Am Samstagnachmittag klingelte es an der Haustür, und vom Flur aus sah ich durch das Buntglasfenster zwei hochgewachsene, dunkel gekleidete Gestalten. Das war’s , dachte ich, und Angst peitschte so heftig durch mich hindurch, dass ich das Gleichgewicht verlor, als ich die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, und ungelenk gegen den Türrahmen knallte. Ich war nicht bereit, zu erklären, zu verstehen, zu büßen. Ich war ein nervliches Wrack.
»Bram, was machst du denn für ein Gesicht! Wen hast du denn erwartet? Einen Auftragskiller der Mafia?« Alison und Roger lachten gackernd über meinen Gesichtsausdruck. »Wir haben uns gefragt, ob du und die Jungs heute mit zur Hundeschau in den Park kommen wollt?«
Da ich starr war vor Erleichterung, kam meine Antwort mit Verzögerung. »Oh, okay. Ist die heute?«
»Ja. Rocky ist in der Kategorie ›Hübschester Hund‹. Komm schon … das darf man nicht verpassen!«
Früher hätte mich die Aussicht, dem arthritischen Labrador der Osbornes zuzusehen, wie er auf der Bühne herumtorkelt und, ohne Medaille, den Rückzug in die Arme einer Meute heulender Kinder antritt, nicht gerade vom Hocker gehauen, doch dieses Mal nahm ich das Angebot dankbar an und rief Leo und Harry zu, Jacken und Turnschuhe anzuziehen. Käme die Polizei am Wochenende überhaupt zu Leuten nach Hause? Nun, wenn sie es täten, würden sie mich nicht antreffen, und ich hätte mir eine weitere Nacht, einen weiteren Tag mit meinen Jungen erschlichen.
Auf der Straße musste ich das Gesicht abwenden und mich bewusst sammeln, bevor ich mich auf meine Begleiter einlassen konnte. Neben ihrer sorglosen Gemütsverfassung, ihrer schlichten Freude an Hunden , fühlte ich mich wie ein Marsmensch.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Alison auf dem kurzen Spaziergang, während die Kinder vor uns her tobten. »Du siehst ein bisschen gestresst aus.«
»Mir geht’s gut. Habe in der Arbeit nur viel um die Ohren«, erwiderte ich.
»Nun, denk an etwas anderes. Das ist le weekend … und die hübschesten Weibchen von ganz Alder Rise warten auf uns.«
Ebenso wie ein Menschengewühl, das Woodstock in nichts nachstand. Ein bekannter Schauspieler war in unsere Gegend gezogen, erklärte Alison, und nun einer der Juroren. Rog war beim Tierarzt mit ihm ins Gespräch gekommen, und jetzt hegte sie die Hoffnung, sich privat mit ihm anzufreunden. Durch das Gedränge konnte ich ihn nicht ausmachen, während sonst jeder, dem ich jemals in meinem Leben begegnet war, anwesend zu sein schien: die gesamte Trinity Avenue, bekannte Gesichter aus der Schule der Jungen, aus dem Pub, selbst vom Bahnsteig. Für die Jahreszeit war es wieder viel zu warm, die Luft eine widerliche Suppe aus Hundeatem und dem Frittierfett eines fahrenden Churros-Stands. Auf der Bühne wurden Welpen zur Schau gestellt, und während das Publikum nach vorne drängte, ließ ich mich leicht zurückfallen, Harrys Hand in meiner, als hätte ich jäh eine Phobie gegen Menschenmengen entwickelt. Der Schmerz, der das Verlangen nach einem Drink in mir auslöste, kam einer Blinddarmentzündung gleich.
»Hallo, Bram«, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich erkannte sie nicht. In Erwartung eines weiteren Gesichts aus der Nachbarschaft bereitete ich mich auf die freundschaftlichen Sticheleien und das Schulterklopfen vor, das von einem hiesigen Dad erwartet wurde, und dennoch reagierte mein Körper, noch während ich mich umdrehte, anders. Haut, Muskeln, innere Organe: Sie alle schrumpften zusammen, als wollten sie sich vor einem brutalen Angriff schützen.
Es war er . Der Toyotafahrer. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nur ein paar flüchtige Blicke auf sein Profil ergattert, aber es gab keinen Zweifel – ich erkannte sein kantiges Gesicht, die markante Nase und die eng anliegenden Ohren, die kurz geschorenen Haare. Seine Augen waren von undefinierbarer Farbe, und dennoch war die Energie, die sie ausströmten, schneidend, fast habgierig.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich.
Er schob die Unterlippe vor, ein mimisches Schulterzucken. »Wie ich gehört habe, hatten Sie Besuch von einer gemeinsamen Freundin.«
»Was?«
»Sie haben mich schon richtig verstanden.«
»Daddy? Ich kann nichts sehen!« Über dem Brüllen des Moderators beschwerte sich Harry, dass wir uns näher ans Podium vordrängeln sollten. Leo hatte ich längst aus den Augen verloren.
»Sie warten hier … ja?« Ich hob den Zeigefinger in Richtung von Totenkopfgesicht – eine Minute – und steuerte Harry näher zu den Osbornes. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Leo in Reichweite war, bat ich Alison, beide fünf Minuten im Auge zu behalten.
»Hier entlang.« Ich führte Totenkopfgesicht um den ausgefransten Rand der Menschenmenge zu dem Café und blieb an der hinteren Tür zu den Toiletten stehen.
Beim Schild fürs Herrenklo rollte er mit den Augen. »Interessanter Ort, den Sie ausgesucht haben, Bram. Hätte nicht gedacht, dass Sie einer von der Sorte sind.«
Er war durch und durch das Ekelpaket, für das ich ihn gehalten hatte, wobei ich darum gebetet hatte, es niemals herausfinden zu müssen.
»Was tun Sie hier?«, fragte ich. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Er hob die Schultern, genervt von meinen Fragen. »Ich habe von Ihrem Besuch gesprochen. Am Dienstagabend, nicht wahr?«
»Wenn Sie Wendy meinen, dann ja, wir sind uns über den Weg gelaufen.«
Du hast keine Ahnung, oder?
Sei doch nicht so …
»Sie hat Ihnen erzählt, dass sie gesehen hat, was passiert ist?« In seiner Stimme lag ein Hauch von Frohlocken. Er genoss das hier, dieser sadistische Dreckskerl, die Macht, mir in meiner Nachbarschaft aufzulauern, wo ich mich in Sicherheit gewiegt hatte. Woher wusste er, dass ich in Alder Rise wohnte? Höchstwahrscheinlich von Wendy. Hatte er in meiner Straße auf der Lauer gelegen, oder war er einfach am Bahnhof aufgetaucht und der Menschenmenge gefolgt?
Ich funkelte ihn an. »Offensichtlich, und da sie an dem Abend nicht uns beiden gefolgt sein kann, muss sie sich unsere Autonummern aufgeschrieben haben. Fragen Sie mich nicht, wie sie es geschafft hat, dadurch an unsere Personalien zu kommen, denn ich habe nicht den blassesten Schimmer.«
»Ein Kinderspiel, wenn man bereit ist, das nötige Geld auf den Tisch zu blättern«, sagte er verächtlich. »Für solche Informationen kann man online bezahlen.«
»Wirklich?«
»Ja. Noch nie vom Darknet gehört, Bram? Ich hätte angenommen, es könnte sich in solch schwierigen Zeiten für Sie als recht nützlich erweisen.«
Babygeschrei setzte ein, hallte von den Mauern auf der Rückseite der Häuser in der Alder Rise Road wider und schwoll zu diesem Befehlston an, der so überhaupt nicht zu den winzigen Körpern von Säuglingen passte. Harry war genauso gewesen: Vor Wut plärrend, wenn es Fi oder mir nicht gelang, schnell genug aufzutauchen.
»Sie will offensichtlich Geld«, sagte ich mit leiser Stimme, als ein Gast an uns vorbeiging und uns neugierig beäugte. »Mehr als 10.000 Pfund, denke ich.« Es war eine absurde Summe, jetzt, wo ich es laut aussprach. Diese ganze Situation konnte nicht real sein. »Ich habe ihr gesagt, wohin sie sich verziehen soll, und ich schlage vor, Sie tun dasselbe.« Mir fiel auf, dass ich immer barscher sprach und Konsonanten verwischte, eine Reaktion auf sein brutales Auftreten.
Ob nun unbeeindruckt von dem Inhalt oder der Vortragsweise, lauschte er mit unverhohlenem Spott. »Oh, das glaube ich nicht. Im Grunde vertrete ich einen kooperativeren Standpunkt.«
»Wovon zum Teufel reden Sie da?«
»Sie wird nicht weggehen, Bram, und je früher Sie der Tatsache ins Auge sehen, desto besser. Es wäre sinnvoller, wenn wir zusammenhalten.«
Ein warnender Puls begann in meinem Hals zu pochen. »Ich halte mit niemandem zusammen«, sagte ich. »Sie können tun, was immer Sie wollen, um sie davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen, aber ich lasse mich in nichts hineinziehen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das funktionieren wird.« Es folgte eine Pause. Zähneknirschen, erbittertes Starren. Applaus erhob sich von der fernen Bühne und ebbte wieder ab, dann sagte der Kerl in die jähe Stille: »Wir wissen von dem Fahrverbot.«
»Was?«
»Ihr Führerscheinentzug. An jenem Tag hatten Sie erst sieben Monate Ihres zwölfmonatigen Fahrverbots hinter sich, nicht wahr? Ein bisschen zu übereifrig, wieder zurück auf die Straße zu kommen, hm?«
»Aber wie …?« Ich schnappte nach Luft, unfähig, die Frage zu beenden. Woher um alles in der Welt konnte er den Status meines Führerscheins kennen? Arbeitete er für die Führerscheinstelle? Oder für die Polizei? Oder war es so, wie er eben gesagt hatte – man konnte alles online herausfinden, wenn man bereit war, dafür zu bezahlen? »Vergessen Sie’s. Ich habe kein Interesse daran, das zu besprechen«, sagte ich. »Ich muss jetzt zurück.«
Da verdrehte er tatsächlich die Augen. »Wissen Sie was? Ich habe keine Zeit für Ihr Leugnen. Sie sollten sich ein bisschen klarer machen, in was für Schwierigkeiten Sie hier stecken.« Als die Verkündung eines Gewinners und tosender Applaus die Luft erfüllten, griff er in seine Tasche und zog ein Handy heraus. »Wenn Sie allein sind, werfen Sie einen Blick auf das hier und setzen sich dann mit mir in Verbindung. Benutzen Sie nicht Ihr eigenes Handy, ja?«
»Falsch. Ich schaue mir überhaupt nichts an.« Aber der Versuch, den angebotenen Gegenstand, ein schmutziges altes Samsung-Handy, nicht anzunehmen, erwies sich als schwierig, wollte ich nicht in ein Handgemenge verwickelt werden und die Aufmerksamkeit auf uns ziehen, und am Ende steckte ich es ein, jedoch nicht, ohne ihm finstere Blicke zuzuwerfen.
»Nicht wegwerfen«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Was dort drauf ist, werden Sie garantiert sehen wollen.«
»Ich muss los«, sagte ich und versuchte, mich an ihm vorbeizudrängeln.
Er trat beiseite. »Natürlich. Gehen Sie lieber wieder zu Ihren Kindern. Man weiß nie, welches Gesindel sich hier herumdrückt.«
Als Alison anrief, konnte sie mir nur wenig über Brams psychische Verfassung berichten.
»Er war ein bisschen ruhig, aber nicht komisch. Oh, ganz am Anfang ist er eine Weile verschwunden, aber es hat schreckliches Chaos geherrscht, überall Hunde und Kinder, also kann es auch sein, dass er uns einfach nicht gefunden hat.«
Ich runzelte die Stirn. »Verschwunden?« Unvermittelt drängte sich mir eine Rückblende auf, vom leeren Haus, der geöffneten Weinflasche, dem beschlagenen Fenster des Spielhauses.
»Es war keine große Sache. Leo und Harry waren die ganze Zeit bei mir.«
Ich hob die Augenbrauen und stellte mir Alison vor, die dasselbe Verhalten an den Tag legte: Es gab keinen Vater in Alder Rise, der das Angebot einer Frau ablehnen würde, ein Auge auf seine Kinder zu haben, während er seine E-Mails checkt oder zockt oder einfach nur ins Leere starrt. Merle sagte einmal: »Warum fällt es Männern so leicht, Hilfe anzunehmen, und uns Frauen so schwer? Wir müssen das umkehren.«
Und das müssten wir wirklich. »Wie lang war er weg?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Vielleicht zwanzig Minuten? Die Welpen waren fertig und die ›Besten Tricks‹ in vollem Gange. Natürlich alles Collies. Ich dachte schon allmählich, er wäre nach Hause gegangen, aber dann ist er wieder aufgetaucht und hat allen Kindern Churros gekauft, was sehr süß von ihm war.«
»Wahrscheinlich ist er auf ein Pint ins Pub geschlüpft.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Hat er nach Alkohol gerochen? Oh, antworte nicht … das geht mich nichts an. Es tut mir leid, Al … Ich will dich nicht wie eine Privatdetektivin ausnutzen.«
»Nur zu. Ich finde das lustig.«
»Wie hat sich Rocky geschlagen? War er wieder bei ›Schönster wedelnder Schwanz‹?«
»›Hübschester Hund‹. Und ich kann nicht glauben, dass ich dir die Neuigkeit noch gar nicht erzählt habe: Er wurde Dritter! Es war die letzte Kategorie des Tages, und unser neuer Promi hat die Medaille überreicht!«
»Gut gemacht, Rocky. Meinen Glückwunsch!«
»Im Ernst, es ist das Aufregendste, was dieses Jahr in diesem Haushalt passiert ist«, sagte Alison. »Heute Abend gibt es Champagner, vielleicht sogar etwas eheliche Zweisamkeit.«
Bram war vergessen, und ich brach in schallendes Gelächter aus.
Oh, mein alter Freund Lachen, ich vermisse dich!
Ich wartete, bis die Jungen im Bett waren, bevor ich das Handy anschaltete. Es war kein Modell, mit dem ich vertraut war, offensichtlich mehrere Jahre alt und, obwohl vollständig aufgeladen, dauerte es eine Ewigkeit, bis es hochfuhr und der Startbildschirm angezeigt wurde.
Mich erwartete eine einzige Nachricht von einer Nummer, die ich weder kannte noch der ich einen Namen zuordnen konnte, und sie enthielt einen Link zu einem Zeitungsartikel:
Autofahrern ohne Fahrerlaubnis drohen härtere Gefängnisstrafen
Autofahrer ohne Führerschein, die dennoch fahren und bei einem Unfall andere Verkehrsteilnehmer verletzen oder töten, müssen nun mit einem deutlich höheren Strafmaß als bisher rechnen, nachdem Opferinitiativen jahrelang Kampagnen führten, um ein rechtliches Schlupfloch zu stopfen.
Wenn ein Fahrer ohne Fahrerlaubnis einen schweren Unfall verursacht, erwarten ihn oder sie nun vier Jahre Haft, während sie früher teilweise mit einem Bußgeld davonkamen. Das Höchstmaß für einen Unfall mit Todesfolge wurde von zwei auf zehn Jahre angehoben.
»Autofahrer, denen der Führerschein entzogen wurde, sollten aus gutem Grund nicht auf unseren Straßen sein«, erklärte gestern der Justizminister. »All jene, die sich über ein von einem Gericht auferlegtes Fahrverbot hinwegsetzen und dabei unschuldige Leben zerstören, müssen mit ernsthaften Konsequenzen rechnen.«
Das Hämmern meines Herzens erfüllte meinen Brustkorb, während meine Lunge schmerzhaft versuchte, sich zu füllen. Genau in dem Moment, als ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, kam das Bild an. Es war ein Foto meines schwarzen Audis, mit meinem verschwommenen Kopf hinter der Frontscheibe. Das Nummernschild war selbst bei maximaler Vergrößerung kaum lesbar, aber gewiss zu entziffern auf dem Gerät, das Wendy benutzt hatte. Dank moderner Software wäre es für die Forensiker der Polizei ein Kinderspiel, die Buchstaben und Zahlen oder den Ort, an dem es aufgenommen war, zu identifizieren. Unstrittig war jedoch das Wann : Datum und Zeitpunkt waren auf das Foto gedruckt.
Es war keine große Überraschung, nun, wo ich damit konfrontiert war. Wie der Rest der Welt hatte Wendy ihr Handy in der Hand gehabt, allzeit bereit, etwas Interessantes festzuhalten.
Obwohl mein gesunder Menschenverstand mir riet, einfach nicht zu reagieren, so wie ich es getan hatte, als sie mir geschrieben hatte, befahl eine Art Überlebensinstinkt – oder war es ein Todestrieb? – meinem Finger, eine Antwort zu tippen:
Keine Antwort.
Das wird ihn aus dem Konzept bringen, dachte ich, bis seine nächste Nachricht kam:
Übelkeit stieg in meiner Speiseröhre auf.
Vier Jahre , dachte ich. Und das war nur der Anfang – dieser Dreckskerl wusste nicht mal die Hälfte.
Die Polizei hingegen würde es auf jeden Fall wissen.
Würde Fi die Jungen zum Besuchen bringen? Würde sie zulassen, dass sie mich jemals wiedersehen?
Vier Jahre! Ich würde keine vier Tage überleben.