Die folgenden vierundzwanzig Stunden hörte ich nichts von Wendy, und ich fragte mich, ob ich mir das, was sie gesagt hatte, vielleicht nur eingebildet hatte. Was ich gesagt hatte. Vielleicht war sie gegangen, bevor ich aufgewacht war, und ich hatte dieses Gespräch an der Küchenzeile mit einer Geistererscheinung geführt – Gott weiß, dass zwischen Macbeth und mir zahllose Menschen vor Schuldgefühlen derart in den Wahnsinn getrieben worden waren, dass sie ihrem Gewissen eine Stimme verliehen und sie fälschlicherweise für Vergeltung hielten.
Noch besser: Vielleicht hatte ich sie gar nie kennengelernt – sie existierte überhaupt nicht! Aber nein, das war natürlich nichts als ein frommer Wunsch. Am Morgen hatte ich eine Textnachricht von Rog mit der Frage: Gute Nacht gehabt ? erhalten, zusammen mit dem »Du Glückspilz«-Subtext eines zwinkernden Emojis. Zweifellos hatte er Alison erzählt, dass ich eine Frau aufgerissen hatte. Und die hatte es definitiv gleich Fi gesteckt. Aber Fi war ausnahmsweise einmal das kleinste meiner Probleme.
Nichts passiert , schrieb ich zurück. Ohne Emoji.
Ich machte einen großen Bogen um das Auto – inzwischen konnte ich es nicht einmal mehr ansehen –, und als ich den Zug zur Arbeit und wieder nach Hause nahm, beschimpfte ich mich im Stillen wüst, am Morgen des Teambuilding-Events nicht auf dem Bahnsteig geblieben zu sein und die bittere Pille der Zugverspätung in Kauf genommen zu haben. Was wäre ein Zuspätkommen, selbst ein Nichterscheinen oder Jobverlust, im Vergleich zu diesem infernalischen Elend?
Dann, am Freitagabend, kam eine Textnachricht von ihr. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich ihr meine Handynummer gegeben hatte, aber anscheinend war dem so. Andererseits war es auch nicht schwer, sie sich zu beschaffen, entweder indem sie in meinem Büro angerufen oder bei mir herumgeschnüffelt hatte, während ich schlief. Die Nachricht war ein Link zu einem Zeitungsbericht auf einer Croydoner Nachrichtenwebsite:
Belohnung für Hinweise auf den Unfallfahrer in der Silver Road
Eine Belohnung von £ 10.000 wurde vom Ehemann des Silver-Road-Unfallopfers für sachdienliche Informationen ausgesetzt. Seine zweiundvierzigjährige Frau erholt sich derzeit von den lebensbedrohlichen Verletzungen, die sie bei dem Unfall am Freitag, dem 16. September, erlitten hat. Die zehnjährige Tochter wurde ebenfalls schwer verletzt.
Die Polizei arbeitet auf Hochtouren daran, den Unfallverursacher zu identifizieren, und hofft auf Hinweise von Autofahrern oder Fußgängern, die sich gegen 18 Uhr, dem Zeitpunkt des Unfalls, in der Gegend aufgehalten haben.
Ein Sprecher der Opferfamilie sagte: »Zwei Unschuldige mussten aufgrund einer kaltblütigen und feigen Tat schreckliche Verletzungen erleiden. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um der Polizei zu helfen, diesen Verbrecher zu finden.«
Eine Belohnung von zehntausend Pfund. O Gott. Da war ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.
Oder – genehmige dir ein Bier, eine Zigarette, denk nach – war es möglich, dass die Ankündigung einer Belohnung eine nützliche Entwicklung war? Würde sie nicht unzuverlässige Zeugen und Scharlatane auf die Bildfläche locken, die beide kostbare Zeit der Polizei vergeudeten?
Als ich den Artikel ein zweites Mal las und jedes einzelne Wort nach einer neuen Bedeutung absuchte, drehte sich mir auf einmal der Magen. Es war nicht das Geld – eine Summe, angesichts der Wendy gewiss erwartete, dass ihre Vergütung durch mich viel höher ausfallen würde –, sondern ein kleines Wort, das sich im ersten Absatz versteckt hatte.
»Erholt sich.«
Es klang, als sei die Fahrerin des Fiats bei Bewusstsein und auf dem Weg der Besserung. Es klang, als sei ihr Zustand jetzt stabil genug, dass sie von der Polizei befragt werden konnte.
Ich antwortete Wendy nicht. Ich hätte ihr auch nicht geantwortet, wenn meine Hände nicht völlig unkontrolliert gezittert hätten.
Na gut, es dauerte nur ein paar Tage, bis der Typ vom La Mouette sich bei mir meldete und mich für den nächsten Freitag auf einen Drink einlud. Ich schlug eine Bar in Balham vor, die einen Katzensprung von uns beiden entfernt war, aber weit genug von meiner Nachbarschaft, um Tratsch zu vermeiden. Nicht, dass Bram sich darüber den Kopf zerbrochen hätte, wo er schamlos jemanden in der beliebtesten Bar in Alder Rise abgeschleppt hatte. Aber an mich legte ich andere Maßstäbe an.
Ja, es war überraschend einfach, wieder ins Spiel zu kommen. Toby hatte eine unglaublich angenehme Art. Ich erzählte ihm von meinem Job in der Möbelbranche, und er sprach über seine Arbeit als Datenanalyst für eine vom Verkehrsministerium beauftragte Expertenkommission.
»Es ist keine Studie über unverbesserliche Raser, oder?«, lachte ich. »Wenn ja, dann solltest du vielleicht meinen Exmann interviewen. Er hatte in den letzten eineinhalb Jahren drei Strafzettel.«
Toby grinste mich an. »Wir sind genau am Gegenteil interessiert: Warum das durchschnittliche Tempo bei einer Fahrt durch die Londoner Innenstadt so dramatisch gesunken ist. Wusstest du, dass es jetzt schon in Richtung acht Meilen die Stunde geht? Alle sind sich einig, dass die City-Maut keine Wirkung mehr zeigt, weshalb wir mit einem großen Ingenieurbüro zusammenarbeiten, um eine neue Strategie zu finden.«
»Es liegt wohl an all den weißen Lieferwagen, oder?« Aus der Arbeit wusste ich, dass die Menschen selbst für die billigsten, kleinsten Dinge eine Lieferung am selben oder spätestens nächsten Tag erwarten.
»Teilweise.« Er beschrieb die Beobachtungen, die sein Team über Lastkraftwagen und Taxis, Radwege und Bauprojekte zusammentrug, bevor er sich dafür entschuldigte, mich zu langweilen. »Manchmal glaube ich, Gespräche über die Arbeit sollten gesetzlich verboten werden.«
Ich hob mein Weinglas. »Darauf stoße ich an.« Es stimmte, ich war nicht auf der Suche nach jemandem, mit dem ich meine Arbeitssorgen besprechen wollte. Ich war nicht auf der Suche nach jemandem, mit ich mein Leben verbringen wollte. Dies hier war körperliche Anziehung, das lebhafte Gespräch war ein wunderbarer Pluspunkt. »Mich interessiert nur eins: Ich stehe nicht unter Beobachtung, oder?«
»Nein«, sagte er. »Zumindest nicht so, wie du meinst.«
In dieser Nacht schliefen wir miteinander. Meine Wohnung lag näher als seine, deshalb war es nur natürlich, dass unsere Wahl darauf fiel. Außerdem bin ich nicht vollkommen unvernünftig, ich würde niemals in die Wohnung eines Fremden mitgehen.
»Ich mag dich wirklich, Fi«, sagte er, bevor er nach Hause ging. »Das sollten wir wiederholen.«
»Okay«, erwiderte ich. Vielleicht vereinfache ich die Sache jetzt, aber ganz ehrlich, es war wirklich so unkompliziert. »Ich rufe dich an«, sagte ich zu ihm, denn auf gar keinen Fall wollte ich zurück in die passive Rolle aus meinen Zwanzigern verfallen. Ich würde die Zügel in die Hand nehmen, wenn es denn welche gibt, und ich würde entscheiden, ob dem so war. Womit ich mich sofort wieder als altmodisch outete, wie Polly aufzeigte, als wir das nächste Mal telefonierten.
»›Schwer zu kriegen‹ ist als Konzept längst out . Jeder ist leicht zu haben.«
»Wie sieht das Protokoll dann aus?«, fragte ich.
»Das Protokoll lautet, dass es kein Protokoll gibt. Du musst in deinen Kopf bekommen, dass es nicht mehr so wie damals ist, als du und Bram ausgegangen seid. Das waren unschuldige Zeiten. Die Menschen gehen jetzt anders miteinander um.«
»Okay«, sagte ich, »weil es damals keine Telekommunikation gab, nur Brieftauben und berittene Kuriere.«
»Sie war nicht existent – zumindest nicht so, dass du irgendwelche nützlichen Informationen herausbekommen hättest. Apropos, ich an deiner Stelle würde Bram nicht von deinem Stauexperten erzählen. Wenn er glaubt, du wärst an jemand Neuem interessiert, wird er wieder anfangen, dich zu umgarnen.«
»Dafür ist es zu spät.« Kurz darauf beendete ich das Gespräch. Mit einem weiteren Rufmord an Bram wäre nichts gewonnen. Er war der Vater meiner Kinder, und deshalb würde ich ihn, wie es das Klischee will, immer respektieren. Aus diesem Grund müsste ich auch seine Tauglichkeit in Bezug auf diese Aufgabe im Auge behalten. Auf meinem Heimweg vom Bahnhof hatte ich ihn ein oder zwei Abende zuvor allein am geschlossenen Parktor gesehen – ein blauer Rauchfaden stieg von einer Zigarette in seiner Hand hoch –, und ich war tief getroffen. Es war nicht so sehr das Rauchen, sondern die Einsamkeit, die Art, wie er dastand: hilflos, verunsichert, als wäre er von der anschwellenden Flut überrascht worden.
Herzen haben ein motorisches Gedächtnis, genau wie jeder andere Muskel, und ich muss gestehen, dass sich meines bei Brams Anblick schmerzhaft zusammenzog.
Ich rief Alison an. »Könntest du mir einen Gefallen tun? Falls du dieses Wochenende Zeit hast, schau doch bitte bei uns vorbei, ja? Geh mit Bram und den Jungs in den Park oder lad dich auf eine Tasse Tee ein. Finde raus, ob bei ihm alles in Ordnung ist – ich meine nicht wegen dieser Frau, von der du mir erzählt hast, nur ganz allgemein. Er scheint ein bisschen down zu sein. Ich muss wissen, dass er um der Jungs willen den Kopf nicht hängen lässt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das immer noch richtig beurteilen kann.«
»Ich kümmere mich drum«, sagte Alison.
#OpferFiona
@natashaBwrite: Sie ist ganz schön passiv-aggressiv zu ihrem Ex – ihre Freundin zu bitten, ihn an ihrer Stelle zu fragen!
@jesswhitehall68 @natashaBwrite: Bin mir auch nicht sicher, ob ich dieser Alison über den Weg traue.
@richieschambers @jesswhitehall68 @natashaBwrite: Kann der Romeo bitte etwas wegen dem neuen Verkehrssystem in Elephant & Castle tun? #Todesfalle