»Das ist völlig verkorkst«, seufzt David Vaughan verzweifelt. Allmählich wirkt er gereizt. Das würde jedem Menschen so gehen, wenn er lang genug einer solchen Anspannung ausgesetzt ist. Es ist russisches Roulette in den Vororten, mit Immobilienanwälten, die die Waffen halten. »Diese andere Frau behauptet, sie wäre Fiona Lawson und hätte die Erlöse von dem Verkauf noch nicht erhalten, die rechtmäßig ihr gehören. Sie behaupten, Sie wären Fiona Lawson und hätten das Haus überhaupt nie verkauft.«
»Ich ›behaupte‹ nicht, Fiona Lawson zu sein, ich bin Fiona Lawson. Hier … Hier ist mein Führerschein. Reicht der, um Sie zu überzeugen?« Dieser Mann mag ihr Haus für sich beanspruchen, aber er wird ihr nicht auch noch ihre Identität rauben. Die Vaughans begutachten beide den Führerschein, doch in ihrem Verhalten ihr gegenüber tritt keine nennenswerte Veränderung ein.
»Wäre es vielleicht irgendwie möglich, über den Makler die Telefonnummer von dieser falschen Mrs Lawson zu bekommen?«, erkundigt sich Merle.
»Ich habe nachgefragt, aber Rav meint, er habe bisher immer nur die von Mr Lawson gehabt, die, wie ich vermute, dieselbe Nummer ist wie die, die Sie von ihm haben.«
»Brams Handy ist schon den ganzen Nachmittag nicht zu erreichen«, erwidert Fi.
Doch als sie die Nummern vergleichen, stellt sich heraus, dass es nicht Brams offizielles Telefon ist – dasjenige, das sein Arbeitgeber stellt und über das Fi ihn im Alltag erreicht. Bei dieser Entdeckung rauscht ihr das Blut durch den Kopf, aber als sie die unbekannte Nummer anruft, klingelt es einfach durch.
»Sie haben doch nicht etwa geglaubt, er würde tatsächlich rangehen?«, fragt David. »Sie muss es den ganzen Tag lang probiert haben.«
Sie . Wer ist diese Rivalin, diese Betrügerin, mit der Bram das Vermögen der Lawsons teilen will? Ist es ein Fall von Bigamie? Hat er eine zweite Frau geheiratet, und ihr gemeinsamer Plan lautete, das Haus zu stehlen, das ihr zuerst gehörte? (Vielleicht hat er sogar Kinder mit ihr, Halbgeschwister von Leo und Harry.) Oder ist es das andere Extrem, und sie ist nichts weiter als eine Schauspielerin, die er für den Verkauf engagiert hat? Die »Mrs Lawson«, die den Anwalt angerufen hat, könnte jede sein. Die Vaughans haben sie nie kennengelernt, rechtlich gesehen müssen sich Käufer und Verkäufer nicht zur selben Zeit im selben Raum aufhalten. Vielleicht hat er einfach Fis Ausweis fotokopiert und ihn online übermittelt. Die Polizeibeamten haben offen bestätigt, wie gesichtslos Eigentumsübertragungen geworden sind, wie Kriminelle unbehelligt durch Schlupflöcher rutschen können.
Und falls er keine neue Beziehung – keine neue Liebe – finanzieren will, warum dann? Warum braucht Bram einen solchen Geldbetrag? Was könnte es wert sein, sowohl die Sicherheit seiner Kinder als auch seine eigene Beziehung zu ihnen zu opfern? Riesige Schuldenberge durch eine Spielsucht? Drogen?
Sie massiert sich die Schläfen, ohne dass der Schmerz nachlassen würde. Wie viel leichter ist es, sich ihn als Opfer vorzustellen, genau wie sie. Betrogen oder bedroht oder einer Gehirnwäsche unterzogen.
»Also sitzen wir es einfach aus, oder?«, sagt Merle. »Weil wir weiterhin nicht wissen, wer das Recht hat, zu bleiben, und wer gehen muss?«
»Laut Rav«, entgegnet David, »gibt es einen einfachen Weg, um herauszufinden, wer der rechtmäßige Eigentümer des Hauses ist und demzufolge das Wohnrecht hat: das Grundbuchamt. Es gibt zwar keine notariellen Urkunden mehr, aber wenn das Haus auf uns registriert ist, dann gehört es uns. Falls es aus irgendeinem Grund nicht überschrieben wurde, dann sind die Namen der Lawsons immer noch eingetragen, und sie bleiben die Besitzer. Emma wird uns das sagen können.«
Die Anwältin der Vaughans, Emma Gilchrist, ist schließlich von ihrem Auswärtstermin zurück, und ein Kollege unterrichtet sie genau in diesem Moment von der Krise in Alder Rise.
»Keine Sorge«, beruhigt David seine Frau. »Emma hätte niemals zwei Millionen Pfund ausbezahlt, ohne dass der Verkauf notariell beglaubigt worden wäre.«
»Wirklich?«, fragt Merle. »Es wäre in dieser Situation nicht der einzige katastrophale Fehler, nicht wahr? Hören Sie, ich bin es leid, auf die Anwälte zu warten. Können wir nicht selbst im Grundbuch nachsehen?«
»Es dauert anscheinend ein paar Tage, bis es online erscheint«, sagt David. »Wir brauchen Emma oder diesen Graham Jenson, um den genauen Stand der Dinge zu erfahren. Und das hier könnte jetzt Emma sein …«
Sein Handy klingelt, und er zieht es wie eine Schusswaffe aus der Tasche. Die anderen versteifen sich alle gleichzeitig auf ihren Stühlen, starren ihn elektrisiert an. »Emma, endlich!«, ruft David. »Wir haben hier eine sehr beunruhigende Situation und brauchen Sie, damit Sie die Angelegenheit so schnell wie möglich klären …« Als sein Blick den von Fi findet, sieht er unerwartet verlegen weg und öffnet die Küchentür, um den Rest des Telefonats im Garten fortzuführen. Eisige Luft strömt wie eine Drohung ins Zimmer, während er den Pfad zum Spielhaus hinabschreitet.
Jetzt entscheidet es sich also , denkt Fi. Meine Zukunft, die von Leo und Harry – alles hängt jetzt davon ab .
Als er den Bahnhof Cornavin erreicht, tut ihm alles weh, die Hüften, die Knie und die Füße, selbst die Schultern brennen. Sein Verstand hingegen ist wie betäubt: Die Straßen der Stadt haben ihn mit dem köstlichen Balsam der Anonymität besänftigt, und als er innehält, um das rege Treiben in der Bahnhofshalle zu betrachten, ist es fast, als hätte er vergessen, weshalb er überhaupt hier ist.
Eine Gruppe junger Frauen kommt an ihm vorbei, die Gesichter zu einer Gestalt in ihrer Mitte gewandt, und während er sie beobachtet, trifft ihn das Wissen, dass Fi die Sache meistern wird. Sie wird ihre Frauen um sich haben.
Das Wissen ist rein, schmerzlos, absolut.
Früher empfand er die Art, wie die Frauen der Trinity Avenue miteinander reden, immer als anstrengend. Selbst wenn man nicht hören konnte, was sie sagten, konnte man von ihrer Körpersprache, ihrer Mimik ablesen, dass alles so schrecklich ernst war. Sie führten sich auf, als besprächen sie Genozide oder die ökonomische Apokalypse, und dann stellte sich heraus, dass es nur um die kleine Emily ging, die eine schlechte Mathenote bekommen, oder Felix, der es nicht in die erste Mannschaft beim Fußball geschafft hatte. Die Handlung eines Fernsehfilms oder eine Gräueltat bei Das Opfer .
Dann, wenn wirklich schlimme Dinge passierten, etwa ein plötzlicher Todesfall in der Familie oder eine Kündigung, und man eine Massenhysterie erwartet hätte, waren sie ein SWAT -Team, perfekt organisiert und lösungsorientiert.
»Die beiden sind schon eine Nummer«, sagte Rog einmal an der Bar des Two Brewers über ihre beiden Ehefrauen. »Erinnerst du dich an den alten Sketch aus der ›Two Ronnies‹-Show mit Diana Dors, über Frauen, die die Weltherrschaft an sich reißen? Eigentlich sollte es eine Dystopie sein.«
»Hört sich nicht wirklich politisch korrekt an«, sagte Bram.
»Oh, kein bisschen. Das wäre heutzutage definitiv nicht erlaubt«, pflichtete Rog ihm mit gespieltem Bedauern bei.
Wie sonderbar, dass er sich in diesem Moment daran erinnert, unter der Abfahrtstafel des Bahnhofs in Genf. Aber er ist froh, denn es lässt ihn glauben, dass die Dinge in London doch nicht so grauenhaft sein werden, selbst heute, am Tag der Offenbarung. Denn ab jetzt trägt Fi die Verantwortung und nicht mehr er. Sobald Gras über die Sache gewachsen ist, sind die Jungen ohne ihn besser dran.
Zum ersten Mal, seit er aus der Trinity Avenue fort ist, fühlt er etwas, das eher an Ruhe als an Aufruhr grenzt.
Und es gibt einen Zug nach Lyon, Abfahrt 17 Uhr 29.