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Bram, Word-Dokument

Allmählich hasste ich meine Zeit in der Wohnung, verband sie mit alkoholgeschwängerter, von Ängsten erfüllter Einsamkeit und hässlichen, unabwendbaren Treffen – nicht alle nur mit Mike und Wendy. Da war auch eines, ein paar Tage nach dem Open House, vor dem ich mich lieber gedrückt hätte.

Als es gegen acht Uhr abends an der Tür klingelte, dachte ich natürlich, es sei die Polizei.

Das war’s, Bram. Du wusstest, es würde irgendwann passieren.

Es folgte ein entsetzlicher Moment des Gefühls, in die Kindheit zurückversetzt zu sein – eine Woge dieses halb verhassten, halb erleichterten Gefühls, das einen flutet, wenn einem ein Elternteil bei einer Unwahrheit auf die Schliche kommt. Wenigstens muss ich nicht mehr lügen , denkt man dann. Wenigstens muss ich mich nicht mehr verstecken.

Bevor ich an die Tür ging, drehte ich die Lautstärke der Musik herunter, wobei ich mich zu sehr selbst bemitleidete, um die Aufgabe zu vollenden und sie ganz auszuschalten. Ich weiß, es wird verrückt klingen, aber ich hatte längst die Playlists zusammengestellt, die ich mitnehmen wollte, wenn ich untertauchen müsste. Ja, ich weiß, ich hätte meine Zeit lieber nutzen sollen, Mike und Wendy mit einem atemberaubenden Twist das Handwerk zu legen, aber ich hatte gemerkt, dass kleine Tätigkeiten, bei denen man nicht nachdenken muss, insbesondere solche, bei denen ich in der Vergangenheit versinken konnte, der einzige Weg waren, meinen Verstand von einem Tag zum nächsten zu retten.

»Hallo«, sagte ich in die Gegensprechanlage. »Wer ist da?«

»Bram?« Die Stimme war weiblich, leise und empört.

Eine Polizeibeamtin, die mich verhaften wollte, würde mich nicht Bram nennen, folgerte ich. Es musste Wendy sein, sie und Mike, die gekommen waren, um mir wegen der zweiten Besichtigung des Hauses am Samstag zuzusetzen. Ein klitzekleines bisschen besser als die Polizei.

»Bram? Was ist los? Lass mich rein!«

Nicht Wendy, erkannte ich. Saskia? Das Ausbleiben jeglicher weiteren Nachrichten oder Besuche an meinem Schreibtisch seit unserem gemeinsamen Wochenende hatte mich in der Annahme bestärkt, dass sie das einzig Vernünftige getan und die Sache beendet hatte.

Dann registrierte ich, wer es in Wirklichkeit war. »Ah. Komm hoch.«

Ich wartete an der Tür, erschöpft und verwirrt. »Constance« vom Spielhaus. Ihre Ankunft erinnerte mich daran, dass ich auf eine Voicemail von ihr nicht reagiert hatte – wann war das gewesen? Letzte Woche, vielleicht. Zugegeben, für mich war sie ein kleiner Fisch im Vergleich zu dem Haifischbecken, in dem ich schwamm – unsere damalige Begegnung, so katastrophal sie zu jenem Zeitpunkt gewesen sein mochte, wirkte jetzt fast entzückend sündhaft angesichts der Ereignisse, die seitdem geschehen waren.

»Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe«, sagte ich an der Tür, als sie aus dem Aufzug trat. »Ich dachte, du seist jemand anderes.«

»Wie viele von uns gibt es denn? Behalt es für dich – es interessiert mich nicht.« Es gab natürlich weder einen Kuss noch eine Berührung. Das hätte ich auch nicht erwartet, aber genauso wenig den Schwall Feindseligkeit, der von ihr ausging. Mein Gehirn war zu angeschlagen, um jegliche Reaktion, egal welche, wahrzunehmen. Wenn meine Nacht mit Saskia mir irgendetwas gezeigt hatte, dann, dass Trost und Gleichgültigkeit für mich längst ein und dasselbe waren.

»Wir müssen reden.« Als sie in meinem Stirnrunzeln Widerwillen erkannte, fauchte sie: »Falls du etwas Zeit für mich erübrigen könntest?«

»Natürlich.« Ich schaltete die Musik auf Pause, wünschte dann augenblicklich, es nicht getan zu haben. Heutzutage war Stille für mich selbst im größtmöglichen Idealfall unerträglich und fühlte sich schrecklich entblößend an. Es wäre zu kräftezehrend, sich auf das hier zu konzentrieren.

»Was war das für ein Lied, das da gerade gelaufen ist?«, fragte sie.

»Portishead. Erinnerst du dich, ›Sour Times‹?«

»Wie passend.« Ihre Haare waren fest nach hinten gebunden, ihre Haut schimmerte leicht kränklich, als würde sie direkt vor meinen Augen von Fieber geschüttelt werden. »Wäre es in Ordnung, wenn ich mich setze?«

»Entschuldige. Dort drüben.« Ich räumte einen der Sessel von dem Durcheinander aus Kleidung frei, die ich von der chemischen Reinigung geholt hatte. »Willst du etwas trinken?«

»Ein Wasser, bitte.«

Ich holte mir ein Bier, reichte ihr ein Glas Wasser und wartete ab. Mir entging nicht, dass sie dasselbe Kleid trug, das sie an jenem Abend im Spielhaus getragen hatte, diesmal mit einer blickdichten schwarzen Strumpfhose und hohen Stiefeletten. Ich kannte sie nicht gut genug, um zu wissen, ob das eine absichtliche Anspielung war – alles, was ich wusste, war: Es wäre etwas Gutes, wenn ich nie wieder etwas mit irgendeiner Frau zu tun hätte. Für mich und für sie.

»Na schön«, sagte sie. »Ich komme ohne Umschweife zur Sache. Ich bin schwanger, Bram.«

Ich starrte sie entsetzt an.

»Es ist nicht deins.« Sie hob das Kinn, kicherte freudlos. »Darum geht es hier nicht – keine Sorge.«

»Oh. Okay.« Mein Schädel tat schrecklich weh. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob es irgendwo in der Wohnung Ibuprofen gab. »Worum geht es dann

Mit zitternder Hand nahm sie einen Schluck Wasser. »Es geht darum, dass es bald zu sehen sein wird, und ich es nicht gebrauchen kann, dass du eins und eins zusammenzählst und auf drei kommst. Oder irgendjemand sonst.«

Sie meinte wohl ihren Ehemann.

»Er weiß das von uns immer noch nicht?«, fragte ich.

»Nein. Es war ein Fehler, ein einmaliger Ausrutscher in geistiger Verwirrtheit. Wenn man es ihm jetzt erzählen würde, wäre niemandem gedient.« Sie beäugte die vier Wände, ihre Miene von Trostlosigkeit gezeichnet. »Das muss ich dir wohl kaum erklären.«

In dieser letzten Bemerkung hallte ein anklagender Unterton wider, der mich an Fi erinnerte, und ich spürte, wie Verärgerung in mir aufstieg. Am liebsten hätte ich sie angefaucht: »Ist das wirklich dein größtes Problem? Wie wäre es damit, erpresst zu werden? Wie wäre es damit, eine Mord-durch-gefährliches-Fahren-Anklage am Hals zu haben? Wie wäre es damit, deinen Partner und deine Kinder und alles, was du liebst, zu verlieren …?«

Aber vielleicht fürchtete sie genau das – wenn ich es mir in den Kopf setzte, die Vaterschaft des neuen Babys anzuzweifeln. Für sie stellte ich eine Bedrohung dar. Ich war ihr Mike.

»Also kann ich darauf zählen, dass du es für dich behältst?«, fragte sie.

»Ich habe es so lang für mich behalten. Es gibt keinen Grund, etwas daran zu ändern.«

»Auch, wenn es Fragen geben sollte?«

Da erst verstand ich es und sah ihr prüfender ins Gesicht. Außer vielleicht ihren Ehemann könnte sie damit nur Fi meinen. Wollte sie etwa sagen …? Es folgte eine Stille, ein gedehnter Moment, der seine eigene Energie verströmte. Ihr Blick traf mich mit einem erneuten Flehen.

»Wann ist der errechnete Geburtstermin?«, fragte ich leise.

»Im Mai. Beleidige mich nicht, indem du die Monate zählst.«

Natürlich zählte ich in stiller Folter. Es war nur ein Monat später. Aber ich konnte den Gedanken nicht zulassen, dass ein anderer Mann mein Kind großzog, ohne von der wahren Vaterschaft oder der Existenz von zwei Halbbrüdern zu wissen. Ich konnte nicht zulassen, dass es wahr wäre. Und so grässlich, wie es klingen mag, erscheint es jetzt völlig bedeutungslos. Ein Kind ist durch meine Hand gestorben, und es gab keinen Platz in meinem Kopf, um über ein ungeborenes nachzudenken.

»Nun, dann herzlichen Glückwunsch«, sagte ich endlich und beobachtete, wie sich die Anspannung in ihrer Brust löste. Ich verspürte den Drang, ihr heißes Gesicht zu berühren, ihre rastlosen Hände in meine zu nehmen. »Das sind tolle Neuigkeiten.«

»Danke.« Sie stand auf, ließ den Blick erneut durch das triste, klaustrophobische Zimmer schweifen. »Du musst dich wieder in den Griff bekommen, Bram. Dir geht’s ganz offensichtlich nicht gut.«

»Wirklich? Wow, das habe ich ja gar nicht bemerkt.«

Wie Fi reagierte sie gereizt auf Sarkasmus und erteilte mir sogar noch Ratschläge, während sie zur Tür eilte. »Im Ernst, du willst doch nicht einer dieser bedauerlichen, alternden Kater werden, die das Mausen nicht lassen können, oder? Irgendwann ist das Maß an Vergebung ausgeschöpft, und dann bist du nichts weiter als ein einsamer, alter Mann, der Unverzeihliches getan hat.«

Diese letzten Worte klangen wie auswendig gelernt, doch es bedeutete nicht, dass sie falsch klangen. Es bedeutete nicht, dass sie mich nicht verletzten. Ich schloss die Augen, unfähig, mein Gegenüber noch länger zu ertragen, und als ich sie wieder öffnete, war sie fort, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

»Danke für den Ratschlag«, sagte ich.

»Fionas Geschichte« > 02:05:03

Bei allem, was in der Trinity Avenue vor sich ging – nicht nur der Einbruch bei den Ropers, unser Autodiebstahl und dass überall gelbe Polizeischilder hingen, sondern auch die Beziehung zu Bram, die sich allmählich zuspitzte –, war mir die Wohnung zu einer Art Zufluchtsort geworden.

Dort war Zeit zum Atmen, zur Entspannung. Ich hatte mir angewöhnt, eine Duftkerze zu entzünden, sobald ich durch die Tür kam, und Klassik FM oder eine der Dokumentationen über Kunst einzuschalten, bei denen ich jede Hoffnung aufgegeben hatte, sie mir ansehen zu können, während die Kinder um mich herumwuselten und sich schreiend über Pokémon oder den FC Chelsea in den Haaren lagen, oder was gerade der Stein des Anstoßes gewesen war. Außer bei Besuch verordnete ich mir ein Alkoholverbot, brühte mir stattdessen einen Kräutertee auf und gönnte mir ein Stück Schokolade mit dem gewissen Etwas, zum Beispiel einer Prise Kardamom oder Meersalz oder Lavendel. Vielleicht ist »Zufluchtsort« nicht das richtige Wort. Vielleicht war es mehr eine Art Retreat.

Ein- oder zweimal ertappte ich mich bei dem Gedanken, ich sollte die Jungs zum Übernachten herbringen, aber natürlich war ich nur hier , damit sie dort sein konnten.