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Bram, Word-Dokument

Erkennen Sie allmählich, wie entsetzlich es aussieht, wenn man es schwarz auf weiß liest? Wie gefangen ich mich gefühlt habe, wie eingeschüchtert? Das – aufgezeichnete – Schuldeingeständnis für den Unfall in der Silver Road, der Führerscheinentzug, die Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung, ganz zu schweigen von der Verhaftung wegen Drogenbesitzes … Der letzte Punkt war natürlich ein alter Hut, aber was spielte das für eine Rolle? Wie Mike schon gesagt hatte: Es spräche Bände, sollte die Zeit kommen.

Es würde gegen mich sprechen.

Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass dies meine einzigen Straftaten in achtundvierzig Jahren waren, und ich glaube, es gibt sehr wenige Menschen, die nicht zumindest eines meiner Vergehen selbst begangen haben, und bei denen das Gesetz einfach nicht ins Spiel kam. Im Ernst: Haben Sie nie das Tempolimit überschritten? Haben Sie niemals Drogen ausprobiert oder sich mit jemandem vor einem Pub angelegt? Ich habe nicht gefragt, ob Sie bei einem dieser Dinge erwischt worden sind – sondern nur, ob Sie es getan haben.

Nun, ich bin bei all den Dingen erwischt worden. Was bedeutete, dass es, wenn die »große Sache« auf den Tisch käme, keinen Strafverteidiger im Land geben würde, der überzeugend genug sein und geltend machen könnte, dass die Silver Road ein einmaliger Ausrutscher sei. Nicht, wenn mein Vorstrafenregister beweist, dass ich jemand bin, der immer am falschen Ort zur falschen Zeit war.

Und das Falsche tat.

Okay, also der Streit vor dem Pub – der hatte es ziemlich in sich gehabt. Ich habe nicht angefangen , aber ich habe ihn definitiv beendet: Der Typ musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, war wochenlang arbeitsunfähig. Ich hatte Glück, dass das Urteil zur Bewährung ausgesprochen wurde und es mir wie durch ein Wunder gelang, das Gerichtsverfahren vor Fi verheimlichen zu können. Auf die verzwickte Logistik davon werde ich nicht näher eingehen. (Hilfreich war, dass wir gerade das Haus renovierten und die Jungs noch nicht in der Schule waren, weshalb die drei im Haus von Fis Eltern Unterschlupf suchten und mich mir selbst überließen.) Genauso wenig werde ich erklären, was wohl passiert wäre, wenn meine Reue das Gericht nicht überzeugt und ich eingebuchtet worden wäre. (»Fi? Ich rufe dich von einem Münztelefon aus dem Gefängnis an. Ich muss dir etwas erzählen …«)

»Im Gegenzug zu einem Schuldbekenntnis, nicht wahr?«, hatte Mike an jenem Abend in der Wohnung gesagt, sein Blick voyeuristisch, als wäre er in der Lage, in meine Seele zu spähen und meinen Schmerz abzuwägen. Und sein Instinkt war messerscharf – das muss man ihm lassen. Ich hätte mich noch zu viel Schlimmerem schuldig bekannt, wenn es bedeutet hätte, dass ich einer Haftstrafe entging. Ich will nicht behaupten, das Gefängnis wäre eine Phobie, denn das würde es zu etwas Irrationalem machen, das nur in meinem Kopf existiert.

Wo es doch in Wirklichkeit real war. So real, dass ich alles getan, jeden geopfert hätte, um es zu verhindern.

»Fionas Geschichte« > 01:37:11

Ich hoffe wirklich, ich erwecke nicht den Anschein, als habe ich zugelassen, dass mich eine neue Beziehung davon, was im Rückblick direkt vor meinen Augen stattfand, ablenkte. Aber ich bin mir sicher, Sie verstehen, dass es eine aufregende Zeit war. Wir wissen alle, dass der Anfang das Beste ist – wer würde einer Frau das missgönnen? Insbesondere einer, deren unschöne Trennung ihr Herz für alles außer für einen Neubeginn verschlossen hat.

Selbst der Neubeginn war vor einem gewissen Maß an Absonderlichkeit nicht gefeit. Es war vielleicht das dritte Wochenende, nachdem wir zusammengekommen waren, und das erste Mal, dass Toby die ganze Nacht in der Wohnung verbrachte, als mich völlig unerwartet eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion befiel. Als ich ihn beim Erwachen im Bett neben mir vorfand, erkannte ich ihn nur mit Verzögerung wieder, ebenso wie ich das Bett und die vier Wände um uns herum nur mit Verzögerung wiedererkannte. Warum bin ich nicht zu Hause bei meiner Familie? , dachte ich. Was für ein krankes Konzept ist das hier? Selbst als mein Verstand wieder funktionierte, war ich überzeugt, nie wieder mit ihm schlafen zu können. Nicht hier, mit Brams Kleidung im Schrank, seinem Rasiergel im Bad, der Luft, in der noch der Atem aus seiner Lunge hing. Es war fast so, als wäre er hier im Zimmer mit uns und würde uns beobachten.

Als wir aufgestanden und ich Toby durch den Park zum Bahnhof begleitet hatte, war ich natürlich wieder völlig ich selbst, und ihm war die ganze Episode überhaupt nicht aufgefallen.

»Spielen Kinder heutzutage denn überhaupt nicht mehr mit Kastanien?«, fragte er. »Oder sind sie alle drinnen und viel zu sehr damit beschäftigt, andere in den sozialen Netzwerken zu mobben oder selbstverletzendes Verhalten zu zeigen?«

»Nicht alle «, entgegnete ich lachend. »Manche wagen sich ab und an auch noch in die echte Welt.« Doch als die stacheligen Früchte vor unsere Füße rollten, flitzten keine Kinder herbei, um sie aufzusammeln, wie sie es zu meiner Zeit getan hätten, die größten Kastanien geputzt und konkurrierend auf eine Schnur aufgefädelt. (Polly und ich hatten, wie ich mich jetzt erinnere, mit ziemlicher Brutalität abwechselnd auf die der jeweils anderen eingeschlagen.) Es war vielleicht der schönste Monat des Jahres, wenn die leuchtenden Farben des Herbstes noch nicht gänzlich zu Asche verglüht waren. Leo und Harry sollten hier sein , dachte ich. »Vielleicht besuchen sie einen Matheclub, von dem ich nichts weiß. Morgen Nachmittag werde ich meine zwei hierher prügeln. Zwangsverordneter Spaß im Freien.«

»Klingt gut.« Toby hatte zwei fast erwachsene Kinder, Charlie und Jess, die er alle paar Wochen sah. Die Beziehung zu seiner Exfrau war angespannt, und sie war in die Midlands gezogen, um näher bei ihren Eltern zu sein.

»Du kannst selbst nicht viel älter als ein Teenager gewesen sein, als du deine Kinder bekommen hast«, sagte ich zu ihm. Er war Ende dreißig, fast zehn Jahre jünger als Bram. »Ich kann mir nicht vorstellen, nicht über Leo und Harry zu reden, so wie du kaum von deinen zweien erzählst.« Als ich mich selbst hörte, entschuldigte ich mich lachend. »Das hört sich schlimm an. Was ich meine, ist, dass ich beeindruckt bin, wie du loslassen kannst.«

Toby betrachtete den Pfad vor uns. »Nur weil ich nicht über sie rede, heißt das nicht, dass ich nicht an sie denke«, erklärte er mit sanfter Stimme.

»Ich weiß, natürlich. Damit wollte ich nicht andeuten, dass du kein fantastischer Vater bist.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte er lächelnd. »Man tut nur sein Bestes, oder?«

»Das stimmt.«

Ich erinnere mich, wie ich mir dachte: Bram würde mehr um sein Recht kämpfen, im Leben der Kinder zu sein . Dann: Hör auf mit den Vergleichen!

(Vergleiche sind das Ende des Glücks: Das ist eine von Merles Lieblingsweisheiten. Und so wahr!)

Wie dem auch sei, genau in diesem Moment bemerkte ich Bram und die Jungen. Unter einer großen, alten Rosskastanie am Tor zur Alder Rise Road. Die Haare der Jungen waren feucht vom Schwimmen – Bram hatte die Angewohnheit, Mützen zu vergessen. Der Wind frischte auf, und mit einem Mal ergoss sich ein Schauer aus stachligen Projektilen über ihnen, als die Früchte vom Baum fielen, was Harry vor Aufregung jauchzen und die Hände in die Höhe werfen ließ, um eine aufzufangen. Leo, der ewig Vorsichtige, trat einen Schritt beiseite, doch Bram schob ihn zurück, und obwohl er protestierend schrie, leuchtete sein Gesicht vor Begeisterung.

Sie sahen mich nicht, und ich machte Toby nicht auf sie aufmerksam – er ging sowieso einen Schritt vor mir und checkte sein Handy –, sondern behielt die Entdeckung für mich.

Selbst jetzt denke ich noch manchmal an diesen Tag zurück, wie die drei dort zusammen waren, und das Gefühl, das mich beschlich, sie von der anderen Parkseite zu beobachten. Das Bild hinterließ eine sonderbare Melancholie in mir, die ich damals nicht erklären konnte, obwohl ich heute glaube, dass sie direkt mit dem Gefühl zusammenhing, das ich im Bett gehabt hatte. Es war der Tag, an dem ich die letzte, tief verborgene, unterbewusste Hoffnung losließ, dass Bram und ich uns womöglich wieder versöhnen könnten.

#OpferFiona

@SarahTM ellor: Die Frau liebt ihren Ex immer noch #SiehtdocheinBlinder

@ash-buckley @SarahTM ellor: Nicht vergessen: Am Anfang hat sie gesagt, sie will ihn umbringen.

Bram, Word-Dokument

Es war ein Samstagmorgen im Oktober, als ich mit den Jungen zum Park ging – ein Tag, an den ich jetzt oft denken muss. Es war – vor den Medikamenten – wahrscheinlich das letzte Mal, dass es mir gelang, zeitweise den Kopf freizubekommen und im Moment zu leben. Früher habe ich die Phrase »im Moment leben« gehasst – sie klang ein wenig zu achtsam für meinen Geschmack –, aber sie beschreibt es ziemlich genau. Als hätte ich keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern wäre mit zwei ausgelassenen kleinen Jungen, die Kastanien im Fallen auffingen, in die Ecke des Alder Rise teleportiert worden. Ich erzählte ihnen von dem Schild mit der Aufschrift ACHTUNG , HERABFALLENDE KASTANIEN , das jemand vor ein paar Jahren an einen Baum genagelt hatte, und Leo sagte: »Wäre es nicht lustig, wenn dem, der das Schild aufgehängt hat, eine auf den Kopf gefallen wäre?«, und Harry fügte hinzu: »Ja, und er gestorben wäre.«

Oh, es war alles ein großer Spaß, bis wir nach Hause kamen und sie ihre Lieblingskastanien auffädelten, und innerhalb weniger Sekunden traf Harry seinen Bruder damit am Auge, und Leo musste mit einem Beutel gefrorener Erbsen im Gesicht dasitzen, und ich verpflichtete die beiden zur Verschwiegenheit, denn Fi wäre genau die Sorte Mensch, die eine Warntafel wegen Kastanien für eine gute Idee halten würde.

Ich entschuldigte mich mehrfach bei ihnen – daran erinnere ich mich jetzt –, und sie wiederholten nur andauernd: »Das ist doch nicht deine Schuld, Dad«, teils, weil sie sich immer gegenseitig die Schuld gaben (es war ihre Standardreaktion), und teils, weil sie nicht wussten, wofür ich mich in Wirklichkeit bei ihnen entschuldigte.

Vielleicht wusste ich es selbst nicht, nicht wirklich. Erst am nächsten Morgen.

Ich kann den Moment genau bestimmen, an dem meine Fingerspitzen von der Felswand abrutschten und einen so extremen Höhenverlust verursachten, dass ich fast das Bewusstsein verlor: Zehn Uhr dreißig am Sonntag, dem sechzehnten Oktober, als ich am Küchentisch Pokémon-Monopoly mit den Jungen spielte, während ich auf dem Handy die Lokalnachrichten überflog.

Polizei jagt Mörder nach grauenvollem Mutter-und-Tochter-Autounfall

Das junge Opfer eines Verkehrsunfalls, der vergangenen Monat in Thornton Heath von einem mutmaßlichen Verkehrsrowdy verursacht wurde, erlag ihren Verletzungen im Krankenhaus. Die zehnjährige Ellie Rutherford, die am Abend des 16. September auf dem Beifahrersitz im Fiat 500 ihrer Mutter saß, verlor nach mehreren Operationen am gestrigen Tag den Kampf um ihr Leben.

Karen Rutherford liegt weiterhin im Croydon Hospital, wo sie sich von ihren eigenen Verletzungen erholt. Weder sie noch ihr Ehemann standen für einen Kommentar zur Verfügung. Ein Polizeisprecher sagte: »Das ist eine schrecklich traurige Nachricht, und wir wollen Ellies Familie versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um den Täter vor Gericht zu bringen. Unser Interesse gilt insbesondere einer Frau, die im Croydon Hospital angerufen und erklärt hat, den Vorfall beobachtet zu haben. Wir weisen darauf hin, dass jede Information, die sie uns geben kann, streng vertraulich behandelt wird.«

Blumen sind zum stillen Gedenken vor dem Haus der Familie und am Unfallort in der Silver Road niedergelegt worden.

Die Worte werden bis zu meinem letzten Atemzug in meine Seele gebrannt sein. Ein Kind war nicht mehr lebensgefährlich verletzt, sondern tot. Ein Kind war tot …

»Leg das Handy weg, Dad«, sagte Leo und imitierte Fis Stimme. »Du musst dich aufs Spiel konzentrieren.«

Ein Kind war tot!

»Daddy? Kaufen wir jetzt Nidoqueen?«, fragte Harry.

»Entscheide du«, erwiderte ich und klang selbst in meinen Ohren wie ein Geist meiner selbst. »Haben wir genügend Bargeld?«

»Sie ist echt teuer, dreihundertfünfzig Pokédollars«, sagte Leo stichelnd. »Kannst du überhaupt so weit zählen?«

»Natürlich kann ich das!« Als Harry begann, das Geld auf seine schludrige Art zu zählen, spürte ich, wie meine Ungeduld wuchs, und fürchtete den Zorn, den ich entfesseln könnte: Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ich den Tisch umwarf, wie ein Monster brüllte und mich durch die Glasplatte warf. Es ängstigte mich, dass die Gewalt, die ich für Mike, Wendy, mich selbst verspürte, an den zwei Menschen ausgelassen werden könnte, die ich am allermeisten beschützen wollte.

Ein Kind war tot . Die Anklage würde von schwerer Körperverletzung auf fahrlässige Tötung oder gefährliches Fahren mit Todesfolge angehoben werden – ich hatte keine Ahnung, was der Fachausdruck für dieses Vergehen war.

Nicht vier Jahre im Gefängnis, sondern zehn. Vielleicht mehr.

»Gebt mir einen Moment, Jungs, okay, während ich kurz aufs Klo gehe? Leo, hilfst du Harry bitte beim Zählen?«

»Aber er ist nicht in meinem Team!«, jaulte Leo.

»Tu es einfach!«, donnerte ich.

Trotz der unnachgiebigen Gegensätzlichkeit der beiden war der Schock auf ihren Gesichtern identisch, als ich aus dem Zimmer stürzte und mich unten auf der Toilette übergab.

»Fionas Geschichte« > 01:41:20

Bei meiner Rückkehr in die Trinity Avenue an jenem Sonntag war Harry der Erste, den ich sah, als ich die Tür aufsperrte. Obwohl er sich längst an das Kommen und Gehen seiner getrennt lebenden Eltern gewöhnt hatte, stürzte er immer in den Flur, um die neuesten Neuigkeiten zu verkünden.

»Leo hat sich am Auge verletzt!«

»Wirklich? Wie?«

»Total aus Versehen … es war nicht meine Schuld. Und wir haben jetzt alles mit dem speziellen Polizeistift beschriftet!«

»Gut gemacht! Habt ihr sämtliche Handys und iPads und solche Dinge markiert?«

»Ja, jedes Einzelne. Oh, und Daddy hat schon wieder gekotzt«, erinnerte er sich, als Bram aus dem Badezimmer trat.

»Wirklich?«, sagte ich. Wieder? »Geht’s dir gut, Bram?«

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Wohl eine kleine Lebensmittelvergiftung. Wie war dein Wochenende, Fi?«

»Es war gut. Ich … Ich habe einen Freund getroffen.« Unsere Blicke verwoben sich, und ich stellte überrascht fest, dass ich errötete. Brams Reaktion war, milde gesagt, sonderbar: Eine Gesichtsseite verzerrte sich, als verpasste ihm ein unsichtbarer Gegner einen Kinnhaken. Es sah im Grunde genau so aus, wie eine rachsüchtigere Exfrau es sich in ihren kühnsten Träumen erhofft hätte: ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, am Boden zerstört.

Hypothetisch – denn ich war nicht diese Frau – fühlte es sich nicht auch nur annähernd so befriedigend an, wie ich erwartet hätte.

»Lass mich mal einen Blick auf Leos Auge werfen«, sagte ich.