Es war verrückt, wie weit der Prozess des Hausverkaufs voranschreiten konnte, ohne dass Wendy oder ich persönlich mit einem Immobilienanwalt sprechen mussten. Graham Jenson von Dixon Boyle & Co. im Crystal Palace war, wie ich vermutete, von Mike natürlich aufgrund seines fehlenden Rufs für hervorragende Leistungen ausgewählt worden. (Tatsächlich schnitt Jenson auf entsprechenden Websites in puncto Kundenzufriedenheit nicht sonderlich gut ab.) Wie Rav war er nicht in unsere Verschwörung eingeweiht, und wiederum sollte ich einfach verfahren, als würde der Verkauf normal über die Bühne gehen. Ich richtete eine neue E-Mail-Adresse im Namen von A & F Lawson ein, teilte meinen Gebietern das Passwort mit und gab meine Prepaid-Handy-Nummer an Jenson und seine Assistentin weiter.
Bis Anfang Dezember hatte ich die erforderlichen Papiere und Identitätsnachweise zusammengetragen, sämtliche Fragebögen ausgefüllt und den Betrag für die Ablösung der Hypothek angesetzt, der bei Verkaufsabschluss automatisch abgeführt werden sollte. Dokumente wanderten zwischen dem Aktenschrank in der Trinity Avenue und mir hin und her, während ich entsprechend der Modalitäten unseres Nestmodells kam und ging. (In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Fi etwas nachlesen wollte, das ich einem der Ordner entnommen hatte, wusste ich, dass sie schlicht annehmen würde, es sei falsch abgelegt worden.) Um zu vermeiden, dass Unterlagen per Post in die Trinity Avenue geschickt wurden – ich hatte ja schon schmerzlich erfahren, dass Fi keinerlei Bedenken hatte, meine Briefe zu öffnen; nun ja, diese wären auch an sie adressiert –, vereinbarten wir, dass Wendy sie persönlich am Empfang der Anwaltskanzlei abholen sollte. Sie würde dabei ihre eingeübte Fiona-Lawson-Unterschrift benutzen, wann immer sie erforderlich war. Dann händigte sie mir die Unterlagen in der Wohnung aus und wartete ab, bis ich die erforderliche Information anfügte oder meine Vollmacht gab, bevor sie alles zurück zum Anwalt brachte. Die wenigen Dokumente, bei denen unsere Unterschriften beglaubigt werden mussten, wurden an Mike weitergeleitet, der jegliche gefälschten Namen und erfundenen Berufe anfügte, die ihm in den Kram passten. In der Zwischenzeit teilte Wendy Jenson die Bankverbindung mit, von dem die abschließende Zahlung an das Offshore-Konto transferiert werden sollte, das Mike via seiner sagenumwobenen Dark-Web-Kontakte eröffnet hatte.
Was alles gleichzeitig wahnsinnig riskant und wahnsinnig leicht war – erheblich leichter, als es gewesen wäre, wäre nicht einer der Mitverschwörer ein fünfzigprozentiger Eigentümer der Immobilie. Das war die Genialität des Plans – das musste man Mike lassen.
Obwohl sich die Nachfragen der Käufer auf ein Minimum beschränkten, verlangte ihr Hypothekengläubiger eine Grundstücksbewertung vor Ort, ein nicht verhandelbares Detail, das nur unter der Woche stattfinden konnte. Auch wenn dies seinen eigenen Stress mit sich brachte, war es im Vergleich zur öffentlichen Besichtigung ein Kinderspiel: Ich arbeitete an diesem Tag im Homeoffice und vereinbarte mit dem Sachverständigen einen Termin zur Mittagszeit, damit er längst weg wäre, bevor Fi oder ihre Mutter nach der Schule mit den Jungen zurückkehrten. In der Straße war nichts los, aber ich hatte eine Ausrede wegen Dachreparaturen parat, sollte jemand Fragen stellen.
Bis Mitte Dezember waren die Vertragsentwürfe aufgesetzt und an die Anwältin der Käufer geschickt worden.
Gute Arbeit, amigo , schrieb Mike, und es folgte ein verwirrender Moment, in dem ich vollkommen neben mir stand und tatsächlich Freude über sein seltenes Lob empfand. Dann kehrte der Horror zurück, unendlich beklemmender und in den Wahnsinn treibender als jemals zuvor.
Anscheinend hatten die Medikamente ihre volle Wirkung noch nicht entfaltet.
Ich weiß, es hört sich an, als hätte ich ein Zugeständnis nach dem anderen gemacht, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass ich hier gegen den alltäglichen Wahnsinn zu kämpfen hatte. Ich war nicht in der Position, einen strikt ethischen Standpunkt einzunehmen. Was ich einnahm, war ein strikt mütterlicher, und in dieser Hinsicht bereue ich nichts.
Denn Bram hatte insofern recht, dass Leo und Harry glücklich waren. Sie waren wirklich glücklich. Ich habe sogar gesehen, dass sie lieb zueinander waren, wie richtige Brüder in einem Buch – ich meine, vielleicht nicht ganz so wie die Weasley-Zwillinge aus Harry Potter , aber lieb für ihre Verhältnisse.
Anfang Dezember gab es einen Kälteeinbruch, und die Trinity Avenue war ein Bilderbuch aus raureifbedeckten Sträuchern und schimmerndem Nebel. Weihnachten lag in der Luft, schon immer meine liebste Jahreszeit. Sobald die Kinder von der Schule nach Hause kamen, blieben sie lieber drinnen und tauschten den Garten für das Wohnzimmer mit seinem Kaminofen und den Höhlen aus Schafsfellen ein. Wenn ich sie zusammengekuschelt dasitzen sah, mit rosigen Wangen und schläfrigen Augen, war ich aufs Neue von der Schönheit des Nestmodells überzeugt. Diese halb bezeugte Auseinandersetzung mit Toby war höchstwahrscheinlich nichts im Vergleich zu den Streitigkeiten, die Bram und ich ihnen zugemutet hätten, wären wir zusammengeblieben.
Beim Elternsprechtag in der Schule, für den Bram und ich uns beide Zeit freigeschaufelt hatten, berichteten weder Leos noch Harrys Lehrerinnen von irgendwelchen Anzeichen von der Sorte besorgniserregendem oder störendem Verhalten, das sich nach der Trennung der Eltern oft bei Kindern zeigt.
»Was auch immer Sie zu Hause tun, machen Sie so weiter«, sagte Harrys Lehrerin Mrs Carver. »Er ist ein wirklich schlaues Kerlchen.«
Optimistisch gestimmt, kamen Bram und ich überein, gemeinsam zum Weihnachtskonzert in der Schule zu gehen.
Selbst als ich im Geheimen plante, ihnen ihre Zukunft zu stehlen, räumte ich den Jungen ansonsten die oberste Priorität ein. Zum allerersten Mal in ihrem Leben besuchte ich jede einzelne Schulveranstaltung der Vorweihnachtszeit, sogar Harrys Weihnachtsbasteln, bei dem man unangemeldet vorbeischauen konnte und von dem sämtliche Eltern für ihre weiteren Verpflichtungen mit Glitzer an den Ohrläppchen aufbrachen. Meine Arbeit spielte längst keine Rolle mehr – schon bald würde ich weg sein –, und wann immer möglich, delegierte ich oder sagte ab oder schob die Verantwortung anderen zu. Dreimal im Dezember meldete ich mich krank oder ging früher aus dem Büro, da ich mich elend fühlte (keine glatte Lüge, denn das Gefühl von Übelkeit war nie weit weg).
»Ich glaube, da stimmt was nicht mit mir«, erklärte ich Neil (wiederum keine glatte Lüge). »Vielleicht eine Art Virus.«
»Solange es wirklich das ist und du mich nicht verarschst«, sagte er, was gleichbedeutend mit einer ersten Warnung war. Die Situation wurde durch meine Entscheidung, die Weihnachtsfeier im Büro zugunsten des Weihnachtskonzerts in der Schule in der letzten Woche vor den Ferien ausfallen zu lassen, nicht besser.
»Schlappschwanz«, nannte mich Neil, eine Verunglimpfung, von der wir beide wussten, dass Keith Richards seinen Bandkollegen Ronnie Wood damit aufgezogen hatte, als dieser sich freiwillig in den Entzug begab.
Wäre Drogensucht doch nur mein größtes Problem, dachte ich betrübt, oder die Auswirkungen von Rock-’n’-Roll-Exzessen.
Das Weihnachtskonzert hätte mir fast den Rest gegeben. »It Came Upon a Midnight Clear« war Fis Lieblingslied, und zufälligerweise sangen die Kinder es ganz zum Schluss, ihre süßen, hoffnungsvollen Stimmen fast unerträglich. Näher war ich einem Zusammenbruch in der Öffentlichkeit noch nie gekommen.
»Absolut fantastisch«, sagte Fi, als die Klassen anschließend im Gänsemarsch den Mittelgang hinabströmten. »Hast du das gefilmt, Bram?«
»Nur das letzte Lied«, sagte ich. »Das war doch erlaubt, oder? Alle anderen Väter haben es auch gemacht.«
»Ja, ich denke schon. Außerdem bin ich kein Blockwart.«
In ihren Worten lag eine unterschwellige Botschaft, dachte ich, oder wollte es zumindest glauben. Im Grunde bedeutete es, dass sie nicht mehr mit Krieg drohte, sondern wieder zum Friedensprozess übergehen wollte.
Wir warteten, bis sich die Kirchenbank leerte, bevor wir uns nach draußen schoben. Zu meiner Rechten hing ein Fresko, das den Prozess irgendeines Märtyrers darstellte, und während all meiner Jahre als Sohn einer gottesfürchtigen Mutter hatte ich in einer Kirche niemals eine solche Verbindung verspürt wie zu diesem Zeitpunkt.
»In deiner unermesslichen Großzügigkeit«, sagte ich zu Fi, »darf ich dich da um einen Gefallen bitten?« Nur ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, spricht einen Wunsch aus, dessen Erfüllung nie unwahrscheinlicher gewesen war. »Es ist der letzte, um den ich dich jemals bitten werde«, fügte ich hinzu.
Sie verdrehte die Augen. »Es gibt keinen Grund, es zu übertreiben, Bram … du bist nicht unheilbar krank. Worum geht’s?«
»Könnte ich die Jungen Weihnachten bekommen? Es würde … Es würde mir sehr viel bedeuten.«
Da es das letzte Mal sein könnte. Das letzte Mal sein wird . Um diese Zeit nächstes Jahr werde ich vor Gericht stehen wie unser Freund, der Heilige, oder im Gefängnis sitzen oder, wie ein Terrorist, in einem Erdloch. Damals hatte ich mein weiteres Vorgehen noch nicht geplant – die Idee war mir später in einem fast heiligen Moment der Offenbarung gekommen –, aber ich ging davon aus, dass ich würde weiterleben wollen, egal wie erbärmlich mein Leben dann sein würde.
Fi antwortete nicht sofort. Ich konnte ihre natürliche Reaktion sehen, die in ihr Wellen schlug und im nächsten Augenblick als Ablehnung aus ihr herausplatzen würde – meine vergangenen und gegenwärtigen Verbrechen lagen ihr auf der Zunge. Doch dann schluckte sie sie hinunter, erinnerte sich an ihr erneutes Bekenntnis zu unserer gemeinsamen Sache. Vielleicht lag es auch am Anblick all der anderen Eltern mit ihren identischen Immer-noch-verheiratet-Lächeln und ihrer in Kaschmirschals gehüllten Zusammengehörigkeit, aber auf einmal sagte sie etwas völlig Unerwartetes.
»Hör mal, warum haben wir sie nicht beide ? Im Haus, wie bei jedem anderen Weihnachten, das wir bisher gefeiert haben?«
»Was?« Ich spürte, wie ich errötete. »Meinst du das ernst?«
»Ja. Für sie wäre es das Schönste, wenn wir alle zusammen sind. Es fällt diesmal auf ein Wochenende, warum bleiben wir dann nicht einfach beide am Weihnachtsabend und dem ersten Weihnachtsfeiertag im Haus? Am zweiten hatte ich gehofft, sie zu meinen Eltern mitzunehmen, also könntest du mit ihnen deine Mutter vielleicht am Heiligabend tagsüber besuchen. Klingt das fair?«
Euphorie durchströmte mich. »Ja, mehr als fair. Ich danke dir.« Das Einzige, was besser war, als mein letztes Weihnachten mit meinen Söhnen zu verbringen, wäre, es mit meiner Frau und meinen Söhnen zu verbringen.
»Lass uns gemeinsam zu Kirsty und Matt gehen«, sagte sie. »Du weißt, dass sie jetzt im Anschluss zu einem kleinen Umtrunk eingeladen haben?«
Ein weiteres riesiges Zugeständnis: Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie als der betrogene Teil bei unserer Trennung – als die Frau – das Vetorecht für Einladungen zu Feiern von Nachbarn besaß.
»Harry hat den Text zu ›We Three Kings‹ vergessen«, beschwerte sich Leo, als die zwei uns von ihren Lehrerinnen wieder übergeben wurden. »Es war so offensichtlich!«
»Nicht für uns«, erwiderte Fi. »Wir konnten eure Stimmen wirklich heraushören, nicht wahr, Dad?«
»Absolut«, sagte ich, während ich Harry mit seinen Handschuhen half. Die Kuppe seines linken Daumens schaute durch ein Loch heraus, und ich behielt diese Hand in meiner, verdeckte es.
»Ich hab den Text nicht vergessen«, murrte er, als wir hinaus auf die Straße traten, und ich wartete mit unverhältnismäßiger Anspannung, dass er seine Hand fortreißen würde. Doch das tat er nicht – er ließ sie die ganze Zeit über in meiner.
Während wir die Hauptstraße entlangspazierten, gingen wir, wo der Bürgersteig breit genug war, alle vier nebeneinander, so wie wir es häufig getan hatten, als die Jungen noch klein gewesen waren.
Sie in der Mitte, wir beide außen.
»Wir haben uns entschieden, Weihnachten zusammen zu feiern, der Jungs wegen«, erzählte ich Polly.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie. »Wessen verrückte Idee war das? Deine oder seine?«
»Meine. Er sah wirklich schrecklich aus, Pol.« Er hatte tatsächlich an einen Todeskandidaten erinnert, dem eine kurze Gnadenfrist gewährt worden war. (Und sein Entsetzen, als er fürchtete, das Konzert ohne Erlaubnis gefilmt zu haben: Der alte Bram hätte eine so kleine Rebellion in vollen Zügen genossen.) Die Intensität seiner Dankbarkeit und die Melancholie, die ihr zugrunde zu liegen schien, hatten mich in Verlegenheit gebracht, als glaubte er wirklich, keine weiteren Festtage mehr erleben zu dürfen. »Und du weißt, wie Weihnachten bei seiner Mum wäre.«
»Was, eine ernst gemeinte religiöse Feier? Wie schrecklich!« Polly warf mir einen warnenden Blick zu. »Ich hoffe nur, dein Weihnachtsgeschenk an ihn ist ein Brief von deinem Scheidungsanwalt.«
Alison war weniger streng. »Ich finde das sehr nett von dir«, sagte sie. »Du bist ein so guter Mensch, Fi. Ich weiß, wie verlockend die Aussicht sein muss, ihn zu bestrafen, indem du ihn ausschließt.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich ihn bestrafen muss«, erwiderte ich. »Er scheint das selbst zur Genüge zu tun.«
#OpferFiona
@tillybuxton: #OpferFiona ist ihr eigener schlimmster Feind, oder? Aber ich schätze, es ist irgendwie unfair, dem Opfer die Schuld zu geben.
@femiblog2016 @tillybuxton: S. unfair, aber auch s. verbreitet. Es heißt Gerechter-Welt-Glaube: Man bekommt, was man verdient.
@IanHopeuk @femiblog2016 @tillybuxton: Das glaube ich keine Sekunde #DasLebenIstScheiße
Wie schon gesagt, in diesen letzten paar Wochen widmete ich mich ganz meiner Familie. Keine Weihnachtsfeiern, keine Drinks nach der Arbeit. Die Dienstagabende im Two Brewers waren längst auf der Strecke geblieben, und ich traf die Väter aus der Trinity Avenue nur einmal im Dezember auf ein Bierchen, an jenem Abend nach dem Weihnachtskonzert bei Kirsty und Matt. Ich musste auf der Hut sein, was ich jetzt sagte. Ich musste mich von der Meute fernhalten.
Im Gegensatz dazu fühlte ich mich unserer Gegend enger verbunden als jemals zuvor und wusste jedes noch so kleine Detail von Alder Rise zu schätzen, als käme ich direkt aus den Slums – ich stand im Park und schloss die Augen und spürte Freiheit auf meinem Gesicht, unverfälscht und rein und irgendwie beschützend . Vielleicht war es auch nur die Erleichterung, dem Haus, das ich gerade stehlen wollte, und der Wohnung, dem Hauptquartier, in dem der Komplott geschmiedet wurde, zu entkommen. Dem Lockruf der technischen Geräte, auf denen ich im Internet nach Artikeln über das brutale Leben in Gefängnissen stöberte.
Ich erinnere mich, dass das Wetter ständig zwischen bitterkalt und tröstlich mild hin- und herwechselte, ein Gefühl von Bestrafung und Gnadenfrist. Es gab Zeiten, in denen mir dieser Umstand sonderbaren Trost spendete – wenn man das Gute nicht als selbstverständlich erachtet, dann auch nicht das Schlechte. Wenn dich Triumph und Sturz nicht mehr gefährden / Weil beide du als Schwindler kennst, als Schein (…) mein Sohn: Du bist ein Mann!
Dieses Gedicht mussten wir in der Schule auswendig lernen.
Sie haben uns nicht gesagt, dass die schlimmsten Stürze diejenigen sind, die wir selbst zu verantworten haben.