4 Freya

Auch nach fünf Tagen, die sie hauptsächlich als Kellnerin, Gärtnerin und Putzfrau zubrachte, hatte sich Freya noch nicht dazu durchringen können, sich dem zu stellen, was seit der Kindheit auf ihrer Seele lastete. Sie verdrängte die Auseinandersetzung damit weiterhin erfolgreich, wie schon die letzten zwanzig Jahre. Was änderten da ein paar Tage mehr oder weniger? Hinzu kam, dass Oskar sie verwirrte.

»Was ist denn nun?«, fragte Niklas, nachdem der Schwede zum dritten Mal angerufen hatte. »Seid ihr noch zusammen oder nicht?«

Freya war in der Küche zugange, weil Alfred kurzfristig abgesagt hatte und sie eingesprungen war. Ihr Bruder half, die Spuren eines chaotischen Tages zu beseitigen. Sie hatten sich tapfer geschlagen. Für heute war es geschafft. Mit einem karierten Küchentuch in der Hand hielt Freya inne. »Wir haben uns immer weiter voneinander entfernt, hatten uns nicht mehr viel zu sagen, weißt du. Wir haben beide gemerkt, dass unsere Gefühle dem Alltag nicht standhalten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das kommt oft vor, schätze ich.«

»Eine inhaltslosere Floskel fällt dir wohl nicht ein? Was war wirklich los?«

»Oskar hat angefangen, sich mit anderen Frauen zu treffen.«

»Also hat er dich betrogen.«

»Eigentlich schon. Na ja, vielleicht war es auch meine Schuld, er hat sich mehr Aufmerksamkeit gewünscht, und die habe ich ihm nicht gegeben.«

Niklas schüttelte den Kopf, hob den Finger zum Einspruch und holte Luft. Dann klappte er den Mund wieder zu. Es stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, was er sagen wollte: Wie blöd kann man sein, die Untreue des Partners mit dem eigenen Verhalten zu entschuldigen.

Schnell fuhr Freya fort: »Jetzt tut es ihm leid. Er meint, wir sollten es noch mal miteinander versuchen.«

»Nenne mir einen Grund, weshalb jemand, der dich hintergangen hat, eine weitere Chance verdient?«

Freya griff nach einem gespülten Topf und begann ihn abzutrocknen. »Vielleicht weil ich noch Gefühle für ihn habe?«

»Selbst wenn – er war mit einer anderen im Bett. Oder sogar mit mehreren. Da gibt es keine zweite Chance!« Niklas klang aufgebracht.

»Das sagt sich so leicht.«

»Nein, tut es nicht. Es ist bitter und schmerzhaft, aber diesen Typen wieder in dein Leben zu lassen, wäre eine ausgemachte Dummheit. Tu das nicht!« Er stürmte aus der Küche, und Freya wunderte sich, warum ihr Bruder sich über Oskar offenbar mehr aufregte als sie selbst.

Befürchtete er, sie könne deshalb wieder zurück nach Schweden gehen?

Weshalb verlangten alle Männer in ihrem Leben Entscheidungen von ihr? Ihr Vater, ihr Bruder, Oskar? Sie warf das Geschirrtuch auf die Küchentheke und strich sich das Haar aus der Stirn.

Niklas hatte nicht das Recht, ihr reinzureden. Er kannte sie überhaupt nicht mehr, nach all den Jahren. Freya fasste ihre Entschlüsse alleine. Wenn sie so weit war. Genau das würde sie auch Oskar mitteilen. Trotzig presste sie die Lippen aufeinander.

Eine Sache, die zweifelsfrei feststand, war die finanzielle Misere im Fischerfleck . Das Ausmaß wurde mit der Sichtung der Papiere, um die Johannes Siebert sich anscheinend kaum gekümmert hatte, offenbar. Niklas musste den Tatsachen ins Auge sehen. Die Fischerei allein reichte nicht aus, um alle Verbindlichkeiten zu bedienen, selbst dann nicht, wenn er äußerst bescheiden lebte. Der Gasthof musste weiter betrieben werden, und zwar profitabel, weil ihr Vater in den letzten Jahren einen Kredit aufgenommen hatte, der abgezahlt werden musste. Sie hatten keine Wahl. Wenn nicht schleunigst Geld in die Kasse kam, konnte der Fischerfleck nicht gerettet werden. Noch eher als der Kirche würde er dann der Bank zufallen. Für Niklas ging es um alles. Und wenn Freya sich darauf einließ und akzeptierte, ebenso für das Erbe verantwortlich zu sein wie er, war es für sie genauso. Sie schätzte den Fleiß und Optimismus ihres Bruders, jedoch war er ganz offensichtlich mit weniger unternehmerischem Talent gesegnet als sie. Je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass er es ernst meinte, wenn er behauptete, es ohne sie nicht zu schaffen. Hatte der Vater das auch so gesehen? Hatte er deshalb verfügt, dass sie einander zur Seite standen, weil einer allein es nicht stemmen konnte?

Wieder wurden widerstreitende Stimmen in ihr laut. Du musst ihm helfen, ihr seid Familie, er ist alles, was du noch hast. Und es ist Papas letzter Wille, sagte die eine Stimme. Woraufhin sich die andere meldete und ihr versicherte, es wäre vollkommen legitim, den Walchensee so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Um ihrem Gedankengewirr wenigstens kurzzeitig zu entfliehen, beschloss sie, am Ruhetag des Gasthofs mit der Seilbahn auf den Herzogstand hinaufzufahren. In der klaren Bergluft wollte sie den Kopf freibekommen. Zu Fuß lief sie durch den Ort entlang des Ufers und war entsetzt von der Blechlawine, die sich auf der Seestraße durch Walchensee schob. Stoßstange an Stoßstange drängten sich Autos mit zumeist Münchner Kennzeichen und Mountainbikes oder Paddleboards auf den Dachgepäckträgern, Wohnmobile aus Norddeutschland, holländische Wohnwagen, und dazwischen viele Motorräder.

In der Nähe der Herzogstandbahn, direkt beim großen Sporthotel, entdeckte sie eine Almhütte mit hawaiianischen Elementen, die zwischen den traditionellen Häusern auffällig hervorstach. Ein Schild mit der Aufschrift Wassersportcenter Hirschberg prangte an der Wand. Freya blieb stehen und ließ das skurril anmutende Gebäude auf sich wirken. Offenbar hatte jemand versucht, zwei sehr unterschiedliche Welten miteinander zu verbinden. Bastschirme und blau-weiße Rautenflaggen. Geschnitzte Holzbalken und Tiki-Totems. Die Hütte war wild dekoriert. Das musste die geschmacklose Bude sein, von der Niklas gesprochen hatte. Davor parkte ein alter knallroter VW -Bus mit Ersatzreifen vorne an der Motorhaube und aufgemalten 70er-Jahre-Blumen. Eine Sitzgruppe mit bunten Patchworkkissen neben der Eingangstür sorgte zusätzlich für Hippieatmosphäre. Stilistisch war das ein heilloses Durcheinander. Bei den Gästen schien das allerdings anzukommen, es herrschte großer Andrang.

Für ein paar Minuten sah Freya fasziniert dem Treiben zu. Sportliche Kerle in Surfshorts und T-Shirts, auf denen Team Sporthotel Hirschberg stand, schleppten die Ausrüstung für die Touristen barfuß über die vielbefahrene Straße und die Liegewiese des örtlichen Badestrandes bis direkt ans Wasser.

Plötzlich schwang die Seitentür des Surfcenters auf, und Jonas Hirschberg trat heraus. Auch er trug ein Sporthotel-T-Shirt, dazu Jeans und modische Sneakers. Mit dem Handy am Ohr lief er zum VW -Bus und holte eine Tasche vom Beifahrersitz. Beim Zurückgehen fiel sein Blick auf Freya, und er blieb stehen. Er hatte sie sofort erkannt und schien sie mit seinen hellen Augen intensiv zu mustern. Schließlich lächelte er und bedeutete ihr herüberzukommen. Zur Begrüßung küsste er sie rechts und links auf die Wange, als wären sie alte Freunde. Waren sie das? Freya fühlte sich überrumpelt.

»Kommst du mich besuchen?«, fragte er mit einem strahlenden Grinsen. Seine Zähne waren beeindruckend ebenmäßig und fast schon zu weiß.

»Nein, eigentlich nicht. Ich bin auf dem Weg zur Gondel.«

»Oje. Auf den Herzogstand brauchst du nicht zu fahren, da will heute jeder hin.« Er deutete die Straße hinunter. »Man sieht die Warteschlange an der Bahn von hier aus. Da stehst du mindestens eine Stunde an, und droben drängen sich die ganzen norddeutschen Touris.«

»Und bei dir wohl auch, so wie es aussieht.«

Jonas beugte sich zu Freya und raunte ihr zu: »Stimmt, und sie bringen mir einen guten Umsatz.«

Sie wusste nicht recht, was sie von dieser Art Vertraulichkeit halten sollte. Irgendwie war ihr die unangenehm. »Dann will ich dich mal nicht länger vom Geldverdienen abhalten«, wollte sie sich verabschieden.

»Quatsch, bleib doch noch. Komm mit rein, ich zeig dir meine Surfschule. Wo du jetzt nicht auf den Berg kannst, hast du Zeit, nehme ich an.« Er hielt ihr die Tür auf, und weil Freya nicht unhöflich erscheinen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als seiner Aufforderung nachzukommen.

Innen sah die Hütte ähnlich geschmacklos aus wie außen. »Der exotische Style ist Absicht«, erklärte Jonas, der ihren kritischen Blick bemerkt hatte. »Auf diese Weise bleiben wir in Erinnerung. Und wenn die Leute sich über uns unterhalten, weiß jeder gleich, wer gemeint ist. Gute Werbung, die nix kostet. Hier …«

Er zeigte hinüber zu einer Vielzahl an unterschiedlichen Brettern und Segeln. »Früher gab es nur die Windsurfer, dann kamen die Kitesurfer, die Stand-up-Paddler und jetzt noch die Hydrofoil-Surfer dazu, und für alle müssen wir was im Verleih anbieten. Außerdem haben wir noch Elektromotoren und Kajaks«, erklärte er. »Für die Leute, die ihr eigenes Equipment mitbringen, haben wir die Wiese nebenan. Da können sie gegen Gebühr direkt am See parken und müssen ihre Sachen nicht weit schleppen. Und wenn mal was kaputtgeht, biete ich hier einen Reparaturservice an.«

Das in ihren Augen geschmacklose Aussehen der Surfhütte hatte Freya anfangs darüber hinweggetäuscht, wie professionell das Ganze aufgezogen war. Nun erkannte sie, dass Jonas das Sortiment clever zusammengestellt hatte. Auch Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene bot er an. Im hinteren Teil des großen Innenraums sah sie Ständer mit entsprechender Sportkleidung, Neoprenanzüge, Sonnenschutz und sogar Sporthotel Hirschberg- Logo-T-Shirts. Es gab Getränke, Snacks und Eis, und aus einem Lautsprecher dudelte Musik.

Obwohl noch keine Hochsaison war, herrschte viel Betrieb. Die Mitarbeiterin hinter der Kasse hatte gut zu tun. Interessiert folgte Freya Jonas’ Ausführungen. Sie besah sich alles ganz genau und war wirklich beeindruckt.

»Respekt. Toll, wie du das hier machst, und der Laden läuft ja richtig gut.«

»Danke. Jetzt ist ja noch gar nicht so viel los, aber im Sommer brummt der Laden richtig. Muss er auch, weil ich in den Wintermonaten geschlossen habe.«

Jonas begleitete Freya hinaus. Als sie sich verabschiedeten, küsste er sie wieder auf die Wangen.

»Schön, dass du vorbeigeschaut hast. Was machst du denn morgen? Wenn du magst, können wir gemeinsam auf den See rauspaddeln.«

»Das geht leider nicht. Morgen helfe ich Niklas im Fischerfleck

»Dann bleibst du also?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Auch wenn Freya sich eingestehen musste, dass sie Jonas nett fand, war sie auf der Hut. Sie hatte Frau Hirschbergs Benehmen nicht vergessen. Ebenso wenig wie Niklas’ Warnung.

»Also ich würde mich freuen, wenn du bleibst.« Ernst und direkt sah er Freya an. Dann nickte er ihr zu und ging wieder hinein.

Nachdenklich machte sie sich auf den Heimweg. Der Tag verlief anders als geplant.

Als sie am Fischerfleck ankam, fand Freya ihren Bruder am Räucherofen. Frühmorgens war er auf den See hinausgefahren und hatte die Netze geleert. Gerade schüttete er Salz in einen hohen Bottich mit Wasser, warf Lorbeerblätter, Wacholderbeeren und Knoblauchzehen hinein und rührte alles mit einer riesigen Schöpfkelle um.

»Hast du Zeit?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Möglicherweise«, antwortete sie ausweichend. »Warum?«

»Ich will Renken räuchern. Die Salzlake zum Einlegen ist jetzt fertig. Wenn du mir beim Ausnehmen der Fische hilfst, geht es wesentlich schneller.«

»Echt jetzt?«

Niklas warf ihr einen bittenden Hundeblick zu und musste dann lachen. »Komm schon, als Kind wolltest du immer mitmachen und Papa zur Hand gehen.«

»Ehrlich? Kann ich mich gar nicht dran erinnern. Also jetzt bin ich jedenfalls nicht mehr scharf darauf, tote Fische von ihren Eingeweiden zu befreien, aber wenn es dir hilft …«

»Gut. Damit du dich nicht ekeln musst, schlage ich vor, dass ich das mit den Eingeweiden übernehme und du die Fische ausspülst und sie in die Lake einlegst. Einverstanden?« Er reichte ihr eine Gummischürze, selber trug er ebenfalls eine.

»Ach du lieber Gott«, entfuhr es Freya, als Niklas den Deckel der großen Kühlbox öffnete, die neben ihm stand. Sie war bis oben hin mit Renken aus dem See gefüllt, und Freya war sich sicher, dass diese Aktion ihren Appetit auf Fisch nachhaltig dämpfen würde. Aber das wollte sie sich nicht anmerken lassen und riss sich zusammen.

»Das machst du richtig gut«, lobte Niklas nach einer Weile. Tapfer unterdrückte Freya ihren Ekel und spülte und schichtete alles, was er ihr reichte. Die Sonne schien frühsommerlich warm, Niklas kam ins Erzählen und lenkte seine Schwester mit Geschichten aus Kindertagen ab. Mit der Zeit vergaß Freya, womit sie hantierten, arbeitete routiniert und konnte dabei sogar mit Niklas herumalbern.

»Ihr zwei scheint euch ja gut zu amüsieren«, hörte sie plötzlich eine angenehm tiefe Stimme.

»Tobi!«, rief Niklas erfreut. »Du bist ja schon hier.«

»Ja, ich bin etwas früher in München losgefahren, weil ich nicht wusste, wie schlimm der Verkehr wird. Aber ich bin reibungslos durchgekommen.«

»Super. Lass dich drücken«, sagte Niklas spaßeshalber.

»Ach, lieber nicht.« Augenzwinkernd machte Tobi einen Schritt zurück, als Niklas seine Arme ausbreitete. Auf seiner Gummischürze klebten Schuppen, Blut und undefinierbare Fischreste.

»Freya, kannst du dich noch an Tobias Wolf erinnern? Wir waren zusammen in einer Klasse, und er hat mich früher öfter besucht.«

Wahrscheinlich würde ihr das noch häufiger passieren, auf Leute zu treffen, die sie offenbar als kleines Mädchen gekannt hatte, die sie aber nach all den Jahren nicht mehr wiedererkannte. Freya war es unangenehm, Tobias direkt anzustarren, doch sie gab sich alle Mühe, irgendetwas an ihm zu entdecken, das ihr bekannt vorkam. Sein schwarzes Haar trug er etwas länger, das stand ihm gut. Wie Niklas hatte er einen stoppeligen Dreitagebart. Seine Augen waren dunkel, der Blick offen und sein Lächeln wirkte echt und ansteckend. Die ein wenig zu großen Ohren verliehen seinem auffällig guten Aussehen etwas angenehm Unperfektes. Freya gefiel er auf Anhieb.

»Leider nein«, antwortete sie. »Allerdings habt ihr Jungs euch damals auch nicht mit kleinen Mädchen abgegeben.«

»Stimmt. Wir haben uns mehr auf starkes männliches Verhalten konzentriert, wie Weitpinkeln in den See zum Beispiel. Ich kann mich auch nur noch vage an dich erinnern. Du hattest, glaube ich, immer aufgeschlagene Knie.«

Und jetzt stecke ich in einer Gummischürze und habe Fischschuppen an den Händen , kam es Freya in den Sinn. Auch nicht gerade apart.

Niklas wischte sich die Hände an einem Lappen ab und zog seine Schürze aus. »Komm mit rein, Tobi. Lass uns einen Kaffee trinken. Dann kann ich dir sagen, worüber ich mit dir sprechen wollte. Oder magst du lieber ein Bier?«

»So aufmerksam bist du doch sonst nicht. Irgendwie beunruhigend. Da scheint ja was Großes im Busch zu sein.«

»Lass dich überraschen.«

»Na, hoffentlich ist es was Erfreuliches.«

Niklas dirigierte den Freund in Richtung Haus und machte Freya hinter seinem Rücken Zeichen, ebenfalls mitzukommen.

Bevor Freya sich zu den beiden an den Tisch setzte, schrubbte sie am Waschbecken in der Küche ihre Hände mit Seife und Bürste, um den penetranten Fischgeruch loszuwerden. Trotzdem befürchtete sie, unangenehm zu riechen. Vorsichtshalber setzte sie sich deswegen an die am weitesten entfernte Ecke des Tisches.

»Tobi ist Koch in einem schicken Restaurant in München«, erklärte Niklas in Freyas Richtung. »Ein wahnsinnig guter, kann ich dir sagen. Allerdings hat er es nicht so mit der Großstadt und redet schon länger davon, dass er eigentlich viel lieber wieder nach Hause an den Walchensee kommen würde.«

»Nur leider gibt es hier keine gehobene Gastronomie. Am Tegernsee sieht das ganz anders aus.«

»Aber dort willst du nicht hin.«

»Stimmt.«

»Deswegen wollte ich mit dir reden. Weil ich dir ein Angebot machen möchte.« Niklas räusperte sich. »Wie wäre es, wenn du für uns beziehungsweise mit uns arbeitest? Hier im Fischerfleck

Tobias starrte seinen Freund überrascht an. Damit hatte er bestimmt nicht gerechnet. Auch Freya merkte, wie verdutzt sie dreinschaute. Niklas’ Gesprächseröffnung traf sie ebenso unvermittelt wie seinen Gast. Einen Gourmetkoch in der alten Holzhausküche? Unmöglich. Was redete Niklas für einen Blödsinn? Und was bitte schön meinte er mit »uns«? Sie hatte doch noch überhaupt nicht entschieden, ob sie bleiben würde.

»Kann ich dich kurz sprechen? Allein?« Sie erhob sich und bedeutete ihrem Bruder, mit hinaus in den Flur zu kommen.

»Was machst du denn da?«, fragte sie ihn im Flüsterton. »Wir haben uns doch noch gar nicht geeinigt, was aus dem Fischerfleck werden soll. Was soll das, ohne vorher mit mir zu sprechen? Außerdem, was ist mit Alfred?« Freya musste sich mächtig zusammenreißen, um nicht laut zu werden. Das überstürzte Handeln ihres Bruders kam ihr nicht nur naiv vor – wovon bitte wollte er das Gehalt eines Spitzenkochs bezahlen? –, sondern absolut irrsinnig. Selbst wenn Tobias ein guter Freund von Niklas war, käme dieses Jobangebot für jemanden seines Kalibers einer Ohrfeige gleich. Das musste ihrem Bruder doch klar sein.

Niklas hingegen schien völlig gelassen und antwortete mit ruhiger Stimme, »Fragen kann man doch mal. Hätte ich dir vorher davon erzählt, wärst du dagegen gewesen. Der Alfred will aufhören, lieber heute als morgen. Und ohne Koch müssen wir zusperren. Und da wir jemand Neues brauchen, können wir auch gleich den Besten fragen. Tobias ist ein absoluter Spitzenmann, kommt mit allem zurecht und verlässlich ist er obendrein. Und überhaupt – korrigiere mich bitte, wenn ich mich irre – habe ich den Eindruck, du willst ohnehin nichts mit dem Familiengeschäft zu tun haben und bald abreisen.«

»Das weiß ich noch nicht! Aber falls du’s vergessen hast, ohne mich läuft es hier sowieso nicht weiter. Wir können doch über alles reden.«

»Ach. Auf einmal? Dann musst du dich entscheiden, Freya. Wenn du mitmischen willst und verlangst, dass ich dich in meine Pläne einbeziehe, erwarte ich eine klare Zusage und kein ständiges Hin und Her. «

»Ständiges Hin und Her? Ich darf mir ja wohl noch die Zeit nehmen zu überlegen, wie es gehen soll. Für mich ist das keine kleine Sache. Immerhin habe ich auch ein Leben in Schweden.«

»Du kannst die Entscheidung nicht ewig vor dir herschieben. Und vor allem wegrennen sowieso nicht. So wie deine Mutter damals.«

»Fang jetzt keine Grundsatzdiskussion an!«

»Doch, denn genau darum geht es. Um unsere Grundsätze als Familie. Und um die Schritte, die wir gehen müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir beide haben die Chance, es zusammen besser zu machen. Zusammen könnten wir das hinkriegen. Heute ist der Tag der Entscheidung, Schwesterherz. Entweder du steigst ein oder du hältst dich ab jetzt vollkommen raus. Also, was sagst du?«

Niklas war nun doch nicht mehr so ruhig und in seinem Blick loderte es. Mit dem einen Arm wies er zur Küche, mit dem anderen in Richtung Haustür.

Freya atmete schwer. Ihr derart das Messer auf die Brust zu setzen war unfair. Sie hatte in den vergangenen Tagen alles gegeben. Mittlerweile zog sie ja sogar ernsthaft in Erwägung, hierzubleiben und das Ganze als Herausforderung zu betrachten. Aber musste er sie so unter Druck setzen?

»Falls ich es mit dir wage – und ich sage ausdrücklich falls –, will ich in sämtliche geschäftliche Überlegungen mit einbezogen werden.«

»Klar.«

»Ihr wisst, dass ich jedes Wort hören kann, oder?«, drang Tobias’ Stimme aus der Küche.

Niklas hob nur eine Augenbraue und verharrte abwartend vor seiner Schwester.

»Ich lasse mich zu nichts drängen, Niklas. Von niemandem. Falls du in diesem Augenblick eine Entscheidung erwartest, muss ich dich enttäuschen. Ich brauche meine Zeit.«

Damit ließ sie ihn stehen, rannte nach oben in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. In ihr wütete es. Plötzlich wollte sie nur noch weg. Ja, Weglaufen war in der Tat die beste Lösung. Auch wenn sich in ihrem Herzen vehementer Widerspruch regte, holte sie den Koffer hervor, warf ihn aufs Bett und begann, ihre Kleidung hineinzuräumen. Mit einem Mal wurde es dunkel. Eine graue Wolke schob sich vor die Sonne, Wind kam auf und innerhalb von wenigen Minuten trommelte Regen gegen die Fensterscheibe, als wollte sogar das Wetter sie aufhalten. Der Sturm peitschte und es war, als würde die Welt untergehen. Kurz war Freya versucht, Licht einzuschalten, stellte sich dann aber mit trotzig verschränkten Armen ans Fenster und starrte auf den See hinaus.

Auch wenn der Himmel einstürzte, nichts und niemand würde sie hier halten können, wenn sie es nicht wollte.