polizeilichen Ermittlungen gehört.« Dann, im selben Plauderton, so beiläufig, dass es geradezu bedrohlich klang: »Da war sogar ein Detective, als ich einen kurzen Abstecher ins Krankenhaus gemacht habe, aber ich glaube nicht, dass sie befragt werden konnten. Beide hängen am Beatmungsgerät«, fügte sie hinzu, und die Unaufrichtigkeit in ihrem Stirnrunzeln war offenkundig. Sie grenzte regelrecht an Frohlocken.

Während ich mich nur sehr langsam von dem Schock erholte, klang ich töricht, als ich sie fragte: »Ich dachte, du wohnst in Beckenham?«

»Das tue ich auch. Ich war bei meiner Cousine zu Besuch. Sie wohnt auf halber Höhe der Silver Road. Ihr Wohnzimmerfenster geht direkt zur Straße raus, also hatte ich einen erstklassigen Logenplatz.«

Da war das Gefühl von Piranhas, die in meinen atlantischen Untiefen übereinander herfielen. Nur mit allerletzter Gewalt schaffte ich es, mich nicht zu krümmen und in die Knie zu gehen. »Und du hast angenommen, eine Art Zwischenfall beobachtet zu haben?«

Sie kicherte. »Nette Formulierung. Na schön, ich habe ›angenommen‹, ein schrecklich lautes Beschleunigen gehört zu haben, und habe aus dem Fenster geschaut und ›angenommen‹, zwei Autos gesehen zu haben, die sich ein Rennen liefern, und dann einen Fiat, der in einen geparkten Wagen rast und in ein Haus knallt. Dann habe ich ›angenommen‹, dich in einem Audi habe wegfahren zu sehen. Ein schwarzer A3. Das ganze Nummernschild konnte ich mir nicht merken, aber ich habe die ersten paar Buchstaben.« Sie drehte sich um, um mich von der Seite zu betrachten. »Du bist ein gut aussehender Typ, Bram. Ich bin ziemlich sicher, dass ich dein Profil bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen würde.«

Stille senkte sich zwischen uns, während der ich mich abmühte, meine eigenen Gedanken über das Hämmern meines Herzens zu hören. »Es ist unmöglich, dass du jemanden aus der Ferne, so wie du es eben beschrieben hast, wiedererkennen könntest«, sagte ich schließlich, aber ich saß wirklich und wahrhaftig in der Falle. War sie mir an jenem Abend bis nach Hause gefolgt? Hatte sie sich mein Gesicht eingeprägt, als ich aus dem Auto gestiegen und zur Haustür gehuscht war? Fotos geschossen wie eine Stalkerin? Ganz offensichtlich war unser Treffen im Pub kein Zufall gewesen. Die Freundin in der Engleby Close, bei der sie angeblich gewesen war – existierte die überhaupt? »Deine Cousine in der Silver Road – hat sie es auch beobachtet?«

»Nein, sie war in einem anderen Zimmer. Keine Sorge, ich habe ihr nicht erzählt, dass ich dich gesehen habe.«

Keine Sorge? »Warum bist du im Krankenhaus gewesen?«

»Reines Interesse. Du weißt, wie das ist … man wird regelrecht angezogen.«

So wie es mir ergangen war. »Hast du … Hast du mit dem Detective dort gesprochen?«

Wenn ja, dann hatte es eine Verzögerung bei meiner Verhaftung gegeben, höchstwahrscheinlich weil der Wagen auf die Trinity Avenue zugelassen war. Die Polizei hatte vielleicht dort geklingelt, als niemand zu Hause war. Auf einmal hatte ich das sehr deutliche Bild vor Augen, wie ich floh, die Wohnung jetzt sofort überstürzt verließ und nach Heathrow hastete.

Als sie den Kopf schüttelte, entspannte ich mich einen kurzen Moment und beschwor den alten Draufgänger Bram herauf. »Nun, Wendy, dann hört es sich für mich so an, als hätten wir uns desselben Vergehens schuldig gemacht. Keiner von uns hat etwas zur Anzeige gebracht, von dem wir wissen, dass wir es wohl lieber hätten tun sollen.«

Unvermittelt wurden ihre Gesichtszüge härter. »Oh, ich glaube nicht, dass wir uns desselben Vergehens schuldig gemacht haben, Bram. Es war nicht mein gefährliches Rasen, aufgrund dessen zwei Menschen auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen sind.«

Ihre Worte prasselten so brutal wie ein Steinschlag auf mich herab, und dennoch war sie sehr gelassen, fast schon unnatürlich ruhig. Wenn sie wirklich glaubte, ich wäre zu einem Amoklauf wie eben beschrieben fähig, warum fürchtete sie sich dann nicht, ich könnte mich hier auf sie stürzen? Sie muss jemandem die Adresse geschrieben haben, dachte ich.

Ich spürte, wie wilde, immer brennendere Wut meine Angst ersetzte, einen gefährlichen Anstieg meiner Körpertemperatur. »Da du dir so sicher zu sein scheinst, was passiert ist, warum suchst du dann nicht den anderen Fahrer, den Scheißkerl, der den Unfall wirklich verursacht hat?«

»Oh, jetzt mach mal halblang«, erwiderte sie. »Du warst derjenige auf der falschen Straßenseite.«

»Nur weil er mich nicht wieder hinter sich hat einscheren lassen! Wäre der Fiat nicht ausgewichen, dann wären wir frontal zusammengeprallt und jetzt alle tot!«

»Du hättest ihn nicht überholen sollen. Du bist mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, als du an ihm vorbeiziehen wolltest – das kannst du nicht abstreiten.«

Ich schwieg.

»Du hast den Unfall also verursacht? Komm schon, Bram. Ich habe es gesehen.«

»Natürlich habe ich das, verdammt noch mal! Ich habe dir aber gesagt, dass ich keine Wahl hatte. Seinet wegen.« Es war ein Schuldeingeständnis, und ich beeilte mich, es mit einem Anflug überzogener Aggression zu kaschieren: »Ich würde gern wissen, warum du ihn nicht suchst und mit diesem Scheiß überfällst, zehn Minuten nachdem du aus seinem Bett gestiegen bist?«

»Vielleicht werde ich das noch tun«, erwiderte sie in aller Liebenswürdigkeit und stellte ihre Kaffeetasse ab.

Werde , fiel mir auf, nicht schon getan . Es war schön und gut, die Behauptung aufzustellen, dass der Toyotafahrer und ich gleichermaßen schuldig sind, aber ich war derjenige, dessen Auto in den Zeitungsberichten mehr oder weniger identifiziert worden war.

Es war offensichtlich, dass sie mich auf einen Erpressungsversuch vorbereitete.

Sie trat um mich herum und griff nach ihrer Jacke, ein billiges Jeansteil, das sie nachts zuvor auf einen Sessel geschleudert hatte. Ich erinnerte mich an das schmerzhafte Saugen ihres Mundes auf meinem. »Deshalb dachte ich, wir kämen vielleicht ins Geschäft«, sagte sie.

Genau wie ich vermutet hatte. »Nun, es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Wendy, aber ich habe kein Geld, mit dem ich Geschäfte machen könnte. Im Ernst, ich bin pleite. Ich kann dir meinen letzten Kontoauszug zeigen, wenn du willst.«

Sie schüttelte den Kopf, ein grimmiges Lächeln auf den Lippen. »Komm schon … du besitzt dieses große Haus in der Trinity Avenue.«

Da erinnerte ich mich, wie sie mich am Vorabend in die Richtung gezogen hatte. Sie musste mir am Tag des Unfalls gefolgt sein. Ich hatte es nicht hinterfragt, sondern nur daran gedacht, sie ins Bett zu bekommen. In dem Glauben, sie sei genau die richtige, unverbindliche Gesellschaft, die ich in dieser Nacht bräuchte.

Ungerührt fuhr sie fort: »Und du kannst dir auch noch diese Wohnung leisten. Das sind zwei Immobilien in dieser Luxusgegend. Du bist ganz sicher flüssig.«

»Bin ich nicht, das musst du mir glauben. Ich lebe in Scheidung.« Was streng genommen nicht stimmte – noch nicht –, aber spielte das eine Rolle?

»Selbst wenn.« In einer plötzlichen Bewegung legte sie ihre warmen Finger auf mein Handgelenk, und ich zuckte erschrocken zusammen.

»Fass mich nicht an!«

»Hey, sei doch nicht so!« Sie zog ihre Hand zurück, strich sich stattdessen die Haare glatt und berührte ihren Mund, als hätte sie alle Zeit der Welt, um meinen Launen mit Nachsicht zu begegnen. »Da wir eine Weile miteinander zu tun haben werden, könnten wir doch auch ein wenig Spaß dabei haben. Ich habe die letzte Nacht wirklich genossen. Ich dachte, du auch.«

Ich war sprachlos. Wenn sie es von Anfang an allein auf Geld abgesehen hatte, verstand ich nicht, warum sie mit mir hatte schlafen müssen. Es gab keinen Grund, mich in eine Sexfalle zu locken, sie hätte mir ihre feige Nachricht genauso gut im Pub überbringen können. »Ich will, dass du jetzt verschwindest, Wendy. Ist das überhaupt dein richtiger Name?«

»Wow, du bist vielleicht paranoid!«

»Wie ist der Name der Firma, für die du arbeitest? Du meintest, es sei eine Gebäudereinigung? In welcher Abteilung bist du?«

»Warum?« Sie lachte. »Willst du dich bei meinem Chef beschweren?«

Sie wusste ganz genau, dass ich mich bei niemandem beschweren konnte. Ich konnte keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen über diese dreckige kleine Episode erzählen.

»Wirst du ihm sagen, dass ich ein Verbrechen nicht angezeigt habe?«, verhöhnte sie mich. »Vielleicht habe ich erst erkannt, wie ernst die Sache ist, als ich in der Zeitung davon gelesen habe? Vielleicht ist meine Erinnerung an die Fahrerflucht erst wieder geweckt worden, als ich dich vergangene Nacht im Pub gesehen habe?«

»Es war keine Fahrerflucht«, fauchte ich.

»So gut wie. Oder besser gesagt, so schlimm

»Nein, es war ein Unfall, das ist alles.«

Das ist alles . Die Worte erschreckten uns beide, und es folgte eine Pause, ein Moment ungeteilter Ehrlichkeit, vielleicht sogar Schmach.

»Wer auch immer du bist«, sagte ich, »und was auch immer du irrtümlich glaubst gesehen zu haben, du hast den falschen Mann. Nimm bitte nie wieder Kontakt zu mir auf.«

Jegliches Selbstvertrauen, das ich aus dieser mitreißenden, kleinen Rede gewonnen oder zum Ausdruck gebracht hatte, währte nicht lang, denn der Blick, den sie mir im Gehen zuwarf, war voll übertriebenem Bedauern. »Tut mir leid, Bram, so einfach kommst du aus der Nummer nicht raus.«